~ 14 ~
Sewolt Ochsenstein saß mit seinen Männern am Lagerfeuer und betrachtete die Flammen. Sie erinnerten ihn stets daran, was in Mirofeld geschehen war und, dass es für ihn seither nur mehr bergab ging.
Die Familie von Hengsttal hatte ihm Ruhm und Gold versprochen, doch nichts hatte er bekommen. Er war verstoßen worden und sollte er je wieder einen Schritt auf das Land der Hengsttals setzen, würde er mit dem Tod bestraft werden.
Die Familie von Schwarzenburg hatte er hintergangen, deswegen würde er sich von deren Seite keine Gnade erhoffen. Er wusste, er hätte die Pferde nicht vergiften dürfen oder gar einen Handel mit der Familie von Hengsttal abschließen sollen, doch er hatte es getan und es war nicht wiedergutzumachen. Niemand konnte etwas an der Vergangenheit und seinen Taten ändern, deswegen hatte er sich dazu entschlossen, ein Räuber zu werden und im Wald zu leben. Dabei hatte er einige Männer getroffen, die ebenso verstoßen wurden oder nie ein anderes Leben gekannt hatten.
Sewolt Ochsenstein wurde zum Räuberhauptmann dieser Männerbande. Zwar war es nicht das Leben voller Ruhm und Gold, welches er sich stets herbeigesehnt hatte, doch es war immer noch besser als ein totes Leben – oder gar kein Leben.
„Hauptmann!“, ein junger Mann namens Conrad kam von seiner Erkundungstour zurück. Er war als Kind von seiner Mutter verstoßen worden, da sie in ihm stets seinen Erzeuger gesehen hatte. Die blauen Augen und das dunkle Haar ließen seine Mutter immerzu an ihren Vergewaltiger erinnern.
„Conrad, was hast du mir zu sagen?“ Sie sprachen sich allesamt mit Du an, denn die Räuber waren so etwas wie eine Familie – eine Männerfamilie.
„Ich habe gehört, dass die Familie von Eisenbach ihr Landstück nicht hergeben will. Der höhere Stand will den Prinzen einladen.“
„Das sind großartige Neuigkeiten.“ Der Hauptmann klopfte Conrad auf die Schulter. „Auf dich ist immer Verlass. Du darfst heute mit auf die Jagd gehen.“
Die Freude in Conrads Gesicht war groß, denn es gab für die Räuber keinen schöneren Zeitvertreib als die Jagd. Es gab einige, die auf die Jagd gingen, um Essen zu beschaffen und einige, die im Lager blieben, damit sie es verteidigen konnten, sollte etwas geschehen.
Sewolt ging mit seinen Männern Conrad, Fritz, Nickel und Wille auf die Jagd.
Conrad war erst seit neun Monden zu ihnen gestoßen, davor hatte er sich allein durch die Welt geschlagen. Er hatte gelernt, wie man sich gegen wilde Tiere zu verteidigen hatte, wie man stahl, um an Essen zu kommen und wie man nachts schlief, ohne gefressen zu werden. Denn die Wildnis war nicht so harmlos und idyllisch, wie sie an so manchem sonnigen Tag aussah – sie verbarg viele Gefahren.
Fritz war ein alter Mann, welcher seinem Hauptmann schon seit dem Anfang an treu ergeben war. Er kannte sich in dieser Gegend so gut wie fast keiner aus. Auch er war ein Verstoßener der Familie von Schwarzenburg, da er einst der Königin gedroht hatte. Diese Drohung war mit der Verbannung bestraft worden.
Nickel war der Narr der Räuberbande. Für ihn war alles ein Witz und niemand konnte ihm je böse sein, für das was er sagte. Doch Nickel war auch einer der besten Jäger unter den Räubern – selten, dass ihm eine Beute entkam.
Und Wille war der beste Fährtenleser, den sie hatten. Er konnte einem nur anhand eines Abdrucks am Boden sagen, welches Tier diesen Weg entlanggelaufen war. Er war als kleiner Junge einfach von Zuhause abgehauen, da er niemals ein Krieger werden wollte. Für ihn hatte es damals keine andere Wahl gegeben, auch wenn er sie bis zum heutigen Tag immer wieder mal bereute.
Die fünf Männer waren im Wald unterwegs und unterhielten sich kaum – das taten sie während der Jagd nie. Wille kniete sich nur ab und an auf den Boden, betrachtete die Abdrücke und gab seinen Männern Anweisungen. Er war einem Hasen auf der Spur. Die Pfotenabdrücke schienen noch frisch zu sein.
Die Männer schlugen sich durch das Dickicht des Waldes und folgten Wille, welcher sich immer mehr zu beeilen schien. Dann blieb er plötzlich stehen und deutete den anderen Männern, dass sie sich leise und vorsichtig zu ihm bewegen sollten. Wille lugte zwischen einem Busch hindurch und sah den Hasen, welcher genüsslich eine Wurzel fraß. Er ahnte noch nichts von der aufkommenden Gefahr und seinem baldigen Sterben, damit die Räuber etwas zu essen hatten.
Mittlerweile sahen ihn auch schon die anderen Männer. Nickel spannte seinen Bogen und zielte mit der Pfeilspitze auf den Hasen. Er wollte den Pfeil schon loslassen, doch er wurde von einem lauten Fauchen unterbrochen. Der Hase, sowie die Räuber, waren nun wachsam und schauten sich um.
Noch nie hatten die Räuber ein Fauchen gehört, welches so derart markerschütternd, wild und gefährlich klang. Sie konnten es keinem bekannten Tier zuordnen.
Ehe der Hase wusste, wie ihm geschah, sprang von der anderen Seite ein Wesen heraus, welches selbst dem Räuberhauptmann Angst einjagte – Sewolt Ochsenstein hatte nicht vor vielem Angst, doch dieses Wesen hatte nichts Lebendes mehr an sich. Er konnte sich nicht erklären, was das für ein Tier sein sollte. War es überhaupt ein Tier? Es hatte die Größe eines ausgewachsenen Esels.
„Was ist das?“, Conrad schien panisch zu sein.
„Sei leise!“, zischte der Hauptmann, ohne seine Frage zu beantworten.
Wille musste schlucken, als er die langen Krallen des Tieres sah. Sie waren spitz und messerscharf. Das Maul des Tieres war übersäht von großen, scharfen, unförmigen Zähnen, welche den armen Hasen zuerst in mehrere Stücke zerriss, bevor er es samt den Innereien fraß.
Die Augen des Tieres waren rot wie Blut, sein Hals war ausgefranst und man konnte an einigen Stellen das Skelett erkennen. Der Körper des Tieres schien aus schwarzem Leder zu bestehen, doch an einigen Abschnitten des Körpers war das Tier offen und die inneren Organe waren zu sehen. An anderen Stellen hing das Fell in Fetzen herab.
Der Schweif des Tieres peitschte unachtsam durch die Luft und selbst an seinem Schwanz schien er Krallen zu haben. Sie erinnerten an Nägel, die sich schmerzhaft in die Haut bohren konnten.
Hinter dem Wesen tauchte plötzlich noch ein weiteres auf. Es war kleiner und hatte noch nicht so scharfe Krallen, doch es sah deswegen nicht weniger gefährlich aus.
Während das große Tier, welches sich als Mutter herausstellte, den Hasen fraß, nuckelte das kleinere Tier an einer Zitze des ausgewachsenen Tieres.
Fritz hielt sich eine Hand vor die Nase, denn er wollte den grauenhaften Gestank der Tiere nicht länger einatmen. Sie rochen nach Tod – aufdringlich, stechend und verwest.
„Lasst uns verschwinden“, zischte Wille so leise wie möglich.
Der Räuberhauptmann nickte nur und forderte die anderen Männer mit einer Handbewegung auf so leise wie möglich rückwärtszugehen. Dabei blieb sein Blick weiterhin auf den zwei Wesen haften, denn er würde sie nicht aus den Augen lassen – nicht, bis sie der Gefahr entkommen waren.
~ ♡ ~ ♡ ~ ♡ ~
„Ich danke Euch, dass Ihr mich mit ins Dorf nehmt.“ Ich ritt neben dem Prinzen her und wir kamen den Hütten, Menschen und Tieren immer näher. Auch konnte ich den Markt erkennen, welcher sich mittig des Dorfes befand. Als wir den Menschen näher kamen verbeugten sie sich und wichen uns aus. Einige dieser Leute hatten mich bestimmt an dem Tag meiner Vermählung gesehen, doch ich war mit meinen Gefühlen zu beschäftigt gewesen, um sie richtig wahrzunehmen.
„Ihr macht Euch gut im Sattel.“ Ich schaute zu dem Prinzen, denn ich konnte es kaum glauben: Er hatte mir ein Kompliment gemacht.
„Danke“, lächelnd streichelte ich den Hals der Stute und fragte Robin: „Warum gebt Ihr Euren Pferden Namen?“
Der Prinz schien mit dieser Frage nicht gerechnet zu haben, denn er zog sie Stirn kraus. „Sie tragen mich, beschützen mich und leisten Arbeit für mich. Ich denke, sie haben es verdient, einen Namen zu tragen.“
„Mein erstes Pferd hieß Glöckchen“, meinte ich nach einigen Minuten des Schweigens. „Sie war weiß und wunderschön.“ Seufzend erinnerte ich mich an diese Stute zurück.
„Was ist passiert? Ihr klingt so, als würde Euch die Erinnerung schmerzen.“
„Tut es auch irgendwie.“ Ich zuckte mit den Schultern und betrachtete meinen Gemahl. „Mein Vater fand heraus, dass ich ihr einen Namen gegeben habe. Er meinte, dass ein Pferd nur ein Tier sei, welches für unseren Zweck auf der Welt war und uns zu dienen hat. Diener bräuchten keine Namen. Am nächsten Tag dann war sie tot.“ Ich biss mir auf die Unterlippe, während Robin fragend eine Augenbraue hochzog. „Mein Vater ließ sie schlachten und am nächsten Tag lag sie auf unseren Tellern. Ich habe die nächsten Tage keinen Bissen gegessen und mich nur von Wasser ernährt.“
„Warum hat er das getan?“ Ich konnte aus Robins Stimme nicht heraushören, ob er entsetzt, bemitleidend oder neutral klang. Doch ich konnte ihn momentan auch nicht ansehen, weswegen ich das Dorf betrachtete.
„Mein Vater meinte, dass wenn man jemandem keinen Namen gab und einem ein Diener nicht wichtig war, man auch nicht verletzt sein könnte, wenn er stirbt. Pferde dienen uns als Nutztiere, Reittiere und schlussendlich als Futterlieferanten.“
„Auch wenn etwas keinen Namen hat, kann man es vermissen.“
„Ja“, ich lächelte leicht. „Die nächsten Pferde, die ich ritt, hießen Pferd zwei, Pferd drei und Pferd vier.“
Robin schmunzelte. „Dann habt Ihr ihnen doch wieder Namen gegeben.“
„Wenn Ihr zwei, drei und vier als Namen seht, dann ja.“ Ich schüttelte leicht den Kopf und schaute wieder zu Robin, welcher mich weiterhin ansah. „Aber ich wollte auf keinen Fall etwas Böses über meinen Vater sprechen, das darf ich auch gar nicht. Also bitte verzeiht mir, dass ich überhaupt damit angefangen habe.“
„Ich könnte über meinen Vater genauso etwas sagen, was man als Sohn nicht sagen sollte, doch ich denke, so ergeht es jedem Kind. Es gibt immer irgendetwas an den Eltern, was einem seltsam erscheint. Auch unsere Kinder werden uns manchmal hassen.“
„Ich hoffe nicht!“, entsetzt schaute ich meinen Gemahl an. „Ich hasse keinen meiner Eltern.“
„Nun, dann lasst es mich anders formulieren: Ihr wart enttäuscht, traurig und konntet nicht verstehen, warum Euch Euer Vater dies angetan hat. Für den Moment wusstet Ihr nicht, was Ihr fühlen solltet. War es nicht so?“
„Ja“, gab ich kleinlaut zu und versuchte das Thema wieder auf etwas Anderes zu lenken. Meinem Vater wollte ich nicht in den Rücken fallen, nicht, wo er doch so viel für mich getan hatte. Immerhin war er mein Vater.
Als wir auf dem Markt ankamen, stiegen Robin und ich von unseren Pferden, welche wir nun an der Hand neben uns herführten. Wir betrachteten die Marktstände und ich bat meinen Gemahl frisches Obst und Brot für uns zu kaufen.
Am Markt tummelten sich die Menschen und einige Leute betrachteten uns gar nicht. Vielleicht hatten sie uns auch nicht bemerkt. Irgendwie fand ich den Gedanken schön, nicht bemerkt zu werden, denn in meinem ganzen Leben war ich schon so oft erkannt worden, dass es einfach einmal guttat, wie ein normaler Mensch behandelt zu werden. Auch wenn uns die Pferde und unsere Kleidung verraten würden.
Robin half mir nach dem Einkauf auf Goldie hinauf, und ich ließ es zu. Erst dann stieg er selbst auf sein Ross und wir ritten zurück zum Pferdestall. Dort wurden Goldie und Feuerherz von den Stallburschen versorgt und gefüttert.
„Darf ich Euer Pferd streicheln?“, fragte ich nun den Prinzen.
„Kommt.“ Er forderte mich dazu auf, mit in die Box zu gehen. Feuerherz fraß sein Heu, doch als wir eintraten hob er den Kopf. Als er merkte, dass es nur wir waren, kaute er unbekümmert weiter.
„Er ist so anmutig.“ Ich lächelte, als ich meine rechte Hand nach dem Pferd austreckte und er sie mit seinen weichen Nüstern anstupste.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top