~ 19 ~

Dunkelheit umfing mich. Ich wusste nicht, wo ich mich befand, doch es war eisig kalt. Der Schnee unter meinen Füßen ließ mich keuchen. Ich stand allein in einem Wald und Schneeflocken tanzten vereinzelt vom Himmel.

Ich befand mich weder in der Vergangenheit noch in der Gegenwart. Es musste die Zukunft sein. Doch außer dem Schnee um mich herum, die vielen Bäume und die Dunkelheit der Nacht, konnte ich nicht viel erkennen. Als ich gen den Himmel blickte, war gerade einmal zunehmender Mond, also hatte es auch nichts mit dem Wolf meines Gemahls zu tun.

Das Rascheln eines Gebüschs riss mich aus meinen Gedanken. Ich musste zweimal hingucken, bis ich merkte, dass ich das war. Wie konnte ich hier stehen und mich selbst sehen? Doch was mich viel mehr verschreckte, war mein kurzes Haar. Hatte ich keine Familie mehr? Ich griff mir verängstigt an den Mund, um nicht aufzuschluchzen. Was war mit meinen Haaren passiert?

„Serafina, Erlinda. Ich bin da.“

Ich kam meinem zukünftigen Ich etwas näher und betrachtete sie genauer. Ihre Augen leuchteten, als sei sie glücklich. Doch wie konnte das sein? Wie konnte ich ohne langes Haar glücklich sein? Würde ich es mir selbst abschneiden oder würde es jemand anders tun? Würde ich kein Zuhause mehr haben? So viele Gedanken schwebten mir durch den Kopf, doch die große Angst, allein zu sein, blieb.

Der Schnee knirschte und wir bekamen Besuch. Vermutlich von diesen beiden Damen, von denen mein zukünftiges Ich gesprochen hatte. Doch sie bewegten sich sehr schnell, vielleicht ritten sie auf Pferden. Doch Pferde hörten sich anders an, viel sanfter und vor allem nicht so schnell. Obwohl, auch Pferde konnten schnell sein, nur nicht inmitten von so vielen Bäumen.

Dann sah ich sie. Mir klappte der Mund auf und ich wich hastig ein paar Schritte zurück. Mir war beinahe ein Schrei entkommen, doch meine Hand hatte es rechtzeitig auf meine Lippen geschafft und den Schrei erstickt. Das was ich vor mir sah, konnte unmöglich meine Zukunft sein. Wer waren diese Wesen? Und war das wirklich ich? Denn ich schien diese Wesen zu mögen, ging auf sie zu und streichelte ihnen über ihren ausgefransten Kopf.

Sie stanken nach Verwesung und dem Tod. Ihre Augen waren blutrot und ihre Zähne spitz. Mühelos würden sie einen Menschen in zwei Teile reißen können. Sie hatten die Größe einer Kuh, hatten viele Muskeln und sahen stark aus. Vor allem aber mächtig. Wer würde sich schon mit diesen Wesen anlegen wollen? Man konnte gegen sie nur verlieren.

„Ich habe Neuigkeiten.“ Mein zukünftiges Ich lächelte und griff an ihren Bauch. „Robin und ich, wir bekommen Nachwuchs.“ Nun verschluckte ich mich vollends. Ich hustete und hätte diese Vision am liebsten nie gesehen. Nicht, weil ich nicht erfreut darüber war, sondern weil ich all das eigentlich nie herausfinden hätte wollen. Ich wollte nicht wissen, wann ich ein Kind bekam. Ich wollte nicht wissen, dass ich kurzes Haar trug. Ich wollte nicht wissen, dass ich mit Wesen sprach, die aussahen wie Seelenstehler – die aussahen wie eine uralte Legende. Doch inmitten all dem, war ich auch irgendwie erleichtert, dass Robin noch immer an meiner Seite war.

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„Olivia, seid Ihr in Ordnung?“ Als ich die Augen aufschlug, war der Pilzbär weg und Robin hielt mich in seinen Armen. Er hatte mir seinen Mantel erneut umgeschlungen und betrachtete mich besorgt. „Olivia, was habt Ihr gesehen? Ihr habt gezittert wie Espenlaub, schon seit Beginn der Vision.“

„Es war furchtbar kalt“, meinte ich abwesend. Denn gedanklich stand ich noch immer dort im Schnee und betrachtete die Szene vor mir. Wie war all das möglich?

„Geht es Euch gut?“ Ich ignorierte Robins Frage und starrte auf den Teich. Er sah so beruhigend aus, als könnte ihn nichts aus der Ruhe bringen, nicht einmal ein Sturm. Das Wasser plätscherte nicht, sondern strahlte schlicht und einfach Frieden aus.

„Olivia.“ Nun schüttelte er mich sacht an der Schulter – so lange, bis ich ihn ansah. „Olivia, was habt Ihr gesehen. Ihr seht verstört aus.“

„Vielleicht bin ich das auch“, antwortete ich leise. „Was habt Ihr denn stets gesehen?“ Möglich, dass er etwas Ähnliches wie ich sehen konnte und deswegen nie darüber reden wollte.

„Ich kann nicht.“ Betreten schaute er zu Boden. „Ich kann es Euch nicht sagen.“

„Ich kann es Euch auch nicht erzählen“, meinte ich schließlich und schaute in die Ferne. Dort sah ich Goldie und Feuerherz, wie sie sich die besten Grasbüschel suchten und genüsslich speisten. Nach dem langen Ritt hatten sie dies definitiv verdient.

„Sagt mir nur, war es die Vergangenheit?“

Müde schüttelte ich den Kopf. „Die Zukunft. Obwohl ich mir nicht sicher bin, ob das tatsächlich ich gewesen bin. Seid Ihr sicher, dass die Pilzbären einem immer die eigene Zukunft zeigen?“

Robin nickte. „Sie blicken in Eure Seele und Ihr blickt in deren Seele. Sie können Euch nur Eure eigene Zukunft gezeigt haben, etwas anderes ist nicht möglich.“

„Können wir nach Hause reiten?“

Robin nickte abermals, zog den Mantel um mich herum fester zu und half mir schließlich vom Boden auf. Schweigend gingen wir zu unseren Pferden zurück und trabten sofort los. Vielleicht konnte der Wind die Sorgen und Ängste vertreiben. Ich hätte es niemals für denkbar gehalten, doch ich fürchtete mich davor, keine Familie mehr zu haben und allein zu sein. Hätte mein zukünftiges Ich nicht von einem bevorstehenden Kind mit Robin gesprochen, dann wäre ich wohl aus Sorge zusammengebrochen. Noch dazu, da sie mit Seelenstehlern gesprochen hatte. Ich war mir schon fast sicher, dass es solche gewesen sein mussten. Ich kannte deren Geschichten nur allzu gut und ich hatte viele Bücher über sie gelesen – über die Schlachten der dunklen Hexen und wie die Magier und Heilhexen sie besiegt hatten. Doch das alles war Irrsinn. Ich war keine dunkle Hexe, niemals. Ich wusste weder, was Magie war, noch war meine Mutter eine Hexe oder mein Vater ein Magier. Was auch immer mir dieser kleine Bär gezeigt hatte, es war nicht die Wahrheit.

Wir waren in einen langsamen Schritt umgestiegen und verhielten uns weiterhin schweigsam. Die Sonne war allmählich am Untergehen und färbte den Himmel orange. Nach diesem starken Gewitter von heute, hätte ich keinen so malerischen Sonnenuntergang erwartet.

„Ich hätte Euch nicht mitnehmen sollen.“ Robins Stimme klang bedauerlich. Ich wusste nicht was ich darauf antworten sollte, also sagte ich einfach nichts. Nichts, für einige Minuten, die ihm und mir wie eine Ewigkeit vorkamen.

„Es war nur alles miteinander so schrecklich“, flüsterte ich. Robin verstand jedes noch so leise Wort, das wusste ich nun. Er hatte mich selbst damals durch meine Zimmertür sprechen hören, als ich diese nicht aufschließen wollte.

„Ich wollte Euch die Pilzbären zeigen und Euch sehen lassen, dass es auch noch andere magische Wesen gibt. Doch ich ahnte nicht, dass sie Euch etwas zeigen würden, von dem Ihr so erschrocken seid.“ Er biss die Zähne hart aufeinander und schaute mich an. „Das tut mir leid, Olivia.“

Ich schenkte ihm ein leichtes Lächeln. Vielleicht konnte ich ihm soweit vertrauen, um ihm von den Wesen zu erzählen, welche ich gesehen hatte. Es bestand immerhin die Möglichkeit, dass er mich beruhigen konnte und sagen würde, dass sich die Pilzbären auch mal täuschen konnten.

„Robin.“ Fragend schaute er mich an. Ich brachte Goldie zum Stehen und er tat es mir gleich. „Ich habe Seelenstehler gesehen.“

„Es gibt keine dunklen Hexen mehr. Seid Ihr sicher, dass es Seelenstehler waren? Wie sahen sie aus?“

Ich versuchte ein sarkastisches Lachen zu unterdrücken. „So wie Seelenstehler nun einmal aussehen. Zumindest wie ich es den Büchern entnehmen konnte. Sie stanken nach Tod! Ich habe diesen abscheulichen Geruch noch immer in der Nase!“ Ich versuchte mich zu beherrschen, schließlich war ich eine Prinzessin. Also sprach ich, nun etwas gedämpfter weiter: „Ihre Knochen waren zu sehen. Ihre Muskeln, Faszien und Bänder. Alles miteinander, selbst die Organe waren teilweise zu sehen. Dort, wo ihre Haut nicht offen war, bestand sie aus schwarzem Leder und ihre Augen, sie schimmerten blutrot. Doch das schlimmste an all dem war, dass ich mit ihnen geredet habe. Ich habe ihnen über den Kopf gestreichelt und es sah so aus, als hätte ich diese Wesen sehr gerne.“ Das ich kurzes Haar trug, verschwieg ich lieber, noch dazu, weil ich mir mittlerweile einfach nicht mehr sicher war, ob ich sie nicht unter dem Mantel versteckt hatte. Wenn Robin und ich noch zusammen waren, dann würde ich niemals kurzes Haar tragen müssen.

Robin von Schwarzenburg verzog keine Miene, sein Gesichtsausdruck blieb die ganze Zeit über gleich. Er dachte nach, denn ich konnte sein Gehirn nahezu rattern sehen.

„Ich schwöre Euch, ich bin keine dunkle Hexe. Meine Mutter ist ebenso wenig eine Hexe, wie mein Vater ein Magier ist. Ich weiß nicht, was ich gesehen habe, aber es kann nicht der Wahrheit entsprechen.“

Mein Gemahl nickte und führte Feuerherz näher an mich heran. „Olivia, was auch immer die Zukunft bringen mag, ich werde bei Euch sein. Wir werden sehen, ob der Pilzbär recht hatte, oder Euch mit jemandem verwechselt hat.“ Er drückte sanft meine Hand und deutete mir, mit Goldie weiterzureiten. „Ihr müsst Euch keine Sorgen deswegen machen. Versprecht mir, dass Ihr Euch Euren schönen Kopf nicht darüber zerbrecht. Die Zukunft kommt ohnehin, wie sie kommen mag.“

Dass ich den Ritt nach Hause so sehr genoss, wie ich den Ritt zum Teich geliebt hatte, konnte ich nicht behaupten. Robin wollte nicht, dass ich mir zu viele Gedanken deswegen machte, doch ich tat es nun. Alles miteinander war einfach viel auf einmal.

Den märchenhaften Sonnenuntergang konnte ich nur leider nicht so in mir aufnehmen, wie er es eigentlich verdient hätte.

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