Wo wir verborgen sind
Wo sollte er nur anfangen? Ren hatte sehr überzeugende Argumente, warum er ihm alles erzählen sollte. Besonders diese seltsame Magie die er besaß, die ihn befähigte mit nur einem Schritt bei ihm zu stehen, obwohl er eigentlich viel zu weit weg dafür war und die Tatsache, dass er stärker war als er aussah. Doch das Problem war, dass Shin nicht wirklich wusste was Ren von ihm in Erfahrung bringen wollte. Das einzige was er gestern versucht hatte war nach Möglichkeit am Leben zu bleiben und nicht in den Klauen von Nell zu landen. Er konnte sich nicht daran erinnern, ihm etwas angetan zu haben. Da es hier wohl nichts brachte sich etwas auszudenken um Ren zufrieden zu stimmen, Hauptsächlich deswegen weil Ren den Eindruck machte als wäre er niemals zufrieden, entschied Shin sich für die Wahrheit: „Ich weiß wirklich nicht was du meinst.", sagte er noch etwas benommen von dem Schlag. Zu allem Übel, fühlte es sich auch noch an als würde etwas sein Gesicht hinablaufen. Blutete er etwa?
„Versuch nicht dich rauszureden!", knurrte Ren und er knurrte wirklich. Ein leises brummendes Geräusch entwich seiner Kehle.
Shin seufzte. „Hör mal, wenn ich versuchen würde mich rauszureden, hätte ich mir mit Sicherheit etwas Kreativeres einfallen lassen." Er wischte sich über den Mund und sah dann auf das verschmierte Blut in seiner Handfläche. „Au, warum?", Geistesabwesend streckte er es Ren entgegen. Dieser schlug die Hand weg und zog Shin grob zu sich.
„Du bist ein ziemlicher Schwächling, oder? Also besser du erzählst mir jetzt alles oder du darfst Bekanntschaft mit deinen schlimmsten Alpträumen machen.", fauchte Ren.
Der Inkubus brachte derweil ein Lächeln zustande. „Bei dir ist mir das irgendwie viel lieber als bei Nell, dich kann man gar nicht richtig ernstnehmen."
Ren hob ohne weiteren Kommentar noch einmal die Hand und holte zum Schlag aus.
„Ok, ok!", sagte Shin schnell. „Ich bin ehrlich! Wirklich! Außerdem nervt es, dass ich als Schwächling eingestuft werde. Immerhin gibt es einen guten Grund warum ich hier bin!" Es war ein schlechter Bluff, vor allem weil Shin bis jetzt keine Anzeichen von irgendetwas Gefährlichem gezeigt hatte.
Doch Ren ließ nachdenklich die Hand sinken. „Ja, dass du hier bist ist wirklich seltsam. Normalerweise landet deinesgleichen nicht auf dieser Institution."
Shin nickte hastig. Ja, Inkubi endeten nicht auf der Loup Parole, vielleicht gab es ja seinem Gegenüber zu denken, dass Shin nicht ganz normal und dafür gefährlich war.
„Nur noch die Wenigsten halten sich überhaupt noch in dieser Welt auf, also warum bist du hier...", fuhr Ren interessiert fort.
„Hä?", fragte Shin.
„Was hast du gemacht, wurdest du verbannt?", fragte Ren und musterte ihn jetzt ganz anders als vorher, etwas freundlicher.
„Hä?", wiederholte Shin mit Nachdruck.
Beide warfen sich einen Moment lang fragende Blicke zu, bis Ren sich plötzlich über Shin beugte, ein Knie zischen seinen Beinen abstützte und anfing an ihm zu schnuppern. Shin drehte sich nervös weg, doch es half nichts, Ren roch an Shins Nacken und griff dann nach seiner Hand. Ohne zu zögern leckte Ren das schon halb getrocknete Blut von der Handfläche und schmeckte es in seinem Mund ab. „Hm...", machte er schließlich. „hm."
„Was soll das?", fragte Shin und versuchte dabei noch ein wenig mehr nach hinten zu rutschen, doch er hatte die Wand des Spülkastens schon erreicht.
Ren schluckte Shins Geschmack unter und blinzelte dann. „Die Wirkung ist sehr interessant.", murmelte er und schnupperte noch einmal an Shin. „Du bist ein Mischling, hab ich recht? Was bist du noch?"
„Das würde ich auch gerne wissen, glaub mir!"
Plötzlich schien Ren auf eine andere Idee zu kommen und er fragte: „Was weißt du denn was du bist?"
Shin sah auf. Die Augen von Ren wirkten so vertrauensselig, das war ihm vorher gar nicht aufgefallen, außerdem gefiel es ihm wie sie hier saßen. „Ich bin ein Inkubus."
„Ein Inkubus.", die ganze Vertrauensseligkeit war mit einem Schlag zerstört, als ein spöttisches Grinsen auf Rens Gesicht trat. „Deswegen der komische Geschmack und der Geruch.", er gönnte sich ein Schnauben und tätschelte Shin den Kopf.
Dieser griff nach Rens Hand und hielt sie fest. „Es ist nichts schlimmes daran ein Inkubus zu sein. Wir sind die Nachkommen des Adels der Unterwelt."
„Es gibt keine Unterwelt mehr, sie ist zusammen mit den Schattenkriegen zerschlagen worden.", entgegnete Ren unbeeindruckt. „Du scheinst für jemandem von deinem Kaliber ja gar keine Ahnung von der neuen Welt zu haben und du hast keine Ahnung was du wirklich bist, das erklärt eine ganze Menge.", bei den letzte Worten, lehnte er sich noch ein Stück nach vorne und entzog sich ohne große Mühe Shins Griff.
Endlich verstand Shin was dieses ganze kryptische Gespräch zu bedeuten hatte. Ren wusste irgendwas davon was Shin für ein Wesen war. Deswegen hatte er in solchen Rätseln geredet und die Frage danach, was Shin sonst noch war, war auf den Inkubus-Anteil bezogen gewesen nicht auf das andere. Es ärgerte Shin zutiefst. Er wollte wissen was er war, aber nicht von so jemandem wie Ren. Wenn Shin jetzt danach fragen würde, würde Ren garantiert vor Selbstgefälligkeit platzen. Shin brachte all seine Selbstkontrolle auf um ruhig zu bleiben und so desinteressiert wie möglich zu sagen: „Bitte, als würde ich davon gar nichts wissen. Ich bin immerhin das Kind von Aurun." Es hatte seine Wirkung. Für einen kurzen Moment sah er in Rens Augen die gleiche Unsicherheit wie zu dem Zeitpunkt, als seine Tarnung als Nell beinahe aufgeflogen wäre. Die Information die Shin daraus zog, was dass der Name seines Vaters nicht ganz unbekannt war und mindestens so bedeutungsvoll, dass man kurz innehielt und dachte: Etwa Der Aurun?
„Du lügst.", kam die Entgegnung von Ren, aber seine Stimme war nicht mehr ganz so selbstsicher wie vorhin.
Shin sah in dieser Reaktion seine Möglichkeit hier wieder heil herauszukommen. Er durfte jetzt nur nicht zu erkennen geben, dass er keine Ahnung hatte von was er da redete. Mit aller Größter Mühe hielt er das Schauspiel aufrecht und fragte: „Willst du dieses Risiko wirklich eingehen?"
In Rens Kopf schien es zu arbeiten. Sein Gesicht wurde langsam düsterer, bis er schließlich Shin gegen die Wand stieß und sich wütend erhob. „Tse.", machte er und verließ die Kabine.
„Wohin gehst du?", rief Shin ihm hinterher, doch er bekam keine Antwort mehr, nur das Knallen der Tür die hinaus in den Flur führte. Nach ein paar Sekunden, als er sich sicher war, dass Ren nicht mehr zurückkehren würde, atmete er erleichtert auf.
Ren war verwirrt. Er hatte immer geglaubt er könnte es mit einem von ihnen aufnehmen, sonst hätte er Shin ja nie so überfallen. Doch wenn er wirklich ein Kind von Aurun war, hatte Ren nicht die geringste Chance. Er schluckte und schmeckte immer noch Shins Blut im Mund und ohne weiter darüber nachzudenken, schlüpfte er in die nächste Toilette und spuckte den Rest dort ins Waschbecken. Man konnte nie sicher sein ob die Wirkung doch noch einsetzte. Blut von dieser Art war sehr gefährlich. Es wurde dazu verwendet um andere unter ihre Kontrolle zu bekommen. Natürlich konnte es bei Ren gar nicht erst funktionieren, da er schon unter der Kontrolle von jemandem stand, aber bei einem Mischling konnte man sich nie sicher sein. Shin hatte nicht den Eindruck gemacht, als ob er sonderlich mächtig wäre, aber auch bei Aurun konnte es vorkommen, dass er sich geringer gab als er eigentlich war. Nachdenklich wischte Ren sich den Mund ab und dachte über die Möglichkeiten nach die ihm jetzt noch blieben. Es sah nicht sehr rosig aus. Er hatte Nell wohl verloren, sich noch einmal Shin zu stellen stand außer Frage für ihn. Ren musste sich wohl einen neuen starken Freund suchen. Jemanden auf den man sich auf dem Schulgelände verlassen konnte. Seit langem bedauerte er es mal wieder, dass er hier festhing. Ren atmete tief ein und fragte sich, warum jemand wie Shin hier gefangen war.
„Es geht mir wirklich gut.", versicherte Shin und prüfte dabei, ob seine Nase auch wirklich nicht gebrochen war. Er saß im Büro von Amelia, die ihm jetzt stumm befahl endlich still zu halten, damit sie ihn richtig versorgen konnte. Es war nicht sehr einfach, besonders weil hinter ihm Cers wütend auf und ab ging. Das Zweigestaltige Wesen hatte Shin auf dem Flur aufgelesen und sofort die Verletzung registriert. Danach hatte es keinerlei Widerstand zugelassen und ihn sofort zu Amelia geschleppt.
„Möchtest du es berichten lassen?", fragte Amelia sehr ruhig und tupfte etwas Blut aus Shins Gesicht. Ihre Gelassenheit deutete darauf hin, dass solche kleinen Verletzungen öfters vorkommen mussten, trotzdem ging sie ihrer Pflicht nach und fügte hinzu: „Wenn du die Person kennst die es war, kann ich sie bestrafen lassen. Oder ich kann es direkt an deine Eltern weiterleiten lassen. Wirkliche Gesetzlichkeiten können wir hier nicht zulassen, aber die Aufsichtsmaßnahmen rund um den Täter können erhöht werden."
Cers blieb stehen und beide Köpfe fragten gleichzeitig: „Du weißt doch wer es war, oder?"
Drei Augenpaare ruhten jetzt neugierig auf Shin und da zwei von ihnen zu einem Wesen gehörten, wurde ihre Intensität noch verdoppelt. Nervös versuchte er den brennenden Schmerz von dem Desinfektionsmittel zu ignorieren, mit dem Amelia jetzt sein Gesicht behandelte. „Nun ja ich weiß theoretisch wer es ist, aber..." Er wollte es nicht sagen, nicht jetzt. Ren war seine Chance um herauszufinden was sein Vater war, denn so wie er reagiert hatte war es eindeutig, dass er etwas wissen musste. Vielleicht konnte er Ren ja bestechen, dass er ihn nicht an die Schuldirektion verpetzte und er ihm dafür etwas verriet. „... ich will mich nicht am ersten Tag schon unbeliebt machen.", beendete er behelfsmäßig seinen Satz.
Amelia verdrehte zu seiner Überraschung genervt die Augen. „Das ist wirklich nervig. Immer dieses Machtgefüge. Als würde man dich in Ruhe lassen wenn du dich so verhältst, aber na gut." Sie war fertig damit ihn zu verarzten und Shin stand auf und verabschiedete sich.
Nervös ging er an Cers vorbei, murmelte noch ein: „Dankeschön." Und verschwand durch die Tür nach draußen.
Cers gab ein nachdenkliches Grummeln von sich. „Es gefällt mir nicht."
„Was gefällt dir nicht?", fragte Amelia abwesend und packte den Erste-Hilfe-Koffer wieder zusammen.
„Er wurde verletzt und kümmert sich nicht um eine ordentliche Bestrafung. So sollte er sich nicht verhalten, er sollte Vergeltung üben.", Cers nickte mit beiden Köpfen, während ein Augenpaar auf die Tür und das andere auf Amelia gerichtet war.
Die junge Frau ließ sich davon nicht verunsichern. Sie strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht und starrte zurück. Sie konnte sehr überzeugend starren und Cers senkte recht schnell den Blick. „Nun", sagte Amelia. „Du hast anscheinend bemerkt was Shin ist. Hast du etwa wieder Beschützerinstinkte entwickelt? Das ist doch ein Fortschritt."
„Hm.", brummte Cers, wusste nicht was er darauf antworten konnte. Es war schon zu lange hier, als dass es sich noch genau daran erinnern konnte wie es früher war. Es zuckte mit seinen vier Schultern und folgte dann Shin hinaus.
Amelia seufzte und wühlte ein wenig sinnlos in den Schubladen ihres Schreibtisches herum. Ihr war so schrecklich langweilig. Sie vermisste die schmutzigen Straßen der Stadt und sehnte sich nach den Schatten, doch leider war sie hier gefangen.
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