Erste Hinweise

Carags Hand landete auf Tikaanis Schulter und sie lehnte sich gegen ihn, um Halt zu finden. Noch immer fanden die Gedanken in ihrem Kopf keine Ruhe und ihre Wut und Trauer manifestierten sich in Schwindel und dem Gefühl, sich erbrechen zu müssen, wenn sie noch länger aufrecht stehen und darüber nachdenken musste, dass sie gerade an dem Ort war, an dem ihr einst bester Freund erschossen worden war.
Tikaani stieß sich von ihrem Gefährten ab und setzte sich schwerfällig auf einen verstaubten Stuhl und vergrub das gerötete Gesicht in den Händen. "Ich hätte ihn gerne noch einmal wiedergesehen", gab sie zu, so leise, dass Carag sie beinahe nicht verstanden hätte. Seine warmen, goldgrünen Augen fanden die ihren, sein Blick weich und verständnisvoll. Auch wenn Cliff nicht gerade sein Freund gewesen war, hatte er viel mit ihm erlebt, gutes und schlechtes, und der Verlust eines Lebens schmerzte immer.
Er nahm ihre Hand, doch blieb still, denn er würde nicht die richtigen Worte finden, um sie trösten zu können. Nicht, dass das überhaupt möglich wäre, denn es gab nichts, dass ihren Schmerz lindern könnte. Zumindest noch nicht jetzt.

Sie verharrten so für eine Weile, sodass es Tikaani fast schon so vorkam, als hätten sie bereits mehrere Stunden hier verbracht. Schließlich nahm sie jedoch ihrem Mut zusammen und entschloss sich dazu, mit dem Selbstmitleid aufzuhören, denn es brachte sie in keinster Weise weiter.
Die junge Frau erhob sich und verließ die Hütte in Begleitung ihres Gefährten. Vor dem Häuschen blieben sie stehen, Arm in Arm, beide mit feierlichen Mienen.
"Ich bin mir nicht sicher, was mehr wehtat. Er oder Bo." Sie spürte, wie er kaum merklich zusammenzuckte bei der Erwähnung des Wolfswandlers, der schon in Teenager-Jahren von ihnen gegangen war. Sie hatte selten von Bo gesprochen, seit er gestorben war. Es hatte nicht daran gelegen, dass es nichts zu erzählen gab. Sie teilte ihren Kummer jedoch lieber in Stille.
"Aber ich bin mir sicher, dass es mich zerstören würde, wenn sie auch Jeffrey kriegen würden", vollendete sie ihre kleine Rede, die stürmischen schwarzen Augen fest auf ihn gerichtet. Er sah darin nur Wut, eine unbändige Macht, die zu entweichen drohte, und wenn sie dies tat, würde sie alles zerstören, das ihr in den Weg kam. "Deswegen müssen wir ihn finden. Ich muss wissen, dass es ihm gut geht."
Ich muss wissen, dass er noch lebt, korrigierte sie in Gedanken. Niemanden von ihnen ging es wirklich gut, nicht in einer Zeit wie dieser.
Carag nickte, gab aber keine verbale Antwort. Sie wusste, dass er ihr bis ans Ende der Welt folgen würde, wenn es sein musste.

Tikaani plante die Rache nicht aktiv, doch als sie sich auf den Rückweg machten, schweiften ihre Gedanken immer wieder dorthin zurück. Es wäre für sie unmöglich, herauszufinden, wer genau Cliff getötet hatte, doch sie wollte trotzdem versuchen, einen Schuldigen zu finden. Sie hatte Zeit, sie konnte warten. Lieber würde sie ihre Rache später haben als nie. Zuerst musste sie Jeffrey finden.

Yuka und Amaruq waren bereits fest am Schlafen, als das Paar zurückkehrte, und Holly war noch arbeiten, weswegen Tikaani und Carag sich zu ihren Kindern legten und sich ohne ein weiteres Wort ebenfalls dem Schlaf hingaben.
Am nächsten Morgen aufzustehen fiel Tikaani erstaunlich leicht. Trotz der bedrückenden Nachrichten fühlte sie eine neue Energie, eine neue Kraft. Vermutlich, weil sie nun wusste, was sie zu tun hatte.

Holly konnte ihnen natürlich nicht sagen, wo genau Jeffrey sich befand, doch sie gab ihnen mehrere Tipps über seinen Aufenthaltsort.
Zunächst würden sie jedoch seine Eltern aufsuchen, da er zuletzt bei ihnen gewesen war.
Mithilfe des Privatfliegers ihres Vaters konnten Tikaani und Carag gemeinsam mit ihren Kindern zu seinen Eltern gelangen. Sie waren sich erst unsicher gewesen, ob sie die Kinder mitnehmen sollten, waren aber zu dem Schluss gekommen, dass sie nicht riskieren konnten, Amaruq und Yuka zu verlieren, ohne in ihren letzten Momenten bei ihnen gewesen zu sein. Es schein morbid, sich überhaupt Gedanken darüber machen zu müssen, aber so war nun einmal die Welt, in der sie mittlerweile lebten.

Jeffreys Eltern lebten nicht mehr am selben Ort wie früher, aber Holly wusste, wo sie sich jetzt aufhielten. Nachdem Jeffreys Wandlergene aufgeflogen waren, waren auch seine Verwandten und sämtliche andere Personen aus seinem Umfeld gesucht und teilweise verhaftet worden, weswegen seine Eltern ebenfalls geflohen waren. Warum sie nicht mit ihrem Sohn gemeinsam gegangen waren, blieb Tikaani ein Rätsel.


Irina and Dan Baker sahen immer noch genauso aus wie früher, aber sie strahlten eine ganz andere Stimmung aus. Jetzt wirkten sie nur noch besorgt und verunsichert. Ständig schauten sie über die Schulter oder tauschten beunruhigte Blicke aus, die sie wohl für subtil hielten.
Carag wirkte ebenfalls nervös, aber Tikaani spürte lediglich, dass ihr neues Ziel ihr mehr Stärke, Mut und Hoffnung gegeben hatte und sie zu beinahe allem bereit war, um es zu erreichen. Sie stellte jede erdenkliche Frage, die ihr einfiel, um mehr über Jeffrey und sein neues Leben herauszufinden.
Seine Eltern schienen sich sogar zu freuen, dass jemand nach ihrem Sohn fragte und wissen wollte, was aus ihm geworden war, doch sie täuschten Tikaani nicht, indem sie versuchten, sein Verschwinden mit fröhlichen Geschichten über ihn abzutun. Natürlich sah sie daran vorbei und wusste genau, dass die Bakers bloß Angst hatten, sich einzugestehen, dass sie keine Ahnung hatten, wie es ihrem Sohn in diesem Moment ging, und ob er überhaupt noch lebte.

"Wo haben Sie ihn zuletzt gesehen?", fragte Carag schließlich und kam sich dabei vor wie ein Polizist bei einem Verhör. Wie gebannt hing das Paar an jedem Wort, dass Dan und Irina sprachen, denn die Sorge, dass Jeffrey in Gefahr schweben könnte, wurde immer größer, je mehr sie sich bewusst wurden, dass er alleine irgendwo war. Immerhin hatten sie sich gegenseitig gehabt, als sie untergetaucht waren. Er hatte niemanden, wie es schien.
Irina seufzte. "Wir haben schon lange nichts mehr von ihm gehört. Das letzte Mal, als wir ihn gesehen haben, war irgendwo in einem verwahrlosten Hotel in Colorado, aber dort ist er jetzt nicht mehr." Sie hielt inne und schien stark nachzudenken, ehe ihre Augen aufleuchteten. "Wartet", rief sie aus, "er hat uns gesagt, wir könnten ihn im Golden Eagle, einem Hotel in Nevada finden, oder jedenfalls dort in der Nähe."
Ihr Mann nickte bestärkend. "Natürlich unter einem falschen Namen. Wie hat er sich noch gleich genannt? James Murphy?" Murphy. Das war Bos Nachname gewesen. Hatte Jeffrey ihn mit Absicht gewählt? Tikaani schluckte.
"Ja, genau richtig", antwortete Irina lächelnd. Carag und Tikaani tauschten einen Blick. "Wahrscheinlich ist er nicht mehr dort, aber ihr werdet nach ihm suchen, oder?" Sie sahen die Hoffnung in ihrem Blick, und wer wären sie, wenn sie ihre Bitte ablehnen würden?

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