10. Ein Elch am Steuer

Es war wahnsinnig verwirrend, wie viele Sachen man brauchte, um in Jackson Hole als Mensch durchzugehen. Innerhalb von einem halben Tag gemeinsam mit Amalia und Arthur hatte ich nicht nur eine gesamte Garderobe mit bequemen Schuhen und einer flauschigen Jacke für den Winter bekommen, sondern auch noch alles, was ich in der Schule noch brauchte, wie längliche Holzstiele, die sich Stifte nannten, Hefte aus zusammengepressten Bäumen, ein praktisches Ding namens Rucksack und eine Zahnbürste, von der ich noch nicht wirklich wusste, wie sie man sie benutzte. Mit den Armen voll von meinen neuen Sachen wankten wir drei kurz nach Mittag zurück ins Haus der Pitbull-Wandlerin.

"Und, habt ihr alles bekommen?", fragte uns sogleich Yara, die uns im Flur entgegenkam, um uns ein paar Dinge abzunehmen, bevor wir noch auf die Nase fielen.

"Ja, es sollte alles dabei sein, was er gebrauchen kann", antwortete Amalia, die schon wieder angefangen hatte, durch die Küche zu wuseln.

"Ich habe Theo schon Bescheid gegeben, dass er uns abholen kann, er ist mit dem Auto auf dem Weg zu uns", informierte uns das braunhaarige Mädchen, während sie sich durch meine neue Kleidung wühlte. "Du hast einen guten Geschmack, Gray."

Verlegen begutachtete ich die Stoffstücke, viele davon waren so bunt wie es ging und die lilafarbenen Sachen gefielen mir am besten, aber eigentlich hatte ich nicht viel davon selbst ausgesucht. Arthur hatte eindeutig mehr Erfahrung darin, in der Menschenwelt nicht aufzufallen, also hatte ich seinen Vorschlägen einfach vertraut.

Phelan hockte derweil am Tisch und lehnte sich, auf eines dieser Handys glotzend, auf seinen Ellbogen. Seine dunklen Haare waren an den Seiten teilweise geflochten und ich wusste genau, dass er das nichts selbst gewesen war. Keiner entkam Yara und ihrem Igel am Stiel.

"Müssen wir wirklich schon zurück?", maulte der Wolfswandler, ohne seine Augen von der leuchtenden Handyoberfläche abzuwenden. Arthur legte ihm von hinten die Hand auf die Schulter.

"So war es abgemacht. Wir können nicht länger wegbleiben, als die Lehrer erlauben."

"Aber dann müssen wir wieder Abwaschen, bis unsere Finger runzlig werden", stöhnte Phelan und stopfte sich sein Handy in die Hosentasche, seine Fäuste folgten, bis er sie so tief in seine Jeans gebohrt hatte, dass sie eine Beule an seinen Oberschenkeln bildeten.

Ich wusste weder was Abwaschen war, noch warum Phelan so wütend darüber zu sein schien, also hielt ich mich da lieber raus. Außerdem war ich viel zu aufgeregt, bald an dieser Schule zu sein. Andere Wandler zu treffen würde sicher spannend werden, auch wenn ich erst so kurz von ihrer Existenz wusste. Hoffentlich gab es nicht noch mehr Wölfe, Phelan war mir an Raubtier genug.


Es dauerte nicht lange, bis wir vor der Tür ein lautes Geräusch hörten und Yara aufsprang um einem riesenhaften Mann die Tür zu öffnen. Das musste Theo sein. Er repräsentierte wirklich gut den Elch, in den er sich verwandeln konnte, seine Schultern waren beinahe so breit wie die Tür und seine Stimme so tief wie das Brummen eines Bären. Als wären alle meine Sachen so leicht wie eine Feder hob er alles auf einmal hoch und trug es zu einer Krachmaschine, die schief vorm Haus schlief.

"Komm, Gray, es geht los!", erklärte Yara mir aufgeregt und zog mich zur Krachmaschine hin, mir blieb nicht einmal Zeit, mich von Amalia zu verabschieden. Jedoch sträubte sich alles in mir, in dieses Gerät hineinzuklettern, sie waren viel zu laut und düsten rücksichtslos über die grauen Wege. Wieso nur war Yara so begeistert.

"Ist was?"

Die Mottenwandlerin war bereits in die Krachmaschine eingestiegen und sah mich von drinnen fragend an.

"Lass ihm ein bisschen Zeit, er war noch nie in einem Auto", meinte Arthur, der sich im vorderen Bereich des Autos auf einen gepolsterten Sitzplatz fallen ließ.

"Achso, stimmt ja. Tut mir leid, das ist bestimmt ungewohnt für dich."

Ich nickte.

"Sie sind immer so laut und sie stinken", gab ich meine Eindrücke zu und trat einen Schritt zurück.

Arthur drehte sich auf seinem Platz zu uns um.

"Mach dir keine Sorgen, ja? Als Mensch ist dein Gehör nicht so gut wie als Esel und die Fahrt ist auch nicht lange, versprochen." Seine dunklen Augen hatten tatsächlich etwas beruhigendes an sich, auch wenn mir das Auto immer noch nicht geheuer war. Aber meine neuen Freunde warteten einfach auf mich, bis ich, vollkommen steif und angeschnallt, neben Yara in der Krachmaschine hockte. Das Mädchen legte mir die Hand aufs Knie und nickte mir aufmunternd zu, aber ich versuchte nur, nicht daran zu denken, dass ich beim letzten Mal, wo ich mich gefürchtete hatte, das Verwandlungskribbeln  hervorgerufen hatte.

"Lenk ihn doch ein bisschen ab", schlug Phelan vor, der sich auf Yaras anderer Seite ins Auto geschwungen hatte. Auch Theo, der Elchwandler, der mittlerweile fertig war, meine Sachen einzuladen, stieg ein und brachte die Krachmaschine leicht zum Wanken. Sein Kopf, der in seiner Tiergestalt vermutlich von einem riesenhaften Geweih geziert wurde, stieß dabei fast gegen die Decke. Kaum war er bei uns, brachte er die Krachmaschine zum Brummen und ich krallte meine neugewonnenen Fingernägel in meine Hose.

"Ich kann dir von unserer Klasse erzählen. Du wirst sie nicht sofort kennenlernen, wißt du? Sie sind nämlich auf Schüleraustausch in Afrika", sprudelte Yara sogleich vor Worten. "Ich glaube, du wirst dich gut mit Cora verstehen, sie ist ein Schaf in zweiter Gestalt und Rina weiß auch erst seit ganz kurzem, dass sie eine Wandlerin ist."

Eine Schafwandlerin. Bei ihr könnte ich mich tatsächlich wohlfühlen, Schafe waren meistens entspannt und hatten die gleichen Feinde wie ich...Phelan zum Beispiel.

"Was...ähm...Was für Raubtiere habt ihr denn?", fragte ich möglichst leise, um meinen Wolfs-Mitschüler nicht zu verärgern, aber vermutlich hörte er mich sowieso.

"Oh, da haben wir ein paar, aber keine Sorge, die Schulregeln verbieten die Jagd auf Beutetiere. Da wäre... ein Dalmatiner, ein Schwarzbär, ein Nebelparder, oh, der coolste ist Kanja, er ist ein Gangesgavial und er kommt aus Indien. Seine zweite Gestalt ist so stark und er ist wahnsinnig gut in Verwandlung."

Gangesgavial...das sagte mir gar nichts, genauso wenig wie Indien. Ich musste mich wohl überraschen lassen, mit was ich es bei Kanja zu tun hatte.

Unser Fahrerelch warf das Auto derweil heftig in die Kurve, bevor wir langsam ausrollten. Yara war wirklich gut darin, mich abzulenken. Ich löste den einengenden Sicherheitsgurt so schnell wie möglich und ließ mir von Arthur die Tür öffnen, weil ich es selber nicht schaffte.

Frische Waldluft schlug mir entgegen und vor uns erhob sich ein, mit verschiedenförmigen Fenstern gespicktes Gebäude, das von einer durchsichtigen Kuppel gekrönt vor uns thronte. Auf den zwei Stufen vor der Schule hüpfte ein zarter Vogel herum und Arthurs Weg zur Tür wurde von einem recht aufgebracht grunzenden Wildschwein gekreuzt. Man kam sich ja fast vor wie in der Wildnis.

Ich konnte es kaum fassen. Das war mein neues Zuhause und es war schon jetzt hundert mal besser, als alles, was ich bisher gehabt hatte.

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