... 6 ...

Cuervo saß am Tisch und rührte mit seinem Finger in der warmen Milch, die vor ihm stand. Ab und zu steckte er sich den Finger in den Mund, und überlegte jedes Mal erneut, was da eigentlich in dem Kelch war. Als er wieder einmal darüber nachdachte, musste er plötzlich wieder an das Sahnesoßenblut der Larziken denken, und voller Ekel stellte er das Gefäß mit der Milch einen Meter weiter weg. Sie mussten Ala da rausholen, so viel war klar, und eigentlich hatte er auch schon einen Plan. Aber er traute sich nicht. Einen Larziken abzustechen war einfach. Fünf Stunden durch Schnee und Eis zu marschieren war einfach. Zu sterben war ebenfalls einfach. Sich zu erkälten war noch einfacher. Aber ein Mädchen anzusprechen, das war schwer, viel schwieriger als er gedacht hatte. Man ging nicht einfach zu einem solchen Geschöpf, klatschte ihm auf die Schulter und fing mit Na, wie geht es dir? an. Nein nein, da musste sachte überlegt werden und alles musste ins kleinste Detail ausgetüftelt werden, ansonsten blamierte man sich und schämte sich den Rest seines Lebens dafür. Cuervo hatte Bücher gewälzt. Das waren aber alte Bücher gewesen, als es noch so etwas wie Blumen gegeben hatte. Aber das Mädchen, auf das er es abgesehen hatte würde vermutlich eh nichts mit Blumen anfangen können. Peligro hatte zwar versprochen ihm dabei zu helfen, aber er hatte nur so lange mitgemacht, bis er erfahren hatte um welches Mädchen es sich handelte. Dann war der Junge zitternd und Ausreden murmelnd davongerast. Cuervo stöhnte. So konnte er hier noch ewig sitzen, aber weiter kam er dadurch nicht. Das Mittagsessen war längst vorüber, und er war mal wieder der Letzte im Saal. „Wenn ich sie doch nur irgendwie beeindrucken könnte ...", murmelte er. Was hatte er denn schon? Er hatte nichts. Das einzig tolle war höchstwahrscheinlich seine auf die Knochen abgemagerte Hand. Sehr gut, das hieß er hatte nichts zu verlieren.

Tapfer stand Cuervo auf, und bemühte sich, möglichst entschlossen auszusehen. Dreimal atmete er tief ein und aus, dann schritt er los. Mit erhobenem Kinn und großen, schlendernden Schritten trat er aus dem Raum, und ließ dieTür hinter sich zu schlagen. Aber schon nach wenigen Metern verging sein Optimismus wie der Hunger auf Fisch, wenn man den Fisch vergessen hatte auszunehmen. Seine Schritte wurden langsamer und mehr und mehr zu einem Schlurfen, dann zu einem gezwungenem Schleppen, und schließlich wurde daraus ein verstörtes Tapsen. Nach einer Stunde war Cuervo schließlich an der Zimmertür des besagten Mädchens angelangt, obwohl der Weg vom Speisesaal bis hierher nur fünfzig Schritte betrug. Seine Hände waren schweißnass, als er die gesunde von beiden hob, und zaghaft anklopfen wollte. Aber sein Arm verweigerte die Bewegung, und blieb eine Handbreite vor der Tür in der Luft schweben. Dann senkte er ihn wieder. Er konnte das nicht! Er wollte das nicht! Er war kein Held und auch kein anderer toller Typ der irgendetwas draufhatte! Er war nur Cuervo, ein armseliger Rabenwandler mit einem kaputten Flügel. Jetzt reiß dich aber malzusammen Cuervo! Sein inneres mutiges Ich war zum Leben erwacht, und strich ihm ernergisch die Haare aus der Stirn. Du wirst da jetzt klopfen und einfach das sagen was du willst! Am besten etwas höflich und deutlich. Sein Kopf kippte seufzend gegen die Tür, und verursachte ein pochendes Geräusch. Ein Schrei bahnte sich in Cuervos Kehle an, gleich würde die Tür aufgerissen werden und dort stände ein Mädchen. Ein Mädchen, allein schon dieses Wort war beängstigend! Ala war in Ordnung, aber sie war ja auch angebunden. Er presste die Lippen zusammen und befahl sich die Schultern zu senken, gerade zu stehen und das alberne Rumgefuchtel mit den Händen bleiben zulassen. „Ja?", ertönte eine weiche, leicht genervte Stimme von innen. Schon wurde die Tür geöffnet, und Cuervo blickte in eiskalte, blaue Augen. Sie waren mit Ruß umrandet, was ihnen noch mehr Leuchtkraft verlieh. Helle Haare hingen seidig schimmernd über das schmale Gesicht des Mädchens. Ihre ausgeprägten Wangenknochen und ihr schmallippiger Mund rundeten das Bild perfekt ab. Jetzt wusste Cuervo plötzlich wieder, warum er sich geschworen hatte, niemals wieder dieses Mädchen anzusprechen. Er fühlte wie er rot wie ein Spanferkel wurde, dann drehte er sich um und rannte den Gang zurück zum Essensraum. So schnell, als wäre der Oberlarzik persönlich hinter ihm her, um Cuervos Herz als Rache für seinen gefallenen Kameraden zu holen, und es dem Toten wieder einzusetzen. Schwer atmend stürzte er in den noch immer leeren Raum, und fiel auf die Knie. Er zitterte am ganzen Körper, nein Mädchen waren schlimmer als alle Gemeinheiten Fulgors zusammen. Naja, zumindest dieses Mädchen gestand er sich ein. Nachdem der junge Krieger ein paar Minuten verschnauft hatte, richtete er sich wieder auf. Hätte er doch zumindest sein Schwert wieder! Damit würde er sich zumindest geistig sicherer fühlen, und notfalls auch handgreiflich werden, was er aber eigentlich nicht vorhatte. Mit Gewalt kam man bei Frauen nicht immer weiter, so viel war bekannt. Außerdem kämpfte dieses Mädchen wie ein Krieger in seinen besten Jahren, und das mit vierzehn. Nicht dass er schlecht war, aber Cuervo verlor gegen sie beim Rennen, beim Springen, beim Schleichen, beim Reden, beim gut aussehen ... Er konnte aber auch wirklich gar nichts. Kein Wunder, wenn sie in ihrer Schneeleopardengestalt auf dem Sofa saß und sich die Pfoten wusch, war das immer noch eleganter als wenn er als Rabe auf dem Wind in den Sonnenuntergang glitt.

Missmutig starrte er auf seine Knochenhand. Sie steckte noch immer in dem weißen Verband, aber auch dieser konnte kaum das darunter verbergen. Seine Finger waren zu schmal und lang. Zum Glück bewegte sich diese Krankheit nicht weiter, denn anfangs hatte der Junge schon befürchtet nun vollständig zu einem lebendigen Skelett werden zu müssen, aber es breitete sich nicht aus. Geistesabwesend zupfte der Junge an demTuch, der das grausige Überbleibsel seiner Hand überdeckte. Stöhnend verließ er den Raum schließlich wieder. Er hatte keine Lust von irgendjemandem angesprochen zu werden, so nach dem Motto: Sitzt du den ganzen Tag hier herum? Hast wohl keine Freunde, was? Zielstrebig machte sich Cuervo auf den Weg zu Dragos warmen Zimmer, dabei ging er wohl etwas sehr zielstrebig und flott, denn plötzlich stürmte er nahezu in einen Mann hinein. „Hoppla! Nicht so schnell!", merkwürdigerweise lachte der Mann als er das schimpfte.

Carino rieb sich den Ellenbogen, aber es würde nicht einmal die kleinste Schramme zurückbleiben. Er sah den Jungen an, der sich nun stotternd eine schwarze Haarsträhne aus dem klugen Gesicht wischte. Seine Augen waren pechschwarz, und seine Statur groß und schmal.

„Entschuldigung ... das war keine Absicht ... ich war wohl etwas schnell ... und da muss ich Euch ... übersehen haben so ganz ... unabsichtlich ... und ich werde in Zukunft besser aufpassen ...", Cuervo stotterte und druckste herum, dieser Mann war ihm schon immer unheimlich gewesen, er gehörte zum engsten Kreis Fulgors. Ängstlich blickte er in das, trotz fortgeschrittenem Alters, kaum faltige Gesicht. Seine Augen erinnerten ihn an seine eigenen, nur waren sie noch blau und hatten eine deutliche Abgrenzung zwischen Pupille und Iris. Ein Lächeln hing auf dem Gesicht des fremden Mannes, als er mit seiner tiefen Stimme fragte: „Alles in Ordnung mit dir? Und keine Sorge, ich war selber schuld und hätte die Augen offen halten müssen. Mein Nameist Carino, darf ich erfahren wer du bist?" „Cuervo", stotterte dieser, und blinzelte ein paar mal, träumte er etwa gerade? War das etwa der Carino? Der Mann der König Fulgor mit reiner Wortkraft davon überzeugt hatte, dass man ihn nicht einsperrte? Carino, der Hüter der Freude? „Seid Ihr der, wo ich denke dass Ihr es seid?" Der grauhaarige Mann schmunzelte erneut und nickte: „Aber sicher, es gibt nur einen einzigen Carino auf diesem Schloss, und wenn mich nicht alles täuscht, dann auch der einzige in der gesamten Stadt der Eiswölfe." Freundschaftlich legte er Cuervo eine Hand auf die Schulter, „Na dann, es war schön dich kennen zu lernen, aber, ich hoffe du verstehst, ich muss noch meine Arbeit erledigen." Carino nickte noch einmal nett, und verschwand dann den Gang hinunter. Vollkommen verwirrt und verstört für den Rest des Tages, lief Cuervo nun doch zu seinem Zimmer, anstatt zu Drago zu gehen, wie er es eigentlich vorgehabt hatte. Seufzend legte er sich auf sein Bett, und grübelte über den Tag nach. Konnte es überhaupt noch komischer werden? Erst der kranke Drago, dann die blauhaarige Ala, dann das verpatzte Treffen mit einem Mädchen, und nun ein freundliches Kennenlernen eines Mannes, der als geschätzter Berater des Eiskönigs und gleichzeitig als halbe Legende wegen seinen Überzeugungsreden bekannt war. Zu viel des Guten. Oder Schlechten?




Drago saß auf Luces Rücken, und ließ sich die verdammt kalte Brise der Eiswüste um die bereits rote Nase wehen. Esmeralda hatte ihn dazu überredet, etwas an die frische Luft zu gehen, und sein treuer Wolf war auch sofort Feuer und Flamme von der Idee gewesen. Gemütlich trabten die beiden nun schon seit einer guten Stunde durch die Ebene. Eigentlich hatte Drago erst einmal nicht wieder in den Schnee gewollt, Cuervos Geschichte hatte ihn ganz schön mitgenommen, aber andere Ausreitmöglichkeiten gab es nun mal nicht. Er konnte ja schlecht im Thronsaal auf und ab reiten. Der Junge zog sich das dunkle Tuch aus weichem Bärenfell über Mund und Nase, und trieb Luce an. Sofort stürmte der Wolf los, und preschte mit hoher Geschwindigkeit dahin, als wäre der Boden auf seiner Seite. Schneeflocken spielten mit ihnen fangen, und die hellblaue Sonne strahlte vom grauen Firmament wie ein glühendes Auge in einem toten Körper.

Plötzlich stürzte aus einer Schneewehe rechts von ihnen, etwas riesiges hervor, weder Luce noch Drago hatten es kommen geahnt, und hatten keine Zeit zu reagieren. Eine gewaltige Tatze riss Drago von Luce Rücken, und warf ihn unsanft zu Boden. Schnell sprang er wieder auf die Füße, und starrte mit schreckgeweiteten Augen auf einen Berg aus Schnee. Luce rappelte sich gerade wieder auf, und knurrte drohend. Schützend warf sich der weiße Wolf dazwischen, als eine weitere Pranke auf Drago zukam. Dennoch flogen beide durch die Luft. Der Reiter kam zuerst wieder zur Besinnung, sprang auf die Füße und ließ seinen Bogen mit einem hörbaren Schnalzen ausklappen. Mit einer geschickten Bewegung legte er einen Pfeil auf die Sehne, und zielte auf das Etwas. Das Wesen vor ihm schien aus reinem Schnee zu bestehen, Drago fiel es schwer überhaupt vorne von hinten zu unterscheiden. Erst als es sein mit tausenden winzigen Zähnen bewährtes Maul aufriss und ihm eine Sinfonie kreischender Schreie entgegenwarf, erkannte Drago, dass dort wohl vorne war. Er ließ einen Pfeil in den Rachen des Monsters sausen. Das nächste Gebrüll klang ganz eindeutig verwundet. Drago hielt sich die Ohren zu und rannte zu Luce, der sich den Schnee aus dem Fell schüttelte und noch etwas benommen wirkte. „Los! Weg hier!", schrie Drago, und sprang in den Sattel. Luce preschte nur einen Moment später davon, allerdings jagte ihnen das Untier nach. Nun erkannte Drago auch, dass das Wesen drei Beinpaare besaß, eines zu viel für seinen Geschmack, und seine Größe ihm mitunter dabei half, aufzuholen. Luce fing bereits an zu hecheln, und obwohl Drago wusste dass sein Gefährte alles tat was erkonnte, wusste er ebenfalls, dass es nicht genug sein würde. Drago schoss noch einen weiteren Pfeil ab, der das Untier jedoch nur noch rasender machte. Es holte auf. Im Zickzack jagte es dem weißen Wolf nach, es war riesengroß, so groß, dass es problemlos Lobo in sein Maul hätte kriegen können. Etwas derartiges hatte Drago noch nie gesehen, auch hatten andere nie davon berichtet, eine solche Kreatur gesichtet zu haben. Der Boden erzitterte unter den schweren Schritten des Schneemonsters, als es plötzlich aufschrie. Drago drehte sich um, und betrachtete mit unterschiedlichen Gefühlen die Szenerie: Eine braun-weiß-getupte Katze mit Skorpionsschwanz hatte sich auf das Eiswesen gestürzt. Es war auf die Seite geworfen worden, und quiekte leidend, als die Skorpionskatze, die noch etwas größer als der Schneekreischer war, sich auf es stürzte und in Einzelteile zerlegte. Blaues Blut spritzte wie eine Fontäne flüssigen Eises in die Luft, und es dauerte nicht lange, als das Schreien des Schneemonsters verebbte. Schnell, und möglichst mit der weißen Umgebung verschmelzend, duckten sich Luce und Drago hinter einer Schneewehe. Aber das Monster folgte ihnen nicht, und trottete bald schon davon. „Luce, was war das?", Dragos Stimme zitterte. Der Wolf fiepte nur mit aufgerissenen Augen, die Angst war ihm so deutlich ins Gesicht geschrieben wie Drago es noch nie gesehen hatte. Er hatte gar nicht gewusst, dass Wölfe so ängstlich gucken konnten. Mit beiden Händen umfasste der Junge den Kopf seines Freundes und drückte dessen Stirn an seine eigene, „Was auch immer das war, wir sollten unbedingt jemanden davon erzählen und die Truppen warnen." Luce schleckte Drago über das Gesicht, und sie machten sich auf den Nachhauseweg. Durch die Hetzjagd hatten sie bereits mehr als die Hälfte der Strecke zurückgelegt, und so dauerte es keine halbe Stunde, bis die beiden die Stadt der Eiswölfe erreicht hatten.

Cuervo hatte sich schließlich dazu durchgerungen, in die Bibliothek zu gehen, um herauszufinden wie man Mädchen beeindrucken und ihnen gefallen konnte. Es gab leider nicht viele Bücher darüber und Cuervo war nicht gerade ein ausdauernder Leser. Außerdem war schon das erste vollkommen unmöglich umzusetzen: Blumen. Ha. Ha. Ha. Sehr lustig, welcher Vollidiot hatte das Buch denn geschrieben? Ärgerlich musste der Junge feststellen, dass das Buch vor fünfzig Jahren geschrieben worden war. Das zweite Stichwort war Männlichkeit. Noch niedergeschlagener fuhr er sich durch die schwarzen Haare. Er war groß und schlank, aber weder besonders stark noch wirklich tapfer. Außerdem war er gerade des Dienstes verwiesen worden, und fühlte sich schwach. In dem nächsten Buch das er aufschlug, stand: Gedichte. Aber er wollte sich ja nicht an sie ranmachen! Nein, er brauchte etwas anderes. Mit etwas neuer Entschlossenheit suchte er etwas gegen Nervosität. Yoga, Bewegung, rückwärts zählen. Nach zwanzig Minuten hatte er keine Lust mehr. Entspannt war er nicht, nur völlig fertig. Er würde das nie hinkriegen. Nie. Niemals. Nie im Leben. Nie und nimmer.

Plötzlich betrat noch jemand die Bücherei.

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