Die Bestie in den Wölfen - 1

Wütend stampfte ich auf das Zimmer meines Vaters zu. Nachdem ich die gesamte Nacht aufgrund meiner schmerzenden Schulter kaum ein Auge zugetan hatte, hatte mich ein Junge früh am Morgen geweckt. Mein Vater ließ sich dazu herab, mich zu sich zu beordern, wie damals wenn ich als Kind Essen aus der Küche geklaut oder irgendein ein anderes Vergehen ausgefressen hatte. Laut wollte ich es nicht zu geben, doch neben dem Gefühl von Zorn, war ich auch ein bisschen beunruhigt. Aus welchem Grund sollte mein Vater es für nötig halten, mich wieder wie ein kleines ungezogenes Kind zu behandeln? Vielleicht lag es an meiner Verletzung, dachte ich bei mir, während ich an die Holztür klopfte.

Keinen Moment später hörte ich einen Stuhl über den Boden scharren. Schwere Schritte polterten zur Tür und rissen sie praktisch aus den Angeln. Alle frechen Bemerkungen, die mir zuvor auf den Lippen gelegen hatten, verpufften, als ich in das zornige Gesicht meines Vaters blickte. „Nun, Tochter, komm doch herein und leiste mir Gesellschaft." Seine Stimme triefte vor Sarkasmus. Wo war seine gute Laune von gestern hin? Anderseits hatte mein Vater gestern auch dem seltenen Genuss von Alkohol gefrönt, der ihn immer ein bisschen lockerer und fröhlicher machte, als es vielleicht gut war.

„Was ist denn passiert?", fragte ich mit eindeutig zu dünner Stimme nach, sobald die Türe sich hinter mir geschlossen hatte. Ich hatte ein ganz furchtbares Gefühl in dieser Angelegenheit.

„Nun, ich hatte gehofft, dass du mir das erklären kannst, Tochter!", rief mein Vater mit donnernder Stimme.

Ich zuckte leicht zurück. Wenn mein Vater das „Tochter" am Ende des Satzes so betonte, dann war er furchtbar wütend. Verzweifelt zermarterte ich mir mein Gehirn, was ich angestellt hatte. Lag es daran, dass ich gestern so bald aus dem Saal gerauscht war und nicht mitgefeiert hatte? Nein, das war eher unwahrscheinlich, immerhin war ich gerade erst wieder zu mir gekommen. Es glich eher einem Wunder meiner Starrköpfigkeit, dass ich überhaupt so früh wieder auf den Beinen stand. Woran konnte sein Zorn aber dann liegen? Ich dachte angestrengt nach. Alles, was vor dem Zusammentreffen mit den zwei Jungwölfen geschehen war, schien auf einmal vor einer Ewigkeit passiert zu sein. Hatte ich vielleicht das Frischwasser aus dem Bach nicht geholt? Ich konnte mich zumindest nicht mehr daran erinnern. Vielleicht hatte ich auch irgendeine Aufgabe komplett vergessen?

„Man kann deine grauen Gehirnzellen ja praktisch rattern hören. Wann haben die denn einen solchen Rost angesetzt? Ich dachte immer meine Tochter hätte einen schnellen Verstand und doch hat sie einen Welpen entkommen lassen!", fuhr mich mein Vater vollkommen aufgebracht an.

Darum ging es also. Er war sauer, dass ich gezögerte hatte zu schießen. Das konnte ich natürlich nachvollziehen. Durch die gesamte Welpen-Hilf-Aktion danach, hatte ich diesen großen Fehler ganz vergessen. „Es wird nie wieder vorkommen", setzte ich an, doch ich wurde zu meiner Überraschung sofort unterbrochen: „Es wird nie wieder vorkommen? Ist das dein Ernst? Du hast uns alle verraten! Deine Antwort ist wirklich: „Es wird nie wieder vorkommen?"

Nun blinzelte ich doch einmal leicht verwirrt. Was war denn heute mit meinem Vater los? Ich musterte sein ergrautes Haar. Verlangte etwa mittlerweile das Alter seinen Tribut? Aufmerksam betrachtete ich die scharfen Augen meines Vaters, doch aus ihnen sprachen mir nur der Zorn, die Trauer und die Enttäuschung entgegen. Ich konnte nicht einen blassen Schimmer von dem Nebel aus Verwirrung oder Angst erkennen, den alte Leute ab und an in ihrem Blick hatten. Also hob ich nun ebenfalls meine Stimme und fragte ebenso zornig: „Ich soll euch verraten haben? Ich habe seit Jahren mit allen Menschen hier Seite an Seite um das Überleben gekämpft! Wer hat den Anführer der Wölfe zur Strecke gebracht, der nun unten in einem der Käfige eingesperrt ist? Das war ich! Also hör auf, mir solche Vorwürfe zu machen, bloß weil ich zum ersten Mal eine Fehlentscheidung gemacht habe und nicht sofort losgeschossen habe! Dante hat den Wolf immerhin erwischt!"

„Als ob ich davon rede, dass du einmal gezögert hast, dass kann selbst dem Besten passieren. Nein, davon spreche ich nicht. Streng doch einmal dein Erbsenhirn an und zeig ein bisschen von dem scharfen Verstand, den du sonst besitzt!", rief mein Vater empört aus. Gleichzeitig schlich sich nun der müde Unterton von Erschöpfung ein.

Ich schluckte und dachte darüber nach, was er denn dann meinen könnte. Mir fiel nur eine Lösung für sein Verhalten ein. Ein eiskalter Schauer lief mir über meinen Rücken. Was war, wenn er davon wusste? Was war, wenn er wusste, dass ich dem Welpen zur Flucht geholfen hatte? Aber wie konnte das sein? Niemand hatte etwas geahnt! War irgendjemand nach der Schlacht noch einmal zu dem Tatort gelaufen und hatte die Überreste des Welpen inspiziert? Doch was für ein Mensch würde etwas Derartiges tun?

„Na, langsam scheint der Groschen zu fallen", erwiderte mein Vater mit einem tiefen Seufzen. Er ging um den Schreibtisch, der in der Mitte des Raumes stand, herum, setzte sich und bot mir den Stuhl auf der anderen Seite an. „Was ist dort draußen passiert? Ich möchte es aus deinem Mund hören und dieses Mal wirst du mich nicht anlügen."

Ich zögerte. Was sollte ich nun tun? Ihm die Wahrheit erzählen? Sollte ich behaupten, dass sich der Welpe davon geschlichen hatte und ich aus Wut das andere Tier derartig massakriert hatte? Das würde er mir doch niemals glauben. Mein Vater hatte mir selbst beigebracht immer und überall wachsam zu bleiben. Also seufzte auch ich und begann langsam meine Karten auf dem Tisch auszubreiten.

Als ich mit meiner Erzählung endete, schüttelte mein Vater verzweifelt den Kopf. „Ach Serina, was soll ich nur mit dir machen?" Eine kleine Träne rann über die linke Wange meines Vaters und mein Herz drohte in meiner Brust zu zerspringen. Was hatte ich mir da draußen im Wald nur gedacht, als ich dem Welpen geholfen hatte? Wieso war mir nicht einmal der Gedanke gekommen, wie sehr ich mit meiner Handlung meinen Vater verletzen würde?

„Es tut mir so leid", brachte ich mit brüchiger Stimme hervor. In diesem Moment verachtete ich mich selbst. Liebend gerne hätte ich jede Strafe auf mich genommen, denn ich hätte sie verdient, doch mein Vater blieb stumm. Eine lange Zeit schwiegen wir uns betroffen an. Irgendwann hielt ich den Druck nicht mehr aus. Kleine Tränchen kullerten nun auch in einem stetigen Fluss aus meinen Augen. „Ich habe es einfach nicht gekonnt", schluchzte ich leise. „Das dort draußen waren Kinder. Du weißt so gut wie ich, dass diese Wesen nicht nur Monster sind. Sie haben auch eine menschliche Seite. Diese kleinen Wölfe waren noch vollkommen unschuldig. Du kannst doch nicht von mir verlangen, wehrlose Kinder zu ermorden."

Mein Vater seufzte schwer auf. Einen Moment blickte er tief in meine Augen, doch dann wandte er seinen Blick ab, so als sei es für ihn zu schmerzlich, mein Gesicht zu betrachten. „Ich hätte daran denken sollen", flüsterte er schließlich mit rauer Stimme.

„An was?", fragte ich vorsichtig nach.

„An diesen Teil von dir. In so vieler Hinsicht erinnerst du mich äußerlich an deine Mutter, doch dein Charakter ist so wild und unzerstörbar wie meiner. Hat dein Herz jemals einen Entschluss gefasst, hältst du an ihm bis zum bitteren Ende fest. Du bist durch großes Leid mit mir gegangen, doch der Hass hat sich bei dir nicht so tief in den Geist hinein gefressen. Ja, du bist eine geborene Jägerin, aber diese Seite von dir erinnert mich an die Zeit, als du noch ein unbekümmertes Kleinkind warst", die Stimme meines Vaters brach ab.

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