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Immer schneller trieb Drago seinen Wolf an. Er war in höchster Eile, denn ein Leben war in Gefahr, das Leben eines Hüters. Drago war kein Hüter, auch kein Wandler, er war nur ein Reiter. Wenn gleich ein besonders guter Reiter und oben drauf auch noch der beste Bogenschütze des Landes. Aber um das zu können, brauchte man keine magischen Fähigkeiten. Hüter und Wandler dagegen waren tief in das Netz der Zauberei verstrickt. Der Reiter ließ seinen schneeweißen Wolf Luce einen zugefrorenen Tümpel überspringen. Es musste sich beeilen, wenn er das Leben dieses Hüters retten wollte. Und das wollte er, um jeden Preis. Drago mochte sich gar nicht vorstellen was geschehen würde, wenn ein weiterer Hüter ums Leben kam, es konnte viel passieren, sehr viel. Und vor allem sehr viel Schlimmes. Der letzte Hüter der gestorben war, hatte das Feuer gehütet, die Wirkungen waren unübersehbar. Das ganze Land hatte sich mit einer meterdicken Eisschicht überzogen, Tiere starben, Pflanzen erfroren. Alles wurde schwerer. Auch Dragos Herz, denn der Hüter des Feuers war seine Mutter gewesen. Aber in der Zwischenzeit waren schon fast drei Jahre vergangen, und viele Lebewesen begannen sich an die neue Umgebung in Eis und Schnee anzupassen. Eine große Anzahl an Hütern gab es nun nicht mehr. Estrella, die Hüterin der Gezeiten, war krank, und es gab Wochen, da blieb es einfach ständig Nacht. Drago hatte keine Ahnung welcher Hüter im Moment im Sterben lag, aber er spürte dass der Unglückliche nur noch wenige Minuten hatte. Momente voller grausamer Schmerzen und Leid. Unwillkürlich fasste sich der Junge an seine linke Brusthälfte. Sein Körper und sein Geist litten jedes Mal mit, sobald ein Hüter oder ein Wandler starben. Vielleicht war das seine Gabe, die er von seinem Wandler-Vater und seiner Hüter-Mutter geerbt hatte. Nicht wirklich eine schöne Gabe. Aber Niebla, Dragos Mutter, hatte häufiger gemeint, dass noch so manches Geheimnis in ihm läge. Er schrak aus seinen Gedanken, denn Luce sprang plötzlich ohne Vorwarnung über eine besonders hohe Schneewehe, und der junge Reiter wurde beinahe aus dem Sattel katapultiert. „He, mach so etwas nicht nochmal!", Drago wies seinen Wolf zurecht und zog ihn am Ohr, es war aber nicht wirklich böse gemeint. Luce jaulte gekünstelt auf, die beiden waren ein zusammengeschmolzenes Herz und eine Seele. Da fühlte Drago einen Stich, so als hätte ihm jemand ein Messer ins Herz gestoßen, es wieder herausgezogen, und nun zum endgültigen Hieb ausgeholt. Fast gleichzeitig sah er eine graue Wand vor sich aus dem Schneegestöber hervorgehen. Sofort hielt er darauf zu. Es waren Larziken, grausame Wesen die einen in ihrer Mitte erfrieren ließen ohne mit der Wimperzu zucken. Sie standen im Kreis, und hielten offenbar ein Opfer in ihrer Mitte fest, denn sie hatten ihre Arme nach vorn gestreckt und gingen wie Zombies im Gleichschritt auf die Mitte zu. Drago wusste,dass sich der gesuchte Hüter bald in ihren Fängen befinden würde. Also hieb er voller Entschlossenheit Luce die Fersen in die Flanken, und gemeinsam sprangen sie über die Larziken hinweg. Kein anständiger Bewohner dieser Welt hätte das getan. Aber Drago tat es, denn er wusste, er würde leiden. Nicht nur weil er es nicht geschafft hatte jemanden vor dem Tode zu bewahren, sondern auch weil er dann all die Strapazen am eigenen Körper miterleben musste. Es war jedes Mal aufs Neue fürchterlich. Drago konnte sich zwar danach nicht mehr daran erinnern, aber so war jeder Tod aufs Neue furchtbar. Der weiße Wolf kam abrupt zwischen den Kreaturen zum Stehen. Genau vor dem fast leblosen Körper eines Mädchens. Schnell lud Drago die Gestalt vor sich in den Sattel, jetzt war schnelles Entkommen gefragt. Seine türkisfarbenen Augen huschten umher und versuchten einen guten Moment abzupassen. Sein Wolf wartete nur auf seine Anweisungen. Aber der Kreis war schon sehr geschlossen, und gierige Hände griffen nach den Drei. Luce knurrte und schnappte nach allen Fingern die ihm zu nah schienen. Dann endlich war der richtige Augenblick da, Drago hielt den bewusstlosen Hüter und sich selbst an den Wolf geklammert, als dieser in hohem Bogen über die Köpfe der Eismonster sprengte. Doch kurz bevor als sie aus der Gefahrenzone entkommen waren, hob der eine Larzik ein Messer, und ritzte den Oberschenkel des Jungen auf. Aber Drago war so angespannt, dass er es gar nicht merkte. Erst als Luce ein paar Meter Entfernung hinter sich gelegt hatte, und in gemächlichen Trab gefallen war, nahm Drago die Wunde wahr. Aber obwohl sie nicht zu bluten aufhören wollte, gab es jetzt erst einmal wichtigeres. Er nahm seinen Umhang von den Schultern und wickelte das bewusstlose Mädchen darin ein. In ihren Augenbrauen und Harren hatten sich schon Eiskristalle festgesetzt. Ihr Atem ging flach und unregelmäßig, Hände, Füße und Lippen blau vor Kälte. Warum die Hüterin ein Sommerkleid trug, wusste Drago nicht eindeutig. Entweder sie war eine Verrückte, oder ihr Land wurde unerwartet von einem Winter heimgesucht, und sie hatte keine Zeit mehr gehabt sich umzuziehen. Aber wenn das Zweite der Fall war, hieß das nichts Gutes, denn dann müsste das Eis schon bis nach Tiro vorgedrungen sein. Drago konnte nur vermuten dass das in seinen Armen ein Tiron-Mädchen war, aber die langen blauen Haare würden passen. Er hatte gehört, dass die Leute dort in Tiro sonderbare Haarfarben hatten.

Luce heulte laut auf, als die Stadt der Eiswölfe vor ihnen auftauchte, und rannte in langen Sätzen darauf zu. Früher einmal, als Fulgor noch nicht den König gestürzt und sich die Ländereien unter den Nagel gerissen hatte, hatte die Stadt den wohlklingenden Namen Atasea getragen. Jetzt hieß sie nur noch „Die Stadt der Eiswölfe" oder „Stadt des Eises". Atasea war prunkvoll und stattlich gewesen, überall war sie als die Stadt der Freude bekannt gewesen. Es hatte jeden Tag von Händlern und fahrendem Volk auf den Straßen gewimmelt. Der Geruch von süßduftenden Blumen und frisch gebackenem Brot war durch die Gassen geströmt. Überall war gelacht und geredet worden, manchmal hatten auch einige Musikanten ein nettes Lied gespielt. Dann hatte Drago häufig mit so manchem hübschen Mädchen getanzt. Sehnsüchtig starrte der Junge in den grauen Himmel auf, der dunkel und unheilvoll über dem Land lag. Dragos Haut war schon sehr hell in den letzten Jahren geworden, denn die Sonne hatte sich seither in eine Kälte spendende blaue Kugel gewandelt, die das Land nur noch in unheimliches Licht zu tauchen vermochte. Von diesem Licht wuchsen keine Pflanzen, und die Haut färbte sich nicht dunkler. Drago hatte noch genau den Augenblick im Gedächtnis, als die Hüterin des Feuers gestorben war, gleichzeitig war Fulgor aufgetaucht. Der schrecklichste Mann den man sich vorstellen konnte. Äußerlich gutaussehend und muskulös, aber innerlich grausamer und schwärzer als das Gefieder eines Raben. Von diesem Moment an gab es kein herrliches Atasea mehr, nur nach Kälte und Eis. Denn Fulgor erstach den König, und setzte sich selbst auf den Thron, und nannte sich nun König Fulgor. Auch die Stadt hatte sich gewandelt, in den Pfützen war neben Wasser auch noch Blut, Musik war aus dem Land verbannt worden, und an Tanzen war nicht mehr zu denken. Das Schloss war nun nicht mehr ein großes einladendes Haus mit freundlichen Dienern, sondern eine Burg vollkommen aus Eis. Die schmuckvoll verzierten Intarsien hatten sich zu tödlich langen Spitzen gewandelt. Schnell hatte sich herausgestellt, dass König Fulgor der Hüter des Eises war, und er behandelte das Volk wie Sklaven. Hüter waren seine streng bewachten Gefangene, Wandler seine Krieger, Reiter seine Botschafter und Jäger. Handwerker und Bauern waren für ihn wie niedere Tiere, die ihm bis in den Tod gehorchen mussten. Frauen und Kinder mussten ebenso arbeiten. Kranke und Alte wurden getötet.

Drago stürmte auf die Torwache zu. Zwei hünenhafte Krieger bewachten mit langen Speeren den Eingang. Als sie Drago kommen sahen, machten sie sofort Platz, denn sie kannten den jungen Reiter. Wie ein Komet stürmte dieser an ihnen vorbei, er musste die Hüterin schnellstmöglich ins Schloss bringen. Luces Tatzen trommelten auf dem gepflasterten Weg wie Hagelkörner imSturm, als Drago seinen Wolf durch die Stadt hetzte. Viele Bauern konnten gerade noch so ausweichen, andere warfen sich in einer Panikreaktion auf den Boden, um außer Reichweite der Wolfskrallen zu gelangen. Gerne wäre Luce langsamer gelaufen, und der weiße Wolf wusste, dass sein Herrchen diese Leute niemals absichtlich verletzen wollte, aber hier ging es noch immer um Leben und Tod. Es dauerte keine neun Atemzüge, und Drago war angekommen. Gewandt sprang er aus dem Sattel und lief zur Eingangstür, die Bewusstlose sicher in seinen Armen. Die Torwachen reagierten nicht ganz so schnell wie die an der Mauer, aber auch sie ließen die Ankommenden ohne ein Wort passieren. Während Drago die Hüterin noch die Gänge entlangtrug, spürte er, dass sein Bein wie wild pochte. Er hatte noch keine Zeit gehabt es zu verbinden, aber immerhin war die Blutung zurückgegangen und eine dünne Schicht Schorf hatte sich an einer Stelle gebildet. Endlich konnte der Junge die große Fichtenholztür mit der Schulter aufstoßen und in den Krankenflügel gelangen. Es roch scharf nach Kräutern und bitteren Arzneien. Eine Frau mit strengem Gesicht kam auf Drago zu. Sie roch sehr streng nach irgendeinem Kraut, dass dem Jungen fast die Tränen kamen. Ohne ein Wort packte sie das Mädchen aus Dragos behutsamen Griff und schleifte es an einem Handgelenk zu einem freien Bett unter einem Fenster. „He!", der junge Reiter wollte sie aufhalten, durfte man so mit Kranken umgehen? Vermutlich wusste diese Heilerin überhaupt nicht wen sie da gerade auf ein Bett warf! „Geht das auch zärtlicher?" Drago hatte keine Lust das Mädchen jetzt zu verlieren, wo er es doch schon so weit geschafft hatte. Aber eigentlich wusste er dass es keinen Sinn hatte mit solchen Frauen zu reden. Sie waren hart und gefühllos, außerdem gehässig und ungehobelt. Ruckartig und völlig überraschend drehte sich die Hexe zu Drago um. Ihre Augen waren schwarz wie zwei Tintenkleckse, ihre Nase groß und wie ein Raubvogelschnabel geformt, und der Mund voller schwarzer Zähne. Ihr Haar hing wie weißliche Flechten an ihrem Kopf herunter, und als sie sprach, lief ihr eine grüne Flüssigkeit über das Kinn: „Denkst du etwa ich weiß nichtwas ich tue? Meinst du vielleicht du könntest das besser als ich, Jungchen?" Ihr Gesicht kam nahe an das des bleich gewordenen Reiters heran. Ihr Atem brannte noch fürchterlicher in der Nase als ihr Körpergeruch. Es war bestialisch, und er musste ein Würgen unterdrücken. Die schwarzen Kieselsteinaugen funkelten widerwärtig. Drago stolperte ein paar Schritte zurück, um sich nicht übergeben zu müssen. Da krallte sich auf einmal eine kalte Hand mit unnatürlich langen Fingern in seine Schulter. Sofort drehte sich derJunge um. Hinter ihm stand eine nicht weniger grausige Gestalt wie die vor ihm, und zerrte ihn in ein Bett nicht weit von dem des Mädchens entfernt. „Du bist verletzt, also hör auf dich gegen deine Genesung zu währen!", keifte sie, und drückte seinen Körper mit einer solchen Kraft in die Decken, die Drago ihr garnicht zugetraut hätte. Dabei beugte sie sich mit geöffnetem Mund über ihn als ob sie ihn gleich bei lebendigen Leibe verschlingen wollte. Aber es tropfte lediglich grüner Schleim aus ihrem Mund in sein Gesicht. Angeekelt wischte er es mit dem Ärmel seiner Jacke weg. Geifernd wandte sich die Kräuterfrau seinem Bein zu. Der Oberschenkel war fast ganz der Länge nach aufgeschlitzt worden, und um die Wunde herum klebte getrocknetes aber auch frisches Blut. Denn an manchen Stellen verheilte nichts, und blutete unaufhaltsam weiter. Plötzlich war Drago dankbar hier liegen zu dürfen, sich auszuruhen, und die verkrampften Muskeln zu entspannen. Über den buckligen Rücken der Hexe, die sich daran zu schaffen machte den Schnitt zu säubern, konnte der Junge das Hüter-Mädchen sehen, das ohnmächtig fast ihm gegenüber lag. Ihr Körper war nicht mehr so blau, aber mehr als eine alte Decke und Dragos Umhang wärmte sie nichtzusätzlich. Mehrere blaue Strähnen ihres Haares hingen ihr in das hübsche Gesicht. Da durchfuhr Dragos Bein ein unfassbarer Schmerz, und mit einem Schrei saß er senkrecht im Bett. Aber die Hexe beachtete ihn überhaupt nicht, fuhr nur weiter damit fort den langen Schnitt mit feinen kleinen Stichen zu nähen. Weder eine Betäubung noch sonst etwas linderte den Schmerz, keuchend fiel der Reiter zurück in die Kissen. Der zweite Nadelstich traf ihn genauso wie der Erste, ein weiterer Schrei brach aus ihm heraus, und er zuckte zusammen als wäre er vom Blitz getroffen. Erbarmungslos umklammerte die Heilerin sein Bein, und verzog ihr Gesicht zu einem nicht gerade freundlichen Grinsen. Nach dem siebten Stich fiel erschließlich in eine ruhige Ohnmacht.


Als Drago wieder zu sich kam, war es bereits mitten in der Nacht. Er setzte sich auf, und betastete den Verband um sein Bein. Er fühlte sich zerrissen und faserig an, aber die Wunde schmerzte nicht mehr so stark. Er sah sich um und versuchte etwas in seiner Umgebung auszumachen, aber es war nirgendwo Licht, und die Fensterläden waren wegen der Kälte sowieso immer geschlossen. Gerade überlegte er, ob er vielleicht zu dem Mädchen gehen sollte, da hörte er wie die Tür am Eingang geöffnet wurde. Schnell duckte er sich wieder. Aber das Licht einer Fackel oder einer Laterne blieb aus, stattdessen hörte er Krallen auf dem Boden. Wolfskrallen. Bestimmt sieben oder acht Tiere schlichen herein. Ihre massigen Pfoten kamen immer näher in seine Richtung, dann aber teilten sie sich auf, und schlichen um die Betten der zahlreichen Verwundeten im Raum. Drago wusste was das bedeutete, König Fulgor hatte seine Wölfe geschickt um „die Betten für wichtigere freizumachen". So nannte er es zumindest, wenn die Raubtiere jeden töteten dessen Verletzung ihn unbrauchbar für den Kampf oder seine tägliche Arbeit machte. Angespannt lauschte Drago auf die schnüffelnden Geräusche die die Wölfe bei ihrer Arbeit von sich gaben. Aber falls die Biester jemanden töteten, ließen sie sich nicht dabei erwischen, denn kein einziger Schrei war zu hören. Da kam auch eines der Tiere an das Bett des Reiters. Das massige Tier hatte goldrot schimmernde Augen, das war das einzige was man von ihm sehen konnte, aber Drago hatte die Wölfe schon häufiger gesehen. Wie Leibwachen und nicht wie Haustiere patroullierten sie im Schloss umher. Aber am schlimmsten waren Lobo und Loba:  Die beiden Silberwölfe waren die Anführer des Rudels, leicht an ihrem schimmernden silbernen Fell und den glänzenden schwarzen Augen zu erkennen. Die anderen Wölfe waren dunkelgrau oder bräunlich bis schwarz. Lobo war der größte von ihnen. Er ging Drago mit dem Rücken nicht bis zum Bauchnabel wie Luce, sondern bis zum Ohr, außerdem waren Luces Augen golden wie Sterne. Aber Lobo und Loba ließen sich nicht blicken, sie schickten vermutlich nur ihre unteren Wölfe für diese Arbeit. Voller Unbehagen versuchte Drago die feuchte Schnauze zu ignorieren, die über seine nackten Waden strich. Es hätte ihn nicht gewundert wenn der Wolf zugebissen hätte, einfach so ohne fassbaren Grund. Er war bei den Wölfen unbeliebt, vor allem weil er der Reiter von Luce war, dem einzigen weißen Wolf des Landes. Luce war unter den Wölfen wegen seiner Schnelligkeit und Flinkheit gefürchtet. Aber der große Hund biss nicht zu, er knurrte nur belustigt, wahrscheinlich weil er es witzig fand ihn hier aufzufinden. Bestürzt dachte Drago an das Hüter-Mädchen, war es noch immer ohnmächtig? Er lauschte auf die Geräusche der tödlichen Gruppe, aber bald schon schlief er ungewollt ein.


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