Zwei Versprechen und ein Geschenk
„Bist du nicht etwas zu alt um nochmal auf die Schule zu gehen?", Lucys Stimme klang am anderen Ende des Telefons so misstrauisch, dass Shin sich nur zu gut ihren Gesichtsausdruck dabei vorstellen konnte. Er musste kichern und bekam sogleich eine genervte Reaktion: „Was erwartest du denn was ich sage? Ich ruf dich an weil ich mir total Sorgen um dich mache und das erste was du mir sagst, ist dass du wieder auf die Schule gehst. Nein, noch besser! Du ziehst weg und zwar auf ein Internat."
„Na gut." Shin seufzte, während er seinen Kleiderschrank durchwühlte und sich fragte was er einpacken sollte. Dann horchte er plötzlich auf. „Warum hast du dir Sorgen um mich gemacht? Ich bin doch schon öfters früher aus der Uni raus." Hatte man etwa einen Toten gefunden? Innerlich fluchte er. Eigentlich hatte er erwartet, dass sich der unsichtbare Fremde um die Leiche und um Dario kümmern würde.
Lucy Stimme wurde etwas leiser. „Es ist ziemlich viel Polizei hier. Sieht aus als wäre etwas mit unserem Dozenten passiert und ich weiß, dass du mit ihm-" plötzlich brach sie ab und Shin hörte im Hintergrund ein paar Stimmen und wie Lucy fragte was denn passiert sei, bevor sie das Micro ihres Handys zuhielt. Shin hielt mit klopfendem Herzen inne und wartete bis sie sich wieder meldete. Dann kam die Lautstärke zurück und Lucy sagte: „Er ist tot und noch jemand ist da. Aber ich weiß nicht wer es ist. Uh... das ist wirklich übel."
„Was?", kam es nur von Shin. „Was ist da los?"
„Ihm fehlt der Kopf. Es sieht aus als wäre er abgerissen worden..."
„Wer? Kaito oder Dario?!" Shin hätte sich am liebsten sofort selbst geohrfeigt. Er biss die Zähne zusammen und murmelte: „Scheiße... vergiss es bitte"
„Weißt du etwa was passiert ist? Bist du deswegen abgehauen? Shin Schatz du musst zur Polizei!" Lucy klang ganz aufgeregt, hielt aber immer noch ihre Stimme gesenkt, wofür Shin ihr sehr dankbar war.
„Nein das geht nicht. Ich weiß nicht wer der Typ war, oder ob es überhaupt ein Typ war. Ich hab auch nicht gesehen wie Dario umgebracht wurde. Es ist alles nur so... verdammt. Es ist jedenfalls der Grund warum ich hier weg muss. Es ist irgendwie auch meine Schuld.", Er stützte sein Gesicht in seiner Hand ab und lag jetzt halb in seinem Kleiderschrank.
„He Shin es wird schon alles wieder gut. Wenn sie deine Körperflüssigkeiten an Kaitos Körper analysiert haben, bist du schon längst an dieser komischen Schule in Sicherheit.", sagte sie trocken.
Shins schlechte Laune war sofort verflogen und er grinste. „Weißt du, du könntest dir auch ein paar schönere Abschiedsworte einfallen lassen."
„Na gut." Lucy räusperte sich und sprach etwas lauter, anscheinend hatte sie sich an einen privateren Ort zurückgezogen. „Ich werde es vermissen, dich morgens nach Partys von meiner Couch zu werfen. Ich werde es vermissen jeden Tag einen neuen Kerl kennenzulernen und Männern deine Handynummer zu verraten. Aber vor allem werde ich die Zeit mit dir vermissen, in der du nicht irgendeinem Typen am Hintern geklebt hast. Dann warst du immer ein richtig guter Freund. Also..." Sie machte eine kurze Pause, während der sie Luft holte. „Solltest du in Schwierigkeiten geraten und damit meine ich wirkliche Schwierigkeiten, dann ruf mich an und ich komm dich retten. Das ist mein Versprechen. Ansonsten ruf mich auch gerne wegen allem anderen an und viel Erfolg auf der Schule, vielleicht schaffst du ja diesmal den besseren Durchschnitt."
Shin schwieg für eine Weile, er wusste nicht was er antworten sollte, bis er sagte: „Du hast den Typen immer meine Nummer gegeben?"
Lucy stöhnte genervt auf: „Ja, die haben mich damit einfach nicht mehr in Ruhe gelassen. Hast du überhaupt gehört, was ich sonst noch gesagt hab?"
„Ja hab ich. Danke, ich..." Doch weiter kam er nicht, da jetzt beide anfangen mussten zu lachen. Als sie sich wieder einigermaßen eingekriegt hatten, sagte er: „ich will einfach nicht weg."
„Dann bleib doch." Lucy schniefte.
„Es geht nicht anders. Ich kann dir jetzt nicht alles erzählen, aber du wirst es erfahren. Das ist mein Versprechen." Shin saß mittlerweile auf seinem Fußboden und warf vereinzelt Socken in seinen Koffer.
Sie sagte nur: „Ach, das ist in Ordnung. Solange du dich irgendwann daran hältst."
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Als er aufgelegt hatte, machte Shin sich daran weiter zu packen. Nach dem Gespräch mit seiner Mutter hatte er sich recht schnell dazu entschieden, auf diese komische Schule zu gehen. Er informierte sich etwas über diese Schule und fand heraus, dass man dort auch Universitätskurse besuchen konnte. Außerdem hatten Lucys Informationen über das Nachspiel mit Dario und Kaito, ihn in seinen Zweifeln den Rest gegeben. Er musste einfach hier weg. Wie sollte er auch jemals wieder einen der Hörsäle betreten ohne an diese ganze Szene zu denken? Es machte viel mehr aus ihm, als ihm nur Angst einzujagen. Sondern es gab ihm ein Gefühl dass er nicht recht definieren konnte, aber sich am ehesten mit Erregung beschreiben ließ. Aber gut fühlte es sich nicht an. Um es zu ignorieren, versuchte er sich so gut es eben ging von diesen Ereignissen zu distanzieren.
Die Anmeldung zur Schule verlief Problemlos. In zwei Tagen konnte er mit der Bahn an die Küste, da sich die Loup Parole auf einer Halbinsel befand. Seine Mutter willigte (nach einer kleinen Diskussion) ein ihn an den Bahnhof zu fahren und Shin spürte wie die Aufregung in ihm wuchs. Sicher, er musste seine Freunde und alles Vertraute hinter sich lassen, aber diese Schule stellte auch eine Art Status dar. Dort zu sein, bedeutete, dass man etwas Besonderes war. Was waren dort wohl für Wesen versammelt? Hoffentlich war auch etwas Hübsches dabei.
Am Abend vor der Abreise, als Shin den Müll nach draußen brachte, fand er vor der Wohnungstür ein Päckchen. Es hatte ungefähr die Größe eines Schuhkartons und war an ihn adressiert. Es war nicht mit der Post gekommen, jemand musste es einfach vor der Tür abgestellt haben. Er nahm es mit hinein und stellte dabei fest, dass es recht schwer war. An der Oberseite war ein Brief angebracht. Neugierig nahm er ihn ab und las:
„Lieber Shin. Leider kam ich bei unserer kurzen Begegnung nicht dazu mich vorzustellen. Zu bedauern ist, dass ich auch nicht dazu kam dir dies hier persönlich zu überreichen.
In alter Tradition,
ein Diener Auruns."
Shin wurde sofort klar, dass dies eine Nachricht seines unsichtbaren Retters sein musste. Was mochte es nur sein was er ihm nicht hatte überreichen können? Shin rief sich die Situation noch einmal zurück, aber ihm kam nicht in den Sinn, was der Unbekannte ihm hätte geben können. Vielleicht war es ja auch ein Geschenk von seinem Vater? Voller Aufregung begann er damit, den Karton zu öffnen, als ihm plötzlich ein beißender Geruch entgegen schlug. Shin wankte ein Stück zurück und öffnete mit zitternden Händen den Deckel. Zwischen alten, blutbeschmierten Zeitungsfetzen lag der abgerissene Kopf eines Menschen. Und Shin erkannte diesen Kopf sofort. Es war der wunderschöne Lockenkopf von Dario.
Er taumelte von dem Packet weg und sank zwei Meter weiter an einem Regal in die Knie. Für ein paar Sekunden war er nicht dazu in der Lage einen klaren Gedanken zu fassen, zu sehr war er damit beschäftigt zu realisieren, dass er dort den Kopf eines Toten vor sich hatte. Er hatte überhaupt noch nie einen Toten gesehen. Natürlich abgesehen von Kaito, aber das war noch zu neu und abstrakt, als dass er es zu seinem Leben zählen wollte. Als Shin den ersten Schreck überwunden hatte, las er noch einmal den Brief in seinen Händen und spürte dabei wie die Panik in ihm anstieg. Welche vernünftige Person kam schon auf die Idee jemandem den Kopf eines Toten zu geben? Und was zum Teufel sollte er denn jetzt damit machen?
Das erste "Sinnvolle" was ihm einfiel war den Kopf irgendwo zu verstecken. Und das zweite das ihm einfiel war das Eisfach vom Kühlschrank.
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