4. Gestreifte Schatten

Wie lange noch?

Diese Frage schoss ununterbrochen durch meinen Kopf. Seit Pearl gegangen war, war mir danach, den Zaun der mich einschloss einfach niederzureißen. Ich wusste, es gab mehr da draußen, als nur Pferde und Heu. Ich wollte die Lichter in der Ferne sehen und diesen Ort kennen lernen, von dem Pearl geredet hatte und obwohl ich sie erst kurz kannte, vertraute ich ihr, wie einer alten Freundin. Vielleicht konnte ich ja dann endlich tun, was ich wollte, ohne von einem Gatter begrenzt zu sein.

Ich fühlte eine ganz neue Energie in meiner Brust, die Vorfreude prickelte in meinem ganzen Eselkörper, doch ein Satz den Pearl gesagt hatte, ging mir einfach nicht aus dem Kopf.

Eine Schule für Leute wie uns.

Ich verstand das nicht, ich war kein Mensch und sie kein Esel. Ihre Worte waren ein Rätsel, aber irgendetwas sagte mir, dass sie nicht gelogen hatte. Bald wäre ich an einem neuen Ort. Wenn ich hier nicht glücklich sein konnte, dann vielleicht ja dort.

Ich trabte wie immer im Kreis herum, eine Angewohnheit, die ich wohl schwer wieder loswerden würde, wenn ich hier rauskam. Auf irgendeine Weise beruhigte mich das Kreiseziehen etwas. Geduld. Pearl würde ihr Versprechen halten.

Die Nacht wurde immer finsterer, aber schlafen konnte ich keineswegs. Ich mochte es, dass der Mond heute so hell schien und den Wald geheimnisvoll schimmern ließ. Der Wald...dort gab es bestimmt das saftigste Gras und die frischesten Kräuter um entspannt zu grasen. Das war etwas ganz anderes, als das trockene Heu, das wir bekamen und schmeckte hundert Mal besser.

Diese Gedanken machten mir Appetit, sodass ich den Kopf zwischen den Zaunstreben hindurchschob und mit den Lippen nach einigen grünen Halmen angelte. Ich hatte rund um die Weide schon ziemlich viel abgefressen, aber wenn ich mich noch ein bisschen mehr reckte, konnte ich bestimmt noch ein paar Büschel erreichen, da war ich mir sicher. Doch plötzlich vernahm ich ein Rascheln aus dem Wald und zog den Kopf zurück, wobei ich mit den Ohren und dem Kinn unsanft an den Holzplanken anstieß. Gebannt starrte ich in den finsteren Wald. War dort ein wildes Tier?

Sofort schoss die Angst in meine Glieder. Schon öfter hatten sich Füchse oder gar Bären auf die Farm gewagt, doch niemals waren sie weit gekommen. Wie angewurzelt blieb ich stehen und lauschte, meine langen Ohren richteten sich unruhig auf den vom Wind rauschenden Wald. Hatte ich mich getäuscht? Das Geräusch war in meinem Kopf ganz nahe gewesen.

Erneut fühlte ich ein Prickeln in mir, aber aus Angst bemerkte ich es nicht. Jetzt wo es kalt wurde, war die Beute in den Wäldern sicher nicht üppig, vielleicht hatte ein Räuber ja entschieden, sich eines Ponys zu bedienen...oder schlimmer, eines jungen Esels.

Bei dem Gedanken schluckte ich und es fühlte sich an, als würden tausende Blicke auf meinem hellgrauen Fell liegen. Da! Pfotenschritte huschten durch den Wald. Helle Streifen schimmerten gespenstisch im Mondlicht und einige, bereits abgefallene Blätter der Bäume stoben in die Luft.

Vorsichtig setzte ich meine Hinterhufe rückwärts, jedoch ohne den Blick von dem herbstlichen Wald abzuwenden. Was wenn es ein Puma war? Für den wäre der Zaun kein Problem und ich wäre gefangen wie ein Goldfisch in einer Pfütze. Aber nein, Pumas hatten keine Streifen. Und Pumas waren leiser, als das Wesen, dass dort umherpirschte.

Pst! Bist du Gray?

Eine Welle der Erleichterung schwappte über mich hinweg. Ob das ein Freund von Pearl war, den sie schicken wollte?

Ja. Gray. Das bin ich, antwortete ich zögerlich. Mit Sicherheit war das kein Mensch. Der gestreifte Schatten sah beinahe aus wie eine Katze, mit funkelnden, das Licht reflektierenden Augen, aber das Wesen war breiter und hatte kürzere Beinchen. Ich wusste, was das war, ich hatte nur noch nie einen in echt gesehen. Ein Waschbär!

Es wurde immer seltsamer, zuerst sprach ein Mensch mit mir und jetzt auch noch ein Tier, das wie eine Mischung aus Hund und Katze aussah.

Der Waschbär wieselte bis zu meinem Gatter und lugte unter dem letzten Holzbalken hervor. Das Fell des Tieres war grau wie meines, nur sah es viel flauschiger aus. Ein langer, schwarz-weiß geringelter Schweif schnippte elegant hinter ihm her und auf seinem Gesicht zeichnete sich eine schwarze Maske ab, die seine dunklen Knopfaugen umrandete.

Pearl schickt mich und meine Freunde, um dich hier rauszuholen, Gray. Wir werden dich an den Ort bringen, von dem sie dir erzählt hat.

Die Stimme klang nach einem jungen Männchen und für einen Moment war ich zu verblüfft, um zu antworten. Mir lagen hunderte Fragen auf der Zunge, die ich alle auf einmal stellen wollte. Ich entschied mich fürs Erste für die offensichtlichste Frage.

Warum kann ich deine Stimme hören?

Oh, stimmt ja, Pearl hat erzählt, du weißt es nicht.

Was weiß ich nicht?

Erkläre ich dir später, wir dürfen keine Zeit verlieren, meinte der Waschbär nur und bastelte mit den überraschend geschickten Pfoten am Riegel des Zauntors herum.

Zweifelnd blickte ich hinüber zu den Boxen der Menschen. Das Licht war erloschen, schließlich war es schon ziemlich spät und der Mond stand fast ganz oben am Himmel. Wollte ich wirklich davonlaufen und einfach einem sprechenden Waschbären vertrauen?

Viel Zeit um nachzudenken blieb mir nicht, denn mit einem rostigen Quietschen schwang das Tor, mitsamt Waschbär, auf. Es fühlte sich an, als würde ich zum ersten Mal den Wind richtig spüren. Ich konnte hingehen, wo ich wollte. Theoretisch konnte ich den Waschbären auch einfach stehen lassen und davonlaufen, aber ein wenig neugierig, was das für ein Ort war, war ich schon.

Der Waschbär sprang geschickt von den Zaunbrettern auf den staubigen Boden herunter und tappte vorraus, direkt in die Richutng des Waldes, den ich so gerne anstarrte.

Komm. Wir sind am besten so weit wie möglich weg von diesem Ort, bevor die Sonne aufgeht.

Ich machte ein zustimmendes Geräusch und je näher ich ihm kam, desto mehr spürte ich das Kribbeln im Nacken, was mich etwas nervös machte. Stimmte irgendwas nicht mit mir?

Ich bin übrigens Arthur, sagte der junge Waschbär in meinem Kopf, während wir gemeinsam in die Dunkelheit des Waldes eintauchten. Unheimliche, weiße Schatten tanzten auf dem Boden und der Wind brachte die trockenen Blätter zum Rauschen. Es hörte sich fast an wie ein reißender Fluss nach der Schneeschmelze. Die Bäume ragten neben mir auf wie schattenhafte Riesen, einige von ihnen stellten mir eine Stolperfalle mit ihren Wurzeln und ihre Äste schienen in der Nacht nach mir zu greifen. Irgendwo im Wald hörte ich Wasser plätschern und eine Eule rufen.

Arthur? Das ist doch ein Menschenname, warf ich ein, ich konnte mich nicht erinnern, dass meine Mutter mir bei Waschbären erzählt hatte, dass es bei dieser Tierart üblich war, Menschennamen zu vergeben.

Es schien so, als würde der Waschbär grinsen.

Liegt daran, dass ich ein Mensch bin...also zum Teil.

Veräppelst du mich grade?

Ich blieb stehen und starrte den Waschbären an. Sollte ich mich vielleicht doch vom Acker machen? Wer so wirres Zeug redete, konnte ja nicht ganz dicht sein, oder?

Ich erkläre es dir, wenn wir bei meinen Freunden sind. Übrigens, erschreck dich nicht.

Erschrecken? Warum sollte ich mich erschrecken?

Und wieder grinste der Waschbär.



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