Zwei Gesichter

 Als Shin endlich verstanden hatte, wo sich der Ostflügel befand, hatte er die Schlafräume auch schon sehr schnell gefunden, genau wie sein Zimmer. Er schloss die Tür auf und hievte sein Gepäck hinein. Durch das ganze Herumlaufen im Hof und durch die Auseinandersetzung mit Nell, tat ihm alles ein wenig weh und er war froh endlich etwas ausspannen zu können. Als er das Zimmer betrat, bemerkte er sofort die schlechte Luft hier. Eine Ansammlung von Staub und altem Geruch, der sich durch unregelmäßiges bis gar nicht durchgeführtes Lüften der Räumlichkeit, entwickelt haben musste. War er etwa in einem Zimmer gelandet in dem bis jetzt niemand gewohnt hatte? Doch als er das Licht anschaltete und das, durch geschlossene Rollläden abgedunkelte, Zimmer beleuchtete, konnte er erkennen, dass es durchaus bewohnt war. Ziemlich bewohnt. Der ganze Boden war übersäht mit allen möglichen Dingen, die eine einzige Person alleine unmöglich besitzen konnte. Das einzige was unberührt aussah, war das eine Bett. Shin kämpfte sich einen Weg durch das Chaos und stellte dort sein Gepäck ab, dann schon er mit seinen Füßen das Gerümpel von seinem Bett weg. Dann öffnete er die Fenster, zog die Rollläden hoch und wurde mit einem wundervollen Blick aufs Meer begrüßt. „Das ist toll! Wenigstens etwas.", sagte er laut zu sich selbst.

„Ja, ist schon geil. Bist du der Neue?"

Shin drehte sich überrascht um. In der Tür standen ein Junge und ein Mädchen und sie hielten Händchen, doch etwas an dem Bild stimmte nicht. Alles wollte nicht richtig zusammenpassen und noch dazu schien etwas zu fehlen. Außerdem fragte Shin sich, wer von den beiden gesprochen hatte. Er dachte kurz nach und sagte dann einfach: „Ja ich bin neu hier. Mein Name ist Shin."

„Ein Inkubus.", sagte das Mädchen. „An der Loup Parole.", fuhr der Junge fort. „Das ist ungewöhnlich.", schloss das Mädchen.

„Aha?", machte Shin. Er wurde also als Inkubus erkannt und zwar nur als Inkubus. Er fragte sich ob es hier auch Wesen gaben, die das erkannten was er sonst noch in sich trug. Aus irgendeinem Grund hatte er für einen Moment das erschrockene Gesicht von Ren im Kopf, als sich ihre Blicke getroffen hatten. Vielleicht war es ja möglich, dass der Rotschopf mehr darüber wusste, aber Shin hoffte einfach ihm nicht mehr über den Weg laufen zu müssen.

„Du kannst mich Cers nennen. Das ist zwar nur ein Spitzname, aber meinen richtigen Namen möchte ich nicht mehr benutzen. Ich wohne übrigens im Zimmer gegenüber und das" das Mädchen deutete auf ein rosanes Plüschkissen auf dem Boden, auf das ein blauer Knochen gestickt war „Das gehört mir." Die beiden gingen Hand in Hand an die Stelle und der Junge hob mit der freien Hand das Kissen auf.

„Was macht es hier?", fragte Shin und versuchte immer noch das Rätsel um dieses komische Verhalten zu lösen.

„Dein Mitbewohner ist ein Dieb. Das hier sind alles geklaute Sachen." Das Mädchen verwies auf den überfüllten Boden.

„Oh." Shin sah sich die Sachen etwas genauer an. „Das könnte noch anstrengend werden. Du, Cers.", sagte er etwas lauter und sah, dass Junge und Mädchen ihm beide gleichzeitig den Kopf zuwandten. „Du bist eine Person?", fragte er.

Sie nickten beide oder, Cers nickte mit beiden. „Du hast es schnell herausgefunden.", beim Sprechen hob es die beiden ineinander gegriffenen Hände und Shin erkannte, dass sie an der Handfläche zusammengewachsen waren. „Ich habe in meiner richtigen Gestalt zwei Köpfe, aber in menschlicher Gestalt ist es sehr schwer sich mit zwei Köpfen anzupassen, also habe ich mich für dieses Leben entschieden." Es lächelte mit beiden Köpfen. „Sehe ich zusammen nicht süß aus?" Junge und Mädchen nahmen sich in die Arme und lächelten unschuldig.

Shin überlegte. „wie siehst du denn normal aus?", fragte er und musterte die beiden Menschengestalten.

Cers lies die Köpfe hängen. „Ich rede nicht so gerne sofort darüber."

„Tut mir leid, dass ich einfach gefragt habe.", Shin brachte ein verzauberndes Lächeln zustande, auch wenn er sich nicht genau sicher war, in welches Augenpaar er sehen sollte. „Du siehst aber schon ziemlich wie zwei Menschen aus, ich wette nicht alle bekommen das so gut hin.", lobte er.

Cers lächelte zurück und freute sich ganz offensichtlich über dieses kleine Kompliment. „Ach ich komm darüber hinweg. Und das hier kann ich nur so gut, weil ich lange geübt habe und noch etwas magische Hilfe bekomme, also ist es gar nicht so toll. Soll ich dich etwas mit der Schule vertraut machen? Mir war gerade sowieso schon langweilig."

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Lucy rannte die Hauptstraße hinunter. Sie hatte den ganzen Morgen im Tempel verbracht, Sonntagmorgens musste sie wöchentlich ihren Dienst erfüllen. Eigentlich machte sie es auch immer ganz gerne, aber diese Woche hatte sie sich darüber geärgert. Nur zu gerne hätte sie sich richtig von Shin verabschiedet. So in Gedanken versunken, hatte sie ihre Arbeit so unordentlich erledigt, dass ihr Meister sie alles hatte noch einmal putzen lassen. Dadurch war sie jetzt zu spät zum Mittagessen. Sie sprintete die Straßen entlang, als sie an dem Haupttor zur Universität etwas bemerkte. Sie stoppte und ging etwas langsamer. Dort stand ein einzelnes Polizeiauto, daran lehnte eine sehr schöne Frau im Anzug und unterhielt sich mit dem ziemlich aufgebrachten Direktor. Als Lucy an ihnen vorbeiging, hörte sie wie er mit gedämpfter Stimme knurrte: „Zwei Menschen sind hier die Opfer eines schrecklichen Gewaltverbrechens geworden und sie wollen mir ernsthaft sagen, dass sämtliche Ermittlungen eingestellt werden?" Dann erklang die Stimme der Frau, sanft und süß wie Honig: „Wir haben unsere Gründe, aber seien sie sich gewiss, dass ihre Institution vorerst sicher ist."

Vorerst... vorerst. Lucy spürte, wie ihr Herzschlag schneller wurde, sie hatte gar nicht bemerkt, dass sie nicht mehr an ihnen vorbeiging, sondern stehen geblieben war. Ihre Beine waren wie festgewachsen. Nichts in der Welt hätte sie jetzt dazu bewegen können weiterzugehen, also sah sie auf. Die Frau an dem Auto, hatte sich ihr zugewandt und beobachtete sie aus fesselnden goldenen Augen. Lucy spürte wie ihr Blickfeld merkwürdig verschwamm und ihre Beine weich wurden. „Ich wollte ihr Gespräch nicht belauschen.", brachte sie hervor. Etwas schien ihr zuzuflüstern, dass dies es war, was man hören wollte.

„Das ist seltsam.", sagte die Frau nachdenklich. Sie winkte den Direktor weg und dieser ging ohne seine Studentin auch nur eines Blickes zu würdigen, in die Universität zurück. Als wäre er für all dies Blind. „Mein Blick sollte dich töten.", fuhr die Frau fort und kam geschmeidig wie eine Katze auf Lucy zu.

Lucy bemerkte es, die Stimme der Frau wurde dunkler und der feminine Körper veränderte sich. Das was vor ihr stand, war weder Mann noch Frau, weder Mensch noch Bestie. Es lächelte süß, doch es zog eine Spur aus Blut hinter sich her und es war dabei wunderschön. Sie musste all ihre Kraft aufbringen, um ihm nicht zu verfallen. „Ich kann dich klar und deutlich sehen.", sagte sie laut und richtete sich auf.

Ankamna hielt inne und musterte die junge Frau vor sich. Sie hatte einen so starken Blick, dass sie es wirklich schaffte ihm standzuhalten. Solche Wesen machten ihm Spaß, doch bisher hatte es nur ein Einziger geschafft, nicht trotzdem zu zerbrechen. Alle anderen gingen irgendwann kaputt, besonders die Menschen. „Es ist wirklich zu schade, dass Aurun mir einst als Strafe meine Männlichkeit nahm, sonst könnten wir beide so schön miteinander spielen." Er griff sie unterm Kinn und zog sie zu sich. Lucy versuchte sich sofort loszureißen, doch er hielt sie so fest, dass es wehtat. „Du riechst nach dem Kind.", stellte er laut fest. „Ich erkenne dich wieder, du bist eine Freundin von Shin."

Als Lucy Shins Namen hörte, hörte sie auf sich zu wehren und sah zu dem Wesen vor sich auf. „Ja, was ist mit ihm?"

„Du solltest ihn vergessen, kleines Schäfchen.", Ankamnas Stimme war so ernst, als hätte er Mitleid mit Lucy.

„Bitte? Nein, wir sind Freunde."

„Das ist wirklich niedlich, ich möchte es mir nehmen und zerbrechen, aber Aurun wäre sicher wütend, wenn ich ein Spielzeug seines Kindes beschädige. Was soll ich nur machen? Ach ich weiß, wir stellen dich zurück und warten bis niemand mehr Interesse an dir hat." Ankamna hob seine freie Hand und ein kleines Rinnsal von Blut erschien in seiner Handfläche. „Das dürfte genügen.", sagte er und dann drückte er die Hand auf Lucys Mund.

Sie wehrte sich und versuchte den Kopf wegzudrehen, doch ihr Kinn war wie in einer Metallklemme gefangen und das Blut drang wie durch eigenen Willen in ihre Mundschleimhaut ein. In dem Moment, als es geschehen war, als der Kontakt hergestellt war, wurde sie ruhiger. Das Wesen ließ sie los und Lucy spürte, dass sie wieder schwach wurde. Mit einem Schlag war sie ihm komplett verfallen, doch es störte sie nicht, es hatte etwas so beruhigendes an sich. Ankamna beugte sich über sie und plötzlich kannte sie seinen Namen, wusste was er war, woher er kam, verstand den Hass den er in sich trug und das was er tat.

„Du wirst etwas für mich tun.", sagte er. „Du wirst vergessen, dass es Shin jemals gegeben hat. Du wirst den Kontakt zu ihm abbrechen und ihn nicht mehr wiedererkennen. Nicht an seiner Stimme, oder irgendetwas anderem."

Neben all dem Glück, der Freude und dem Verständnis, das sie für Ankamna empfand, verspürte sie noch etwas anderes. Es wollte nicht dazugehören, ein ungeliebter kleiner Gedanke. Doch sie lächelte und hob den Kopf, nur eine winzige Träne, so klein, dass sie nicht einmal ihr Gesicht hinablief, erinnerte an diesen Gedanken. „Ja, ich werde vergessen."

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Am Abend ließ Shin sich müde auf sein Bett fallen. Cers hatte sich als sehr zuverlässig herausgestellt und ihm eine hilfreiche Führung durch das ganze Schulgelände geboten. Obwohl es natürlich schwierig gewesen war, den Ausführungen von zwei Stimmen gleichzeitig zu lauschen. Aber Shin war glücklich jemanden gefunden zu haben, der nicht versuchte ihn umzubringen, in den Tod zu schicken, oder einfach verwirrt stehen ließ.

Sein Mitbewohner war auch noch nicht aufgetaucht. Shin fragte sich, wie dieser Dieb so war und ob er vielleicht heute Abend noch das Bad aufsuchen sollte, doch da war er schon eingeschlafen.

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