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Stirnrunzelnd lief Cuervo den Gang entlang. Bei jedem Schritt fehlte ihm sein Schwert, das sonst immer im Takt seiner Schritte an seinen Schenkel schlug. Und statt der silberfunkelnden Rüstung trug er nur einen ledernen Wams. Der Kommandant hatte ihn vorerst aus seinen Reihen gestrichen, da Cuervo mit nur einer Hand weniger stark war. Er wusste ja nicht, dass derJunge die Finger einwandfrei bewegen konnte, obwohl bereits alles Fleisch von ihnen geglitten war. Nun hatte der junge Krieger also erst einmal Urlaub, und schon jetzt vermisste er die Arbeit. Cuervo beschloss in den Gefängnistrakt zu gehen, um diese Ala zu besuchen. Er konnte sich keine blauen Haare vorstellen, und vielleicht würde er es ja schaffen ihr zu entlocken, was für eine Hüterin sie war. Der Wandler verwandelte sich in einen schwarzen Vogel, und musste einsehen, dass er mit seinem linken Flügel nicht würde fliegen können. Nur weißer Knochen blitzte ihm entgegen, keine schönen schwarzen Schwungfedern. Ächzend hüpfte er den linken Gang entlang, und lief zur achten Zelle auf der rechten Seite. Als Rabe war der Weg zwar ungeheuer lang, aber so kam er immerhin unbemerkt an den Wachen vorbei. Gerade so gelang es dem großen Vogel sich durch die Gitter zu drücken, und mit einem Plumpsen landete er auf dem dreckigen Boden. Vor sich im Dämmerlicht erkannte er ein Mädchen. Tatsächlich mit langen, blauen Haaren. Verwundert sah sie ihn an. Cuervo beschloss sich zurückzuverwandeln, und tauschte sein schwarzes Federkleid gegen seine Menschengestalt. Ala schreckte zurück und unterdrückte einen Schrei. Sie zog die Beine an und begann zu zittern. „Alles in Ordnung, ich bin ein Freund von Drago, ein ziemlich guter sogar." Jetzt würde sich herausstellen, ob Drago die Wahrheit gesagt hatte. Offenbar schon, denn das Hüter-Mädchen entspannte sich wieder etwas, sah ihn aber noch immer fragend und leicht ängstlich an: „Wie bist du... ?" „Ich bin ein Wandler, weißt du? Ich kann mich in einen Raben verwandeln, ziemlich cool, was. Mein Name ist übrigens Cuervo. Du musst Ala sein, Drago hat mir es gesagt. Er selbst konnte gerade leider nicht kommen, aber ich soll dir viele Grüße von ihm ausrichten. Außerdem meinte er, du wüsstest nicht welche Hüterin du wärst, hm... ich würde auf Wasser tippen. Oder Luft. Luft ist gut. Ich mag Luft, so frische Luft, nicht so abgestandene wie hier drin. So ein richtig schöner Aufwind, das wär's." Cuervo ließ Ala gar keine Zeit, irgendetwas zu sagen oder sich zu bedanken. Der Junge starrte verträumt an die Decke, als Ala sich räusperte: „Aha. Und Wandler können sich in Tiere verwandeln?" „Ja! Wie gesagt, ich bin ein Rabe, ich kann mich auch nochmal verwandeln, wenn du willst. Es tut längst nicht mehr weh. Aber es gibt auch andere Wandler. Ein Freund von mir ist ein Silberfuchs, und ein anderer ein Schneeleopard. Es gibt auch Falken und Fische und Mücken und Spinnen und Hirsche und ..." „Danke, ich habe es verstanden.", sagte Ala rasch. Dieser Cuervo war zwar freundlich, aber irgendwie ziemlich verquatscht. Cuervo ward as erste Mal seit langem sprachlos. Dieses Mädchen verhielt sich so respektvoll wie niemand anderes, und ihre grauen Augen waren so gefüllt an Lebendigkeit, dass der junge Wandler sich gar nicht recht traute, sie anzusehen. „Warum kann Drago denn nicht kommen?", fragte Ala überraschend. „Er hat ein ganz klein wenig, also eigentlich so wenig dass man's gar nicht merkt, Fieber. Aber wie gesagt, nur ein ganz kleines bisschen, der wird schon wieder. Und du? Wie geht's dir so hier unten? Ich meine, diese stinkige Luft, diese Langeweile, das schlechte Essen... kriegst du überhaupt Essen?", antwortete Cuervo ausweichend. „Nein... nicht richtig, nur von Drago, gestern. Warum bist du eigentlich hergekommen, Cuervo?" „Weil ich mir deine blauen Haare anschauen wollte, und weil ich nicht ganz glauben konnte dass du nur so jung bist." Der Wandler drehte den Kopf und sah etwas nervös auf den Gang hinaus. „Ich glaube, der Wächter kommt. Noch einen schönen Tag, und vielleicht kommt Drago ja doch noch mal vorbei. Und das mit den Fesseln kriegen wir schon hin. Ich kenne da jemanden, der für sein Leben gerne stiehlt. Wirst schon sehen, so lange musst du hier nicht mehr schmoren.", damit schlug Cuervo dem Mädchen freundschaftlich auf die Schulter, verwandelte sich in einen Vogel, und verschwand in den Schatten. Ala fragte sich, was mit seinem Flügel los war. Warum flog er nicht? Aber er hatte seine linke Hand auch unter Verband verborgen, vielleicht war sie verletzt. Irgendwie musste Ala lächeln, als sie an ihn zurückdachte. Er verbreitete gute Laune und Hoffnung, genau das, was sie gerade benötigte. Schade, dass er so schnell wieder gegangen war. Irgendwie hatte er so schnell geredet, dass Ala überhaupt nicht abschätzen konnte wie lange. Eigentlich hatte sie doch mal jemanden fragen wollen wo sie hier war und wie sie hierher gekommen war. Ihre letzten Erinnerungen waren nur diese grausigen Menschen mit den eiskalten Körpern und abstoßenden, teilnahmslosen Gesichtern. Und das tote Mädchen? War es denn nun eines von ihnen gewesen? Warum hatte diese Fremde ihr für kurze Zeit die Angst genommen? Ihre Hände schmerzten von den Ketten, mit denen sie an der Wand festgebunden war. Außerdem war der Boden kalt und ungemütlich, und hätte sie nicht Dragos Umhang, würde sie sicherlich am Stück mit den Zähnen klappern. Hinzukommend hatte sie ständig das Gefühl, schwächer zu werden. Als zerre eine unsichtbare Kraft an ihrem Leben, und wolle es ihr Stück für Stück entreißen. Ala wechselte die Sitzhaltung und lehnte ihren Kopf gegen die Mauer. Sie hatte kaum schlafen können, und nur von unheimlichen Eismonstern geträumt, die auf sie zukamen und in ihrer Mitte erdrückten.

Das Schloss knackte, als der alte Schlüssel darin herumgedreht wurde. Das Tiron-Mädchen schreckte auf und sah zu dem Mann hinauf, der nun die Tür öffnete. Er trug keine Rüstung, und war, von dem kleinen Dolch an seinem Gürtel einmal abgesehen, unbewaffnet. Seine Augen waren von einem so dunklen blau, dass man fast dachte sie wären schwarz. Schwarz wie das lange Gewand, welches der, etwa fünfundvierzig Jahre alte Mann, trug. Ängstlich drückte sich das Mädchen an die Mauer und starrte den Mann an. Dieser trat ein und ging in die Hocke, um in Augenhöhe mit der Hüterin zu sein. Dabei fiel ihm eine graue Haarsträhne ins Gesicht. Ala betrachtete den Mann aus einer Mischung von Argwohn und Angst. Der Mann rieb sich mit einer Hand über das mit grauen Bartstoppeln übersäte Kinn, während er sie ebenfalls musterte. Schließlich legte sich ein wärmerer Ausdruck auf sein Gesicht, und endlich brach er das Schweigen, das langsam unangenehm wurde: „Wie heißt du?" Seine Stimme war gesenkt, aber nicht kraftlos. „Ala", sagte Ala, bevor sie überhaupt darüber nachdenken hatte können, ob sie die Wahrheit sagen wollte. Konnte sie diesem Fremden trauen? War er hier um sie auszufragen? Vermutlich, warum sonst; beantwortete sie ihre Frage selbst. Dann wandte sie ihre Aufmerksamkeit wieder dem Mann zu. „Und wer seid Ihr?" Der Mann schmunzelte auf ihre Frage, und kleine Fältchen bildeten sich um seine Augen, „Mein Name ist Carino. Wie alt bist du?" „Wie alt seid Ihr?", gab Ala frech zurück. „Ich weiß, man fragt eine Dame nicht nach ihrem Alter, aber so kommen wir nicht weiter. Also, wie alt bist du?" „Ich bin vierzehn." „Vierzehn", Carino sah sie mit leicht schief gelegtem Kopf an. Da haben sie dich ganz schön früh erwischt. Die meisten Hüter hier sind weit über hundert." Ala riss die Augen auf: „Weit... weit über... hundert?" Der Mann nickte: „Ja. Du hast noch ein langes Leben vor dir. Wie ich sehe, weißt du nicht viel über die Hüter, oder Elfen, wie man uns auch manchmal nennt." Als Carino merkte, dass Ala überhaupt nicht mitkam, fragte er: „Wie alt schätzt du mich?" Ala hatte ihre Sprache schnell wieder gefunden: „ Vom Aussehen so fünfundvierzig, von der Erzählung wohl eher zweihundert." „Das schmeichelt mich aber.", sagte der Elf, „ich bin vierhundertdreiundsiebzig Jahre alt. Aber wenn ich aussehe wie zweihundert, da hab ich mich aber gut gehalten, mein lieber Troll!" Ala blinzelte verwirrt. „Arbeitet Ihr für den Herrn dieser Burg hier?", fragte das Mädchen, sie beschloss den Mann als ungefährlich zu betrachten. „Burg? Wenn König Fulgur das hört bekommt er wahrscheinlich noch mehr graue Haare! Du bist hier auf einem Schloss, mein Mädchen. Das Schloss in der Stadt der Eiswölfe. Und nein, ich arbeite nicht für den König, um auf deine Frage zurückzukommen, das sollte aber besser unter uns bleiben." „Schloss? Stadt der Eiswölfe? Oje, ich muss weit fort von zu Hause sein.", niedergeschlagen blickte Ala zu Boden, „Tiro ist hier sicherlich nicht gleich um die Ecke, oder?" Carino überlegte eine Weile, dann sagte er: „Tiro? Du kommst tatsächlich aus Tiro? Ich dachte immer, die Stadt der bunten Haare würde es gar nicht wirklich geben, aber du bist offenbar der Beweis. Nun, ich habe keinen blassen Schimmer wo deine Heimat liegt, tut mir Leid. Auf den meisten Karten sind nur die großen Städte verzeichnet, die für König Fulgor von Belang sind. Aber ich kann mich dennoch einmal danach umhören. Wie bist du denn hierhergekommen, wenn ich fragen darf?" „Das... das weiß ich nicht. Ich erinnere mich nur noch an einen Kreis aus merkwürdigen Gestalten, und dann kam Drago. Irgendwann war ich wohl komplett weg, denn das nächste in meinen Erinnerungen ist der Krankenflügel." Das Mädchen hatte weitersprechen wollen, aber der Mann schnitt ihr das Wort ab: „Larziken... na so was..." Ala runzelte verwirrt die Stirn. Sie hatte nichts von irgendwelchen Larziken gesagt. „...dass sie schon wieder eine Elfe angegriffen haben ist sehr erstaunlich. Es sieht fast so aus als würden sie diese mit Vorliebe angreifen ..." Carino war in Gedanken versunken und redete mit sich selbst. Irgendwann räusperte sich Ala höflich, und Carino schreckte auf. Kurz wunderte er sich offenbar wo er war, dann aber schien ihm die Erinnerung wieder zu kommen, und er blinzelte ein paar mal. Merkwürdig war er ja schon ... „Ach genau, wo waren wir stehen geblieben? Ich hatte dir ja eigentlich Fragen stellen sollen, und nicht anders herum. Du heißt also Ala, bist vierzehn und kommst ausTiro. Daraus, dass du noch nie etwas von einem Hüter oder einer Elfe gehört hast, schließe ich, dass deine Kräfte wohl noch nicht geschult wurden, ist das richtig?" „Kräfte? Geschult? Ich ...", Ala hob hilflos die Schultern, was mit hinter dem Rücken gefesseltenHänden nicht gerade leicht war, „Ich glaube eigentlich gar nicht, dass ich eine Elfe bin. Wäre mir das nicht irgendwann aufgefallen? Ich dachte Elfen können hexen oder so ähnlich?" Carino schmunzelte: „Wie schon erklärt, ich sollte dir nicht mehr Fragen beantworten, nur so viel: Du bist eine Elfe, und deine Magie wird sich eines Tages ganz von allein zeigen. Es braucht nur seine Zeit. So wie alles im Leben." Damit stand der Mann auf und verließ die Zelle. Mit einem hässlichen Knacken drehte er den Schlüssel im Schloss herum, und ging davon, ohne auch nur noch ein einziges Wort zu sagen.

Ala musste ohnehin erst einmal über alles nachdenken. Stadt der Eiswölfe. Noch nie gehört, aber hatte das etwas mit dem Wolf zu tun, der ständig an Dragos Seite war? Und was war das gewesen mit den Elfen? Sie sollte eine Elfe sein? Es hörte sich genauso schwachsinnig an, als wenn jemand sagen würde, sie könnte fliegen. Beide Aussagen waren logisch überdacht vollkommener Humbug, jedoch umso länger man darüber sinnierte, desto wahrer erschien es einem. Ala schüttelte den Kopf. Wurde sie jetzt schon verrückt!? Man konnte doch nicht fliegen! Was für einen Schmarren dachte sie da eigentlich gerade? Tief durchatmend schloss sie die grauen Augen. Ihr Kopf pochte, und nicht nur vor ungelösten Rätseln. Sie hatte viel zu wenig getrunken in letzter Zeit. Erschöpft lehnte sie sich zurück. Es hatte keinen Sinn sich den Kopf darüber zu zerbrechen, wie sie hier herauskäme. Sie würde mit großer Wahrscheinlichkeit bis zum Ende ihres Lebens hier unten schmoren. Wenn sie nicht schon davor verdurstet, verhungert oder vor Langeweile gestorben war.


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