9. Stadtbummel, Salat und Hunde

Es war seltsam, ohne Hufe zu laufen. Also so richtig, richtig seltsam. Das Gleichgewicht zu halten war gar nicht zu einfach, aber zum Glück hatte ich Arthur, der mir dabei half, bis ich mich einigermaßen daran gewöhnt hatte.

Ich war aufgeregt, endlich die Stadt zu sehen und die vielen Lichter, die ich bisher nur aus der Ferne beobachtet hatte, aber als wir in die Stadt kamen, waren dort gar keine Lichter. Etwas enttäuscht sah ich mich um, aber es gab trotzdem jede Menge neue Dinge, die ich erkunden konnte. Unter meinen Schuhen war eine ebene Fläche aus hellgrauem Stein, die die Wärme der Sonne reflektierte. Neben uns reihten sich unendlich viele Krachmaschinenen aneinander, aber keine war am Leben. Sie sähen fast harmlos aus wenn ich nicht wüsste, was für einen Schaden sie anrichten konnten.

"Das sind Autos", fing Arthur unaufgefordert an zu erklären. "Die Menschen benutzen sie, um von einem Ort zu einem anderen zu kommen. Und das worauf sie fahren und worauf wir stehen ist die Straße und der Bürgersteig." Seine Stimme klang, als hätte er die ganze Zeit nur darauf gewartet, mir das alles näher zu bringen.

Ich wusste nicht wirklich etwas darauf zu sagen. Die Stadt wurde immer lauter und als Esel hätte ich die Ohren zurückgelegt.

"Brauchen wir lange bis zu deiner...Grandma?"

Das letzte Wort rollte seltsam über meine Zunge. Was das wohl war?

"Nicht allzu lange. Am besten ich rufe sie an und sage ihr, dass wir auf dem Weg sind", antwortete Arthur und fummelte etwas aus der Umhängetasche. Kurz darauf tippte er auf einem der glänzenden, falchen Steine herum und begann, zu meiner Verwirrung, hineinzureden.

Yara schien meinen irritierten Blick bemerkt zu haben, denn sie beugte sich zu mir hinüber.

"Das ist ein Handy. Wenn du die Nummer einer anderen Person hast, kannst du über dieses Ding mit ihr reden, egal wie weit ihr auseinander seid. Wahrscheinlich bekommst du in der Schule auch eines für Notfälle."

"Das ist ja praktisch." Das war das einzige, was ich hervorbrachte. Die Menschen waren gar nicht mal so dumm wie sie aussahen. Diese ganzen Erfindungen, wie Autos und dieses Handy-Dingens waren sogar recht schlau.

Während ich Arthur weiterbeobachtete, wir er mit dem Handy hantierte, redete der anscheinend mit seiner Grandma. Der Waschbär-Wandler schien zufrieden mit dem zu sein, was sie erzählte, drückte einen roten Knopf und stopfte sich das Handy zurück in die Tasche.

"Es ist alles vorbereitet. Gray bekommt das Gästezimmer und wir gehen heute noch Klamotten und sowas für ihn kaufen. Morgen holt uns Theo dann ab und bringt uns zurück zur Schule", erklärte Arthur. "Theo ist übrigens unser Hausmeister. Er ist ein Elchwandler und unheimlich stark."

Elche kannte auch ich, obwohl ich nicht viel herumgekommen war. Große, braune Kreaturen mit schaufelartigen Geweihen und einer Kraft, die einen Bären in die Flucht schlagen konnte. Am besten, ich legte mich nicht mit diesem Theo an.

Es war beängstigend und faszinierend zugleich, durch die Stadt zu wandern, die ich so lange von der Ferne bewundert hatte. Die Krachmaschinen ließen uns in Ruhe und die meisten Menschen kümmerten sich nicht groß um uns. Wir waren wohl einfach nur vier normale Kinder für sie. Wenn die wüssten.

Als wir an einer großen, durchsichtigen Fläche vorbeigingen, blieb ich stehen. Ich sah schemenhaft meine Reflektion darin, wie in dem Spiegel, den Yara mir gezeigt hatte, nur viel schwächer. Ich hinterließ meine schwitzigen Handabdrücke an der Scheibe, als ich ins Innere des Hauses blickte. Leblose, gesichtslose Figuren, die wie Menschen aussahen standen dahinter. Eine sah aus, als hätte sie eine Schlange aus Federn um den Hals und auf ihrer Nase saß ein Gestell mit dunklen Scheiben, dass ihr halbes Gesicht verdeckte. Weiter drinnen im Raum standen mehrere Frauen und Männer, die Kleidung herumtrugen, oder anprobierten.

Yara hatte nun bemerkt, dass ich stehen geblieben war und kam zu mir zurück.

"Das ist ein Modegeschäft. Ein ziemlich teures noch dazu, da gehen nur Leute mit viel Geld einkaufen."

Die Mottenwandlerin deutete auf eine Tafel, die zu Füßen der Figuren stand. Auf ihr reihten sich seltsame Zeichen und kleine Striche aneinander, mit denen ich rein gar nichts anfangen konnte, aber offenbar unterstrichen die Zeilen, was Yara mir gerade erklärt hatte, und ich nickte.

"Hey, du da! Junge! Nimm deine Klebefinger von meiner Glasscheibe!", brüllte auf einmal eine tiefe, raue Stimme zu uns hinüber und ich zuckte zusammen. Ein Mann, mit einem schwarzen Vogelnesthut auf dem Kopf hatte sich aus der Tür des Geschäfts gebeugt und funkelte mich an, als hätte ich Steine nach ihm geworfen. Schnell zog ich meine Hände von dem Glas zurück und machte, dass ich Arthur und Phelan hinterherkam. Der Schreck kribbelte in meinem Nacken.

Kribbeln?! Nein, das ist schlecht! Aufhören!

Zu spät. Ich fühlte, wie Fell in meinem Nacken spross. Je mehr ich versuchte, es zu verhindern, desto schlimmer wurde es.

In dem Moment legte mir Yara den Arm um die Schultern, doch sie zuckte sofort zurück und blickte alarmiert zu Arthur und Phelan, die an der Ecke auf uns warteten.

"Leute! Wir haben ein Problem", rief die Mottenwandlerin, gerade laut genug, dass die beiden Jungen sie hören konnten, und deutete auf mich. Das Kribbeln floss wie ein eisiger Bach meinen Rücken hinunter und ich konnte meine Finger wieder kürzer und dunkler werden sehen.

"Kommt schnell her!", erwiderte Arthur, während er uns zu sich winkte. Yara schob mich weiter, ich konnte mich kaum bewegen. Kaum waren wir bei meinem neuen Waschbärfreund angekommen, packte er mich am Arm und drückte mich neben eine kalte, harte Stange in eine Nische an der Hauswand. Yara und Arthur blockierten gleich die Sicht auf mich und postierten sich vor meinem Versteck, während Phelan jeden Vorbeikommenden böse anstarrte.

"Los, gehen Sie weiter!", pflaumte er einen Mann mit Hut und dicker Jacke an, der etwas zu sehr geglotzt hatte.

Derweil flüsterte Arthur mir gedämpft Anweisungen zu.

"Du musst ganz ruhig atmen, Gray. Du bist ein Mensch. Sprich mir nach, los."

Wispernd wiederholte ich seine Worte und bemerkte erleichtert, dass es funktionierte! Mein Fell zog sich langsam zurück, auch wenn in meinem Nacken ein leichter Flaum zurückblieb.

"Puh, das war echt knapp", bemerkte Yara und zwirbelte eine Haarsträhne zwischen ihren Fingern. "Wir sollten uns echt beeilen."

Arthur nickte.

"Es sind nur noch ein paar Straßen, dann sind wir da. Meine Grandma freut sich schon auf dich, Gray" sagte der Waschbärwandler und wir gingen weiter. Die Gegend wurde etwas ruhiger, die Straßen enger, bis wir am Ende vor einem hell orangefarbenen, eckigen Bau standen. Der Eingang wurde von einem bunten Blumenkranz geschmückt und das Gras vor uns war so saftig und grün, dass ich mich am liebsten zurückverwandelt hätte, nur um es zu kosten.

Arthur holte etwas klingelndes aus seiner Hosentasche und öffnete uns den Eingang. Kaum war der Bau einen Spalt breit offen wuselte uns eine kleine, kräftig wirkende Frau mit grau-weißen Haaren entgegen. Sie war unfassbar bunt angezogen, hatte Streifen, Punkte und ein Blumenmuster miteinander kombiniert und streckte die Arme aus um Arthur fest an sich zu drücken.

"Da seid ihr ja endlich. Ihr habt ewig gebraucht. Kommt rein, kommt rein, na los, ich hab schon gekocht."

Ehe wir uns versahen hatte uns die kleine Frau in den Bau geschoben. Mir fiel sofort auf, dass es stark nach Blumen roch, süßlich und penetrant. Der Boden war aus Holz und knarzte unter unseren Schuhen, während wir einen länglichen Raum entlanggingen. Über uns leuchteten zwei blütenförmige Lichter, warm und sonnig. Draußen war es ein wenig kühl und windig gewesen, aber hier drinnen fand ich es gemütlich und kuschelig.

"Du bist also Gray." Ich hatte nicht bemerkt, wie sich Arthurs Grandma vor mir aufgebaut hatte. Sie hatte steingraue, bohrende Augen und ein runzliges Gesicht mit einer breiten Nase und silbernen Ringen an den Ohren, an denen rote Federn baumelten. Sie musterte mich eindringlich. "Ein Esel wie ich hörte. Ein hübscher Junge bist du, du wirst dich auf der Schule sicher gut einfinden. Arthur geht da schon seit zwei Monaten hin, es war eine großartige Entscheidung, ihn dorthin zu schicken." Während ihrer Sätze drehte sie sich um und fürhte uns in einen offeneren Raum, wo es unfassbar gut duftete.

"Meine Grandma ist auch eine Wandlerin. Ein Pitbull, das ist eine Art Hund. Du kannst dich ruhig auf das Essen freuen, sie ist eine fantastische Köchin. Hat sogar ihr eigenes Kochbuch geschrieben", murmelte Arthur mir ins Ohr, bevor er sich setzte. Tatsächlich hatte ich das Kribbeln gespürt. Ein Hund...waren das nicht diese nervigen, bellenden Wesen, die dauernd Ärger machten? Ob sie mich auch anbellen würde? Hunde waren Raubtiere, das konnte ich fühlen, aber ihre Anwesenheit war nicht so beunruhigend wie die Phelans.


Es stellte sich heraus, dass Arthurs Grandma, die übrigens Amalia hieß, absolut harmlos war. Sie verwandelte sich nicht und verwöhnte uns mit Essen, das mich fast dahinschmelzen ließ. Am besten war der Salat, den sie mir in einer großen Schüssel brachte. Ich hatte noch nie so viele verschiedene Geschmacksrichtungen auf einmal in meinem Mund gehabt. Während wir aßen, erklärte mir Arthur ab und zu ein paar Dinge, zum Beispiel wie man eine Gabel richtig benutzte oder aus einem Glas etwas trinken konnte, das sich Orangensaft nannte.

"Siehst du Gray, du musst die Gabel nur hineinstechen und dann zum Mund führen. Einfach oder?"

Einfach hätte ich es nicht genannt, als ich die saftige Tomatenscheibe auf dem silbernen Besteck balancierte und versuchte, sie mit dem Mund zu fangen, bevor sie herunterfiel und in die braune Soße platschte, die in der Schüssel schwamm.

"Übung macht den Meister", ermunterte mich Yara, die schon an ihrem dritten Glas Orangensaft nippte.

Plötzlich schallte ein schriller Klang durch den Bau (der übrigens Haus genannt wurde) und ich zuckte zusammen, was mir ein paar braune Spritzer von der fallenden Tomate einbrachte.

"Was war das?"

"Tur mir leid, das war die Türklingel", entschuldigte sich Amalia, stand auf und beeilte sich zum Eingang zu kommen. Wir am Tisch konnten gedämpft Stimmen wahrnehmen, aber verstehen konnte ich nichts. Meine Eselohren hätten da Abhilfe schaffen können, aber ich hielt es nicht für eine gute Idee, mich hier zu verwandeln.

Es dauerte nicht lange, bis Amalia zu uns zurückkehrte.

"Das war unsere Nachbarin. Offenbar ist Gray schon als gestohlen gemeldet worden. Am besten du verwandelst dich bis zur Schule nicht, Eseljunge."

Da ich das sowieso nicht vorhatte, fiel es mir nicht schwer, ihrem Rat zu folgen.

Arthur hatte derweil sein Handy aus der Tasche genommen.

"Pearl hat mir geschrieben. Die Polizei ist tatsächlich bei ihnen aufgetaucht. Ich hoffe, sie kriegen keine Schwierigkeiten."

"Sie haben doch ein Alibi", winkte Yara ab. "Die können ihnen gar nichts beweisen."

"Was passiert denn, wenn sie ihnen den Diebstahl doch beweisen können?", fragte ich. Ich wollte nicht, dass Pearl wegen mir in Schwerigkeiten geriet.

"Dann müssen sie wahrscheinlich sehr viel Geld bezahlen. Aber sie haben dich ja gar nicht, also gibt es keinen Beweis. Außerdem waren sie in einem Restaurant, als wir dich geholt haben. Das wird schon, mach dir keine Sorgen."

Ich war trotzdem unsicher. Was auch immer dieses Polizei war, es hörte sich überhaupt nicht gut an.


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