Rache
"Und Cliff ... Cliff wurde erschossen."
Tikaani fühlte sich, als habe man ihr das Herz aus der Brust gerissen und wäre anschließend noch darauf rumgetrampelt. Ihre Augen füllten sich mit Tränen und ihr ganzer Körper zitterte.
Cliff war tot. Er war weg, für immer. Die Realisation dieser Tatsache kam nicht sofort. Das kann nicht sein. Das ist unmöglich.
Doch schnell musste sie einsehen, dass es sehr wohl möglich war. Sie hatte ihren besten Freund verloren. Schon wieder. Wie viel Schmerz würde ihr Herz noch ertragen müssen?
"Es tut mir leid, Tikaani", flüsterte Holly, doch ihre gut gemeinten Worte bedeuteten nichts. Sie konnte die Blicke beider Wandler auf sich spüren, aber sie brachte es nicht über sich, aufzusehen und sich zusammenzureißen. Die Tränen flossen frei über ihre geröteten Wangen und sie rieb sich die Hand über das Gesicht.
In den letzten Jahren hatte sie keinen richtigen Kontakt mit Cliff gehabt, aber sie hatte oft an ihn und die gemeinsame Zeit verbracht.
Er stand ihr immer noch nahe, sie konnte sich noch immer an sein Lachen erinnern, an seine Stimme, an das arrogante Grinsen, mit dem er andere früher betrachtet hatte. Sie hatte sein Gesicht vor sich, als sie Bo zu Grabe getragen hatten, Schmerz und Trauer zum ersten Mal unverhüllt zu sehen.
Nun musste er zu Grabe getragen werden.
Wenigstens hatte er Bo.
"Tikaani." Carags Stimme riss sie aus ihren Gedanken, seine Hand lag schwer auf ihrer Schulter.
Sie fuhr sich ein letztes Mal mit der Hand über das verheulte Gesicht und atmete tief durch. Wut nagte an ihrem Magen. Es sollte nicht Cliff sein, den ein solches Schicksal ereilt hatte. Es sollten alle sein, die dafür verantwortlich waren, dass so etwas passieren konnte.
Ihre Nägel gruben sich in ihre Haut, als sie die Fäuste ballte. Der Zorn, der in ihr aufwallte, wurde immer unbändiger.
"Wer hat ihn erschossen?", wollte sie wissen.
Holly senkte den Kopf und zuckte die Schultern. "Menschen. Ich weiß nicht, wer. Es ist erst drei Monate her. Er hat sich versteckt," sie schluckte und warf Tikaani einen unsicheren Blick zu, "und sie haben ihn gefunden. Sie haben ihn im Schlaf getötet."
Erneut spürte Tikaani nichts als Wut und Hass.
"Ich will, dass jemand bezahlt", flüsterte sie mit bebender Stimme, ihre schwarzen Augen funkelten voller Hass.
"Tikaani." Sie ignorierte Carags warnenden Tonfall und erhob sich. Sie strich sich die schwarzen Haare aus dem Gesicht und wandte sich an die Hörnchen-Wandlerin.
"Holly, wo war das?", fragte sie.
Holly sah Carag fragend an, doch er zuckte nur die Schultern und ließ den Kopf hängen. Auch ihn hatte die Nachricht schwer getroffen, denn er wusste, was Cliff ihr bedeutet hatte. Dennoch war er wohl nicht bereit dazu, Rache zu üben.
Tikaani würde ihre Rache jedoch verüben, mit oder ohne ihn.
"Wir können nicht zu lange wegbleiben", mahnte Carag, der unruhig hinter ihr her streifte. Ständig schaute er über die Schulter, die Angst konnte sie deutlich aus seinen Gesichtszügen lesen.
Tikaani nickte nur. "Ich weiß. Wir müssen bald zu den Kindern zurück. Aber Holly kann sich jetzt um sie kümmern."
Sie hielt inne und wandte sich ihm zu. Sie nahm seine beiden Hände und blickte ihm tief in die sanften, goldgrünen Augen. "Wirst du mir zur Seite stehen?", fragte sie leise.
Er schluckte und einen Augenblick lang schien es nicht, als würde er ihr eine Antwort geben, doch dann räusperte er sich und drückte ihre Hand. "Immer", wisperte er.
Die Hütte, in der Cliff seine letzten Jahre verbracht hatte, war nicht allzuweit entfernt von dem Ort, in dem Holly lebte.
Sie war schäbig, stand am Rande eines Dorfes nah an einem düsteren Wald aus Kiefern.
Das Häuschen war aus Holz, nicht sonderlich groß und wirkte ungemütlich. Die weiße Farbe blätterte von der Holzfassade ab und als Carag die Tür aufdrückte, welche nur angelehnt war, quietschte die Tür schrill auf.
Zentimeterdicke Staubschichten hatten sich auf auf den Möbeln abgelagert. Es wirkte, als hätte hier schon lange niemand mehr gewohnt. Dabei war Cliff erst seit drei Monaten tot.
Tikaani fuhr mit den Fingern über eine alte Kommode, die im schmalen Hausflur stand. "Ich kann nicht glauben, dass er hier drin gewohnt hat", meinte sie und erhaschte einen Blick auf Carag, der die wenigen eingerahmten Bilder neugierig betrachtete.
Sie trat neben ihn.
Ihr Herz setzte beinahe aus, als ihr Blick auf ein Bild fiel, das ihr sehr wohl bekannt vorkam. Das waren sie, das Rudel. Jeffrey, Tikaani, Cliff und auch Bo waren auf dem Bild zu sehen. Es war ein Foto, dass Cliff von ihnen allen gemacht hatte, als sie offiziell beschlossen hatten, sich zu einem Rudel zusammenzuschließen.
"Jetzt werden sie erst recht bezahlen müssen", murmelte sie. Denn Cliff hatte sie nicht vergessen. Weder sie noch einen der beiden Jungen. Er hatte an sie gedacht und er hatte ein Bild von ihnen zu viert zurückgelassen in dem Haus, in dem er von den Menschen getötet wurde.
Wäre er ihnen nicht zum Opfer gefallen, hätten sie sich wiedergesehen?
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