3. Kapitel
Adeline
Die drückende Stille wurde einzig und allein von dem Klappern des silbernen Bestecks und dem Hin- und Herlaufen der Diener unterbrochen. Mein Vater saß an der Stirnseite der langen Tafel und schaute auf den Platz, der ihm genau gegenüber lag. Dort hatte Mutter früher immer gesessen und Freude und Besinnlichkeit in diesem ungemütlichen Raum verbreitet. Zumindest war der Raum für mich ungemütlich und überhaupt nicht vertraut, so als würde ich jeden Morgen in einen anderen Speisesaal marschieren, der mir völlig fremd wäre.
Charles, der mir gegenüber und zur Rechten meines Vaters saß, räusperte sich und schlürfte von seiner Morgensuppe. Aber anscheinend wollte er nichts sagen, denn er blieb ruhig und konzentrierte sich auf seine lauwarme Gemüsesuppe.
Ich funkelte ihn böse an, obwohl ich wusste, dass er es nicht sehen konnte, und spielte mit den Trauben auf meinem Teller. Ich stützte das Kinn in eine Handfläche und sah an meinem Bruder vorbei aus den riesigen, bis zum Boden reichenden Fenstern. Draußen brach die Sonne sehnlich durch die dicken Wolkenschichten und warf in weiter Entfernung einige warme Sonnenstrahlen auf die Stadt. Vaters Stadt.
Ich seufzte, legte das Besteck beiseite und stand auf. Der Stuhl schabte über den blank polierten Boden und holte meinen Vater, den König, der seinem Reich, seinen Leuten gegenüber treu ergeben war, aus seiner Trance.
»Was tust du, Adeline?«, fragte er und sah zu mir auf. Seine Miene zeigte ein Stück Besorgnis und nach meiner Meinung war das auch berechtigt. Immerhin musste ich irgendeinen verkorksten, jämmerlichen Prinzen aus dem Süden heiraten. Ja, ich glaubte, da gab es allen Grund, wütend zu sein.
»Aufstehen, Vater.« Ich warf die Serviette neben meinen Teller. »Und mich dann in mein Gemach begeben.« Ich biss die Zähne aufeinander und sah meinen Vater, den König, eindringlich an.
Dann nickte er zögerlich und richtete die Aufmerksamkeit wieder auf seinen ersten Gang, den er kaum angerührt hatte. Ich sah ihn noch einen Moment ohne jegliche Regung an, bevor ich mich mit großen und wütenden Schritten aus dem Saal begab. Meine Füße trugen mich durch von der Sonne erleuchtete Flure, in denen mich Bedienstete höflich grüßten, bis hin zu der einen großen und ausgeschmückten Wendeltreppe, die zu den Gemächern führte. Die Stufen waren vertraut und so war ich binnen einiger Sekunden oben angekommen und marschierte ohne einen Rückblick in mein Zimmer. Nachdem die verzierte Tür zugeknallt war, blieb ich regungslos stehen, ballte die Hände zu Fäusten und versuchte meinen Atem zu regulieren. Nach einigen Momenten öffnete ich meine Augen wieder und musterte mein Zimmer. Alles so wie immer, sagte eine Stimme und ich seufzte. Meine Muskeln entspannten sich, bevor ich auf die Fensterbank zuging und mich dort fallen ließ. Ich strich den feinen Stoff meines Kleides glatt und lehnte meinen Kopf an die kühle Steinmauer. Mein Blick fiel auf den Wald hinter dem Fenster und beugte ich mich ein Stück vor, so konnte ich Teile der Stadt sehen.
Trauernd nahm ich den Blick von dem hellen Grün und blickte auf meinen Arm. Ich schob den Ärmel des Kleides bis zum Ellenbogen hoch und nahm mit der anderen Hand das Armband auf, das mir Ethan geschenkt hatte. Ich seufzte und musste schwer schlucken. Ich wollte keinen Prinzen heiraten. Ich wollte Ethan heiraten. Den Mann, der für mich da war, der mich wirklich liebte. Und nicht irgendeinen Trottel, der noch nicht einmal wusste, was eine Gabel war.
»Verflucht«, stieß ich hervor und drängte die Tränen zurück, die versuchten ihre Wege über meine Wangen zu finden. Ich sollte nicht weinen, denn ich war eine Prinzessin. Aber war es für uns verboten, Gefühle zu hegen? War es falsch?
Ich nahm den Blick abrupt von dem Armband und schob wütend den Stoff des Kleides zurück. Innerlich zerriss mich das alles und ich wollte nichts als raus aus meiner Haut, die mir jeden Moment drohte, mich zu ersticken. Meine Hände ballten sich wieder zu Fäusten, während ich versuchte an gar nichts zu denken. Ich, Adeline, Prinzessin, versuchte einfach alles auszublenden. Ich dachte nur an eine blühende Blume. Klein und zaghaft, so als könnte ihr jeden Moment etwas Schreckliches widerfahren. Ich dachte daran, wie sie im Wind wiegen und eifrig die Sonnenstrahlen aufsaugen würde. Wie sie wachsen und wachsen würde und sich irgendwann in ihrer vollen Blüte präsentieren könnte. Wie sie ...
»Ich hasse das.« Ich sprang auf und lief durch mein Gemach. »Ich hasse Vater und Charles, die nicht sehen wollen, wie mich diese Sache demütig. Wie sie mich fertigmacht und in die Knie zwingt. Ich hasse meinen Titel. Ich hasse mich dafür, Ethan so etwas anzutun.« Ich blieb stehen und starrte auf den Boden. Ruhig bleiben, sagte ich mir. Verzweiflung bringt dich auch nicht aus deiner Lage. Ich hörte auf das, was ich mir gerade eingeredet hatte, und atmete wieder in vollen und kräftigen Zügen. Mein Mund war trocken, weshalb ich zu meinem Tisch ging und ein Schluck Wasser nahm. Die Kälte, die mir den Rachen hinunter lief, tat gut und war angenehm. Es war wie ein kurzer Schlag in die Freiheit, bevor man gewaltsam zurückgerissen wurde.
Ich bedeckte mein Gesicht für einen Moment mit meinen Händen, drängte Wut und Frust zurück, bevor ich meinen Blick noch einmal nach draußen richtete. Plötzlich wurde ich von etwas geblendet. Es war kurz, nur ein Wimpernschlag beständig, aber dennoch wusste ich, was − wer − es war. Ich schnappte nach Luft, hielt sie einen Moment an und blies sie dann kräftig aus. In diesem Moment hatte mein Kopf die Oberhand, aber im nächsten, in dem ich wie eine Verrückte die Treppe hinuntersauste, übernahm mein Herz dies.
Meine Füße schwebten förmlich über die Stufen, so schnell rannte ich. Mein Kleid raschelte und ein Stück schleifte hinter mir die Treppe hinunter. Ich hatte Mühe langsam zu laufen, als ich in den belebten Flur lief. Denn würden mich die Bediensteten so sehen, würde das nur Aufmerksamkeit erregen. Und das konnte ich mir sichtlich sparen.
Als ich aus dem Seiteneingang ging, hatte mein Atem wieder seinen Rhythmus gefunden und meine Füße hatten sich an das langsame Tempo gewöhnt. Nur mein Grinsen konnte ich mir nicht ersparen, als ich in den frischen Frühlingsmorgen hinaustrat und sofort die wärmenden Strahlen der Sonne auf mir spürte.
»Ihr könnt hier bleiben«, befahl ich den Wachen, die schon Anstalten gemacht hatten, mir zu folgen.
Beide sahen sich verwundert an, nickten mir dann aber zu und konzentrierten sich daraufhin auf ihre Aufgaben.
Ich drehte mich mit einem Nicken um und schritt durch den freundlichen und gepflegten Garten. Gärtner tummelten sich hier wie wilde Bienen und zupften Unkraut oder schnitten die noch schwächlichen Hecken. Alle sahen zu mir auf, verbeugten sich leicht und kümmerten sich dann wieder um ihre Aufgaben. Die Wachen, die am Seitentor standen, öffneten mir dies ohne eine Nachfrage und ließen mich in den ansässigen Wald gehen. Hätte mein Vater das jetzt gesehen, hätte er die Wachen für diese Rücksichtslosigkeit bestraft, aber ich hatte ihnen weisgemacht, dass ich schon alt genug sei, um auf mich allein aufpassen zu können. Und außerdem trieb sich niemand in der Nähe des königlichen Waldes herum, der zusätzlich auch noch einmal durch einige Wachen in weiter Entfernung gesichert war. Zudem würde mich, wenn ich in diesem Wald wäre, niemand angreifen, denn jedem in unserem Reich ging es gut. Und es wäre idiotisch sich in den Wald zu schleichen und zu hoffen, dass man jemand Hochrangiges etwas antun könnte.
Sofort schlug ich die Gedanken beiseite und steuerte auf die Stelle zu, die ich mit Ethan damals vereinbart hatte und von der aus auch das reflektierte Licht gekommen war. Meine Schritte wurden immer schneller, immer größer, bevor ich den riesigen Felsen sah, der wie ein steinernes Schiff aus dem Boden ragte. Mir lief ein warmer Schauer über den Rücken, als ich noch näher trat und die Umgebung musterte. Aber nirgendswo sah ich ihn. Es machte mich stutzig. Ich war verwirrt.
Ethan
Es zauberte mir ein unwiderrufliches Grinsen ins Gesicht, als ich Adeline sah, die sich verwundert umsah und um den Fels spähte. Von hier oben, auf einem großen Baum, konnte ich sie prima sehen und jeden ihrer Gesichtsausdrücke deuten. Irgendwie war es niedlich mit anzusehen, wie sie nach mir suchte, obwohl ich hier ganz in der Nähe war. Dennoch graute es mir vor dem, was ich tun würde. Ich wusste nicht, wie sie reagieren würde, wie sie mich dann sehen würde, aber ich sah nur diese eine Möglichkeit. Ich musste ihr offenbaren, wer − was − ich war.
»Ethan?«, fragte sie verwundert und schaute in den tiefen Wald. Ihr blondes Haar war weiter unten gelockt und fiel ihr wie Seide über die zaghaften Schultern. Ihre Stupsnase unterstrich die feinen Sommersprossen und passte sich den grauen Augen an, die einen unverzüglich in den Bann zogen. »Das ... das ist nicht witzig.«
»Findest du?«, fragte ich und konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen. Ich stützte die Ellenbogen auf die Knie und beugte mich vor.
Meine Prinzessin drehte sich wie wild und blickte in alle Richtungen. Dann verwandelte sich ihr Gesichtsausdruck von Verwunderung in leichten Frust − ganz meine Adeline. »Echt, Ethan, das ist nicht witzig. Wo bist du?«
»Hier.« Mein Grinsen wurde breiter und die Angst vor der Lüftung meines Geheimnisses verschwand fast. Fast.
Diesmal folgte sie meiner Stimme und blickte nach oben, ehe sie mich erkannte. Ihre Züge wurden mit einem Mal weicher und die Augen, die sie zu Schlitzen geformt hatte, wurden rund und wunderschön wie immer.
Ich lächelte und drehte mich um, damit ich den Stamm hinunterklettern konnte. Ich hätte auch einfach hinunterspringen können, aber das wäre schon die erste Sache gewesen, die nicht menschlich war. Und erst einmal wollte ich menschlich sein. Als ich nach einigen Momenten auf dem von Moos bedeckten Waldboden stand, schlang sie auch schon ihre weichen Arme um mich und zog mich an sich. Ich konnte mir ein wohliges Lächeln nicht verkneifen, obwohl mich die Tatsache, dass sie nicht zu mir gehörte, gleich wieder einholte und mich weiter in den tiefen Abgrund zog.
Ich zog sie fest an mich und strich ihr durch die weichen Haare. Adeline legte wie so oft ihren zarten Kopf an meine Brust und lauschte meinem Herzschlag. Sie atmete tief durch, so als hätte die Zeit, in der wir uns nicht gesehen hatten, ihr mental geschadet. Und vielleicht war das auch so. Vielleicht machte sie das alles fertig und das konnte ich gut nachvollziehen. Ich an ihrer Stelle würde mich auch nicht so einfach zu einer Ehe mit einem völlig fremden Prinzen zwingen lassen, der vielleicht noch nicht einmal etwas für mich übrig hätte.
»Ich habe dich so vermisst«, sagte sie und drückte sich näher an mich. »Ich will das nicht, Ethan. Ich will keinen Prinzen heiraten. Der Einzige, der daraus Potenzial zieht, ist mein Vater. Vielleicht können wir ja ...« Sie sprach nicht weiter, aber ich wusste, was sie sagen wollte.
Ich küsste sie auf die Schläfe und meinte nach kurzer Nachdenkzeit: »Nein, Adeline, das können wir nicht machen. Auch wenn ich noch so möchte, können wir nicht einfach weglaufen. Alle würden dich suchen und wir hätten keine gewisse Zukunft. Und wenn sie uns finden würden ...« Ich atmete tief durch. »Das können wir nicht machen.«
Adeline nahm ihren Kopf von meiner Brust und sah mich an. Dabei strich ihr Atem ganz sanft über meine Wange. Sie senkte den Kopf und nickte wissend. »Ich weiß«, sagte sie dann. »Ich hatte nur gedacht ...« Sie schluchzte und ich drückte sie wieder an mich.
Es gab jetzt nur einen Weg und es lag an mir, ihr das richtig beizubringen. Es musste klappen. Ich musste sie überzeugen. Denn wenn nicht ... Ich schüttelte den Kopf. Ich wollte darüber nicht nachdenken, ich musste es einfach durchziehen. So wie ich es Jacon gesagt hatte. Ich würde sie von mir überzeugen.
Ich nahm meine Hände von ihren Hüften und gab sie somit frei. Sie löste sich mit gesenktem Kopf von mir und schluckte stark. Augenblicklich wollte ich sie wieder zu mir ziehen, ihre Nähe spüren, aber es ging jetzt nicht. Ich musste ihr sagen, was ich eigentlich war. »Lass uns ein Stück laufen«, meinte ich und hielt ihr den Arm hin.
Sie sah auf und ein knappes Lächeln bildete sich um ihre vollen Lippen, die ich am liebsten bis in die Unendlichkeit geküsst hätte. Adeline nahm meinen Arm mit einem zufriedenen Nicken an und ging mit mir tiefer in den Wald.
Mein Puls raste und in meiner Magengegend kribbelte es gewaltig, weil ich mir bewusst wurde, dass ich dem Punkt, der entscheidend war, immer näher kam. Als ich merkte, dass meine rechte Hand anfing zu zittern, vergrub ich sie in der Hosentasche. Ich wollte auf keinen Fall riskieren, dass Adeline das sah. Ich wusste, dass es ihr nicht leicht fallen würde, das Ganze zu verdauen, aber ich hoffte dennoch, dass sie es gelassener nehmen würde, als ich es mir erhoffte.
Ich seufzte. »Wann ... wann musst du dich entscheiden?« Ich blickte sie an, aber sie erwiderte meinen Blick nicht.
»Ich muss mich gar nicht entscheiden, Ethan. Das Einzige, was ich machen kann, ist mit Vater diskutieren, wer besser wäre oder wer nicht. Ich bin mir nicht sicher«, sie blickte mich an, »aber ich glaube, es wird noch diese Woche entschieden. Und dann«, sie senkte den Blick wieder, »werden es nur einige Tage, vielleicht auch ein bis zwei Wochen sein, bis ich verheiratet sein werde.« Adeline seufzte, während sie im Laufen näher an mich trat. »Es kommt alles mit einem Schlag, Ethan. Und ich weiß, dass ich das muss. Ich bin es meinem Vater, meinem Reich, schuldig. Das weiß ich, aber ich kann doch nicht einfach zusehen, wie mein Leben dahinrinnt, oder?« Tränen blitzten in ihren Augen auf, als sie stehen blieb und mich verzweifelt ansah.
Ich schüttelte den Kopf und umfasste sanft ihre Wangen, bevor ich meine Lippen auf ihre senkte. Sie schluchzte, aber gab sich den Kuss hin, so als wäre das der Abschied. Und vielleicht war er das. Der Abschied, von einem Ethan, den sie gekannt hatte und der sich ihr jetzt in einem anderen Licht zeigen würde. »Nein«, sagte ich und legte meine Stirn an ihre.
Sie nickte und schloss die Augen, genoss den Moment, in dem sich unser Atem zu einem vermischte. Adeline genoss die Nähe, meine Nähe, und trauerte. Und wenn ich ehrlich sein sollte, konnte ich ihr das nicht verdenken.
Dann ließ ich sie los. Meine Finger glitten langsam von ihrer Wange und in mir zog es sich zusammen, als ich ihre Wärme nicht mehr spüren konnte. In meinen Augen bildeten sich Tränen und ich hatte Mühe sie zurückzuhalten, wenn sie mich so traurig, so verletzt und verlassen ansah. Es tat mir in der Seele weh, sie so zu sehen. Es tat einfach nur unheimlich weh.
Als ich einige Schritte zurückgegangen war, blickte ich auf meine Schuhe und dann wieder auf Adeline, die mit leidendem Ausdruck dort stand und sich nicht gerührt hatte. Sie dachte, es wäre ein Abschied und, ja, in gewisser Weise war er das. Ich blickte nach oben, sah die Blätterdächer, die im leichten Frühlingswind wiegten und die Sonne ab und zu durchdringen ließen. Ich atmete einmal tief durch, sog so viel frische Frühlingsluft ein, wie meine Lungen es nur aufnehmen konnten. Ich schluckte einmal stark und schloss dann blinzelnd meine Augen. Das Licht nahm ab und vertrauliche Dunkelheit machte sich in mir breit.
Sofort heulte mein Wolf, bäumte sich auf und wollte aus mir hinaus. Er schoss mir durch meine Adern, brachte mein Blut zum Kochen und riss mich Stück für Stück an die Oberfläche. In meinem Kopf knurrte es einmal leise, dann lauter und die Luft um mich schien warm zu werden. Meine Lungen nahmen immer noch den nährstoffreichen Sauerstoff auf, während das Tier von mir Besitz ergriff. Im nächsten Moment schlugen sich meine Augen auf und kurz blitzte etwas leuchtend Helles vor meinem Auge auf, bevor ich den Boden unter den Füßen verlor, sprang und im nächsten Moment auf dem vertrauten Waldboden stand.
Ich schnaufte und die vier Läufe gruben sich in die weiche Erde. In meinem Körper rief immer noch alles nach meinem Wolf, obwohl ich das schon längst war. Schwarzes Fell bedeckte meinen Körper und ich ragte Adeline über die Schulter. In diesem Moment hörte ich nichts. Ich vernahm weder das Rascheln im Unterholz noch die Vögel, die unterschiedlichen Düfte oder die Rufe meines Wolfes, der mich dazu drängen wollte wegzulaufen, den Boden unter den Pfoten zu spüren, während der Wind durch mein Fell strich. Ich war nur auf den Menschen vor mir bedacht. Klein und zerbrechlich.
Sie senkte die Hand, die zuvor auf ihrem Dekolleté geruht hatte, ganz langsam und starrte mich mit riesigen Augen an. Es war, als wäre sie in einer Tranche. Ich sah, wie ihr Brustkorb sich nicht hob und senkte. Adeline stand wie eine Statue einige Meter von mir entfernt und starrte mir jetzt in die Augen. Und ich wusste, dass sie meine menschlichen Augen mit denen meines Wolfes in Verbindung brachte. Denn diese Stücke Gelb, die sie immer so poetisch umschrieben hatte, waren jetzt zu einer gelben Iris geworden und bedeckten den Rest Braun, das mein menschliches Auge gekennzeichnet hatte.
Es war, als stünde die Zeit still. Ich merkte keinen einzigen der Natureinflüsse. Ich sah nur Adeline genau vor mir. Wie ihr Haar von dem unberechenbaren Wind angehoben wurde und ihre Augen die Fassungslosigkeit, die Bestürzung, die Angst widerspiegelten.
In mir zog sich das Herz zusammen. Ich wollte sie nicht so verängstigt und aufgelöst sehen, aber ich hatte so entschieden. Und nun gab es schlussendlich kein Zurück mehr.
Ich legte den Kopf schief und stieß Luft aus meiner Nase aus. Eine Böe hob ihr Haar erneuert an und brachte sie aus ihrer Trance. Adeline blinzelte einige Male, Tränen rannen über ihre Wangen, bevor sie Luft einzog, sie anhielt und dann auf den Absatz kehrt machte und weg rannte.
Adeline
Oh. Mein. Gott. Er ist ein Werwolf. Der Werwolf! Dieses Monster aus der Nacht. Und ich habe ihn ... geliebt.
Mein Gehirn hatte das alles extrem langsam verarbeitet, aber nun sagte es mir nur eins: renne! Renne um dein Leben! Und genau das tat ich: Ich rannte. Ich hielt mein Kleid ein Stück hoch, damit ich nicht über den Stoff stolperte, und rannte durch den riesigen Wald. Kleine Schlingpflanzen hingen sich in dem Soff fest, aber ich rannte einfach weiter. Ich konnte nicht mehr aufhören zu rennen. Es war ein Drang, den ich nicht unterdrücken konnte. In meinen Ohren brummte es und ich hörte nur meinen ungleichmäßigen Atem. Selbst das Knacken von irgendwelchen Stöckern hörte ich nicht. Nein, ich hörte nur mein Atem.
Ich rannte immer noch, hielt nicht an, und langsam versuchte mein Gehirn, alles noch einmal durchzugehen und zu verarbeiten. Er war ein Werwolf. Und gleichzeitig auch ein Mensch. Er ... er konnte sich auch am Tag verwandeln. Oh Gott, Ethan war der Werwolf. Und ich hatte Ethan geliebt, ihn für einen Menschen, ein Wesen aus Blut und Fleisch und nicht aus Fell gehalten. Ich hatte einen Werwolf geliebt!
Plötzlich spürte ich einen Stich in der Seite, als ich mich von meinen Gedanken frei gebunden hatte, und blieb abrupt stehen. Ich röchelte, versuchte meine Lunge mit Sauerstoff zu füllen, obwohl ich das Gefühl hatte, jemand würde mir meine Kehle zuschnüren. Es war brutal. All das war so brutal, dass ich mich fast auf den Boden geschmissen und den halben Wald zusammengeschrien hätte. Aber ich konnte nichts sagen, nicht schreien. Meine Lippen waren wie zugeschnürt und ich brachte kein einziges Wort zustande.
Meine Augen wurden noch ein Stück größer, als ich etwas hinter mir wahrnahm. Es war kurz, nur einen Wimpernschlag beständig, aber ich hörte es, spürte es. Es war nah, greifbar, und es machte mir höllisch Angst. Flach atmend schluckte ich und drehte mich ein Stück zur Seite. Als ich etwas Schwarzes im Augenwinkel sah, starrte ich auf den Boden, dachte einen vielsagenden Augenblick nach, bevor ich wieder losstürmte.
Meine Füße trugen mich wie zuvor, aber sie fühlten sich schwer an, als hätte jemand Gewichte daran gehängt. Dennoch waren meine Schritte größer und ich war schneller als zuvor. Ich wich den ganzen Bäumen aus, ehe ich vor mir den Stein sah, der immer unser Treffpunkt gewesen war. Der Treffpunkt mit einem Monster, einem Werwolf. Ich rannte schneller, da ich wusste, dass es nicht mehr weit bis zu den Palastmauern sein würde. Ich wusste, dass ich dort in Sicherheit wäre.
Ich sah etwas Schwarzes in meinem linken Augenwinkel und schrak zusammen. Trotz dessen konnte ich meine Füße nicht dazu bewegen anzuhalten und ich war mir auch gar nicht sicher, ob ich das wollte. Meine Augen hatten ihr Ziel direkt vor sich, aber auf einmal kam ich doch abrupt zum Stehen. Ich wusste nicht, wie das geschehen war, bis mein Gehirn verarbeitet hatte, dass genau vor mir eine Person, ein Mensch stand. Ethan.
Ich konnte ihn kaum ansehen. Es zerbrach mein Herz noch mal und noch mal in tausend Teile und ich fragte mich, was er ... dieses ... sich dabei gedacht hatte. Schließlich richtete ich meinen Blick doch auf ihn.
Er stand da, einige Schritte hinter dem Felsen und sah mich an. Sein Hemd trug er nicht mehr. Sein ganzer Oberkörper war frei und bedeckt mit Muskeln. An einigen Stellen sah ich auch Narben aufblitzen, jedoch lag mein Blick fast nur in seinen Augen, die jetzt wieder bräunlich schimmerten und diese gelben Splitter trugen.
Ich schluckte stark, mein Mund war trocken und mein Rachen brannte, als hätte ich glühende Kohlen heruntergeschluckt. In meinen Ohren hörte ich ein nerviges Piepen und langsam fand mein Atem seinen Takt.
Er machte einen Schritt auf mich zu und ich zuckte zusammen. Ethan ... streckte seine Hand aus, ließ sie aber wieder sinken. Ich sah die Verletzlichkeit in seinen Augen, aber er war hier das Tier, das Monster. Hätte ich nicht verletzt und am Boden zerstört sein müssen?
»Adeline«, sagte er bittend und sah mich flehend an.
Ich konnte nur einen weiteren Schritt zurückweichen und ihn einfach nur anstarren. Es war, als bräche meine Welt ein weiteres Mal zusammen. Ich hatte ein Tier geliebt. »Nenn ... nenn mich nicht so«, brachte ich hervor. Ich senkte den Blick, aber noch so, dass ich ihn sehen konnte.
»Ich ...«
»Nein!«, schrie ich und ballte die Hände zu Fäusten. Nach der Verzweiflung, der Angst und der Trauer folgten jetzt Wut und Frust.
»Nenn mich nicht beim Namen. Du bist Tier, ein Monster. Du hast ... Verschwinde einfach!«
»Adeline ...«
Ich trat einen Schritt vor und schrie: »Nicht! Nenn mich nicht so! Lass mich. Verschwinde einfach! Ich will dich nicht sehen. Du bist ein Monster.« Ich schloss einmal die Augen und öffnete sie dann. »Ich hasse dich«, knurrte ich und meine Kiefer schmerzten, weil ich die Zähne aufeinanderbiss.
Er war ein paar Schritte zurückgetreten und sah mich verletzt, fassungslos und fast leidig an. Aber mein Mitleid hatte er nicht verdient. Er war das Monster, das Tier, und nicht ich. Er war es. Er hatte sich das alles selbst zuzuschreiben.
Der Mensch, der ein wenig entfernt von mir stand, senkte den Kopf und trat dann mit hängenden Schultern aus meinem Sichtfeld.
Einen Moment später war alles anders, als es einst gewesen war.
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