Willkommen an der Loup Parole
„Shin... es ist sehr kalt hier."
Er öffnete die Augen und starrte an die Decke seines Zimmers. Jemand hatte seinen Namen gerufen. Die Stimme kam ihm so bekannt vor. Ohne sich zu fragen wie er wieder nachhause gekommen war, stand er auf und lief langsam den Flur hinunter zur Küche. Er wusste genau was er zu tun hatte. Er kniete sich auf den gefliesten Boden vor das Eisfach das sich unter dem Kühlschrank befand. Ohne zu überlegen, legte er seine Hand an den stählernen Griff und öffnete es. Kühle Luft schlug ihm entgegen.
„Endlich.", sagte eine Stimme.
Er griff in das Eisfach und hob etwas heraus. Es war...
Dario.
„Shin. Ich bin immer noch hier."
Er hielt den Kopf zwischen seinen Händen und bemerkte, dass er weder Angst noch Entsetzen verspürte. Nur fragte er sich was das hier dann zu bedeuten hatte. Solche Träume hatte man, um im Anschluss daran schweißnass und mit klopfendem Herzen zu erwachen. Das hier war nicht richtig.
Darios Kopf verdrehte die Augen. „Ich bin immer noch hier. Woran erkennst du die Träume und warum hast du Angst vor ihnen, obwohl du weißt was sie sind?"
Er dachte fieberhaft nach und versuchte die Worte im Gedächtnis zu behalten, doch in dem Moment als sie ausgesprochen waren, drohten sie auch schon wieder zu verschwinden. Etwas anderes erweckte seine Aufmerksamkeit. Ein Geräusch das schon die ganze Zeit über dagewesen sein musste. Er konnte sich nicht daran erinnern, dass es irgendwann eingesetzt hatte, deswegen musste es permanent gewesen sein. Es war ein rhythmisches Kratzen an der Wohnungstür. Er wollte aufstehen.
„Jemand kommt! Du musst mich verstecken."
Er nickte und setzte den Kopf zurück in das Eisfach. Er schloss es wieder. Er stand auf. Das Kratzen hatte aufgehört.
Shin erwachte nicht schweißnass und mit klopfendem Herzen. Er erwachte langsam aus einem Traum, bei dem er schon lange verstanden hatte, dass es sich um einen Traum handelte. Er zwang sich dazu, langsam wieder in die Realität zurückzukehren und versuchte gleichzeitig die letzten Wortfetzen von Dario im Gedächtnis zu behalten, doch sie entglitten ihm. Als er endgültig wieder wach war, bekam er die unbequeme Lage zu spüren, in der er sich den ganzen Schlaf lang befunden hatte. Er lag auf der Sitzbank in seinem Zugabteil. Leise ächzend richtete er sich auf und musste sich erst einmal strecken. Ein Blick auf die Uhr verriet ihm, dass er in einer halben Stunde sein Ziel erreicht hatte. Der Zug näherte sich langsam der Küste und je weiter sie kamen, desto mehr Leute verließen ihn an den letzten Haltestellen. Shin öffnete sein Fenster und eine leise Ahnung von Salzwasser drang hinein. Irgendwo erklang der Ruf einer Möwe und erweckte eine Kindheitserinnerung die er am Meer verbracht hatte. Zusammen mit Tante, Onkel und Cousin. Shin schloss kurz die Augen, aber es waren keine Details mehr da.
Schließlich hieß es Endstation: Loup Parole.
Mit neugierigem Blick, verfolgte er wie sie über einen engen Landstreifen dahinglitten und sich vor ihnen ein imposantes Gebäude auftat. Der Zug fuhr in den geräumigen und leeren Bahnhof ein und kam langsam zum Stehen.
Shin erhob sich, belud sich mit seinem Gepäck und verließ sein Abteil. Als er die Tür nach draußen öffnete, fiel ihm auf, dass er tatsächlich der letzte Passagier im Zug gewesen war. Der Bahnhof war dafür umso beeindruckender. Die Decke ragte weit hinauf und durch die Dachfenster glitzerte die Meeressonne, einzig gestört durch die vereinzelten Tauben die im Dachgewölbt nisteten. Shin sah sich bewundernd um, bis er die junge Frau bemerkte, die am Ausgang zur Loup Parole stand und ihm zuwinkte. Er ging zu ihr und auf ihrem Gesicht breitete sich ein Lächeln aus. „Shin Balor?", fragte sie freundlich und machte einen Knicks. „Du darfst mich Amelia nennen, ich bin eine der Aufseher und bin in Zukunft für deine Entwicklung hier verantwortlich. Willkommen an der Loup Parole."
Shin bemerkte natürlich, wie sie zwar seinen Namen wie eine Frage stellte, jedoch keine Antwort erwartete. Lag es nur daran, dass Shin die einzige andere Person hier am Bahnhof war, oder wusste sie schon wie er aussah? Gedanklich zuckte er mit den Schultern. Eigentlich war es ja auch nicht wichtig. „Hallo", grüßte er stattdessen zurück und musste gleich seine erste Frage stellen: „Was bedeutet das, sie sind für meine Entwicklung verantwortlich?"
Sie lächelte: „Wir werden uns einmal in der Woche treffen und wir reden über deine Fortschritte. Besonders im Umgang mit deinen Fähigkeiten. Wir müssen schließlich darauf achtet, dass du sie wieder unter deine Kontrolle bekommst. Aber genug davon! Komm mit ich zeig dir die Schule." Amelia schritt auch schon voran und Shin blieb nichts anderes übrig als ihr zu folgen, während sich in seinem Kopf schon neue Fragen häuften. Er hatte bei der Anmeldung an die Schule etwas ausfüllen müssen, warum er an die Schule musste und er hatte „Wegen magischer Beeinflussung meiner Mitmenschen" geschrieben. Aber so wie Amelia sich anhörte, wusste sie über alles Bescheid. Oder sie tat nur so kompetent wie möglich. Der Inkubus warf ihr einen misstrauischen Blick zu. Leider konnte er sie überhaupt nicht einschätzen.
Sie verließen das Bahnhofsgebäude und was er draußen sah, übertraf seinen Eindruck von dem Bahnhof bei weitem. Sie schritten durch drei riesenhafte Torbögen und gelangten auf die Insel der Loup Parole. Hier war es wie in einem Schloss, doch keines das sich auf einem Berg auftat und in die Höhe ragte, sondern ein gepflegtes Anwesen im Stil des 18. Jahrhunderts. Das Gebäude lag breit und U-Förmig um die Halbinsel und hatte seine offene Seite nach außen gewandt, so dass es die Landseite vom Meer abschloss. Hohe und helle Mauern taten sich vor ihnen auf und der gepflegte Rasen wirkte wie in einer Parkanlage. Als sie durch das Haupttor in den Innenhof des Schlosses kamen, sah Shin, dass es hier auch noch kleinere Gebäude gab und sich die eine Seite des Haupthauses bis über das Meer zog und dort von monumentalen Säulen gestützt wurde. „Es ist so groß. Ist das wirklich eine Schule?"
„Alle sind am Anfang überrascht. Aber wir haben ja auch Schüler aus dem ganzen Land. Es gibt auf jedem Kontinent mindestens ein solches Gebäude der Loup Parole." Amelia strich sich eine Haaresträne aus dem Gesicht und sah aufs Meer hinaus. „Aber das hier ist natürlich eine der Größten."
„Wie viele Schüler gibt es denn?", fragte Shin eifrig.
Doch er bekam keine Antwort. Stattdessen, sah er für einen Moment wie Amelia das Gesicht verzog und dann schnell entgegnete: „Du solltest jetzt dein Zimmer aufsuchen und dich häuslich einrichten. Ich habe noch ein paar Dinge zu erledigen. Die Schlafsäle befinden sich im Ostflügel." Sie nickte ihm zu und war schneller verschwunden, als Shin: „Äh was?" sagen konnte und schon stand er allein in dem Eingang. Verloren sah er sich um, es war niemand in der Nähe, nur unten im Hof sah er vereinzelt Leute. Er wusste überhaupt nicht was er jetzt machen sollte und schon gar nicht wo sich der Ostflügel befand. Schließlich kramte er einen ziemlich zerknitterten Brief hervor und faltete ihn umständlich auf. Es war das Antwortschreiben als er in der Schule aufgenommen worden war und hier stand auch irgendwo eine Zimmernummer. Dort war sie: Ostflügel 2686. Diese Zahl, sie hatte vorher kaum seine Aufmerksamkeit erregt, aber plötzlich war er sich ihrer Höhe bewusst und er wusste auch, dass es hier ausschließlich Zweierzimmer gab. Er war sich bis gerade eben nicht über die Ausmaße dieser Schule im Klaren gewesen.
Das erste Problem offenbarte sich also schon direkt nach seiner Ankunft. Da Amelia ihm ihre Hilfe verweigert und einfach abgehauen war, stand er jetzt ziemlich aufgeschmissen im Torbogen und suchte vergebens nach irgendwelchen Hinweisschildern. Nirgendwo war ausgeschildert wo sich was befand. Als Notlösung überlegte er sich gerade, wo sich denn Osten war, als plötzlich jemand hinter ihm fragte: „Brauchst du Hilfe?"
Shin zuckte erschrocken zusammen. Er hatte gar nicht bemerkt, dass sich jemand angeschlichen hatte. Er drehte sich herum und sah einen Jungen mit fuchsroten Haaren, der ungefähr in seinem Alter war.
„Äh ja!", sagte Shin schnell. „Weißt du wo der Ostflügel ist?"
„Im Osten natürlich.", witzelte der Junge und hob den Blick. „Das ist..." Doch er brach ab und starrte Shin perplex in die Augen.
„Was ist?", fragte der Inkubus.
„Oh, gar nichts." Der Junge hatte sich sehr schnell wieder gefangen, doch seine ganze Haltung hatte sich mit einem Schlag verändert. Shin fühlte sich plötzlich sehr von ihm gemustert. Der Junge wies mit einem Lächeln zur linken Gebäudehälfte, an die sich die Gärten anschlossen. „Dort ist der Ostflügel.", sagte er. „wenn du dich dort nicht zurechtfindest, frag einfach beim Gewächshaus nach."
„danke", sagte Shin sofort und blickte dem Jungen nach, wie er die Haupttreppe vor ihm hinunterging. Shin sah noch einmal über den Hof. Er hätte schwören können, dass der Ostflügel auf der rechten Seite war, aber er machte sich nicht allzu viele Gedanken. Aus welchem Grund sollte ihm auch jemand die falsche Auskunft geben. Doch den Blick des Jungen vergaß er nicht, war darin etwa Angst gewesen? Es deprimierte Shin ein wenig. Er war noch nie verängstigt angesehen worden.
------~✧ ✧~------
Nach einer halben Stunde, die er einzig und allein damit verbracht hatte den Hof zu überqueren, stand Shin vor dem Gebäudeteil der ihm als Ostflügel verkauft worden war. Es sah ganz und gar nicht nach einem Wohnheim aus. Nach einer vollen Stunde war er sich ziemlich sicher, dass es nicht der Ostflügel war. Ziemlich stinkig lief er im Erdgeschoss an leeren Klassenzimmern vorbei, bis er ans Ende des Gebäudes kam, wo es nur noch AG-Räume gab. Was hatte der komische Junge gesagt? Er solle im Gewächshaus nach dem Weg fragen. Es konnte ja nichts schaden, oder? Besser mal nachfragen, vielleicht kam ja dabei heraus, dass er doch hier richtig war und er sich noch eine Runde über den Hof sparen konnte.
Das Gewächshaus schloss sich ganz am Ende an das letzte Zimmer an und gehörte zur Botanik AG. Der AG-Raum war offen und Shin fand dort niemanden vor. Er durchschritt ihn, bis er vor der trüben Glastür des Gewächshauses stand. Ohne zu zögern öffnete er sie und ging hinein. Shin sah mit einem Mal grün, was vor allem daran lag, dass er zielstrebig in eine Palmenpflanze gelaufen war. Jemand hatte sie direkt vor dem Eingang abgestellt und Shin hatte nicht darauf geachtet. Jetzt kam er der fremden Pflanze etwas näher als ihm lieb war und gemeinsam stürzten sie zu Boden. Shins Gepäck das er bei sich hatte, trug sicherlich auch seinen Teil dazu bei und verfing sich eifrig um die langen Blätter. Er wandte sich irgendwie daraus hervor indem er seinen Rucksack und Umhängetasche abwarf und richtete sich etwas außer Atem auf. Das war verdammt uncool gewesen, hoffentlich hatte ihn niemand beobachtet. Als er sich umsah, fiel er schon über den nächsten Pflanztopf, doch anstatt direkten Bodenkontakt zu erfahren, spürte er wie ihn jemand am Hals packte und gegen die Wand drückte. Shin wurde der feste Griff um seinen Hals erst wirklich klar, als sich der Angreifer über ihn beugte. „Hast du vielleicht einen Todeswunsch?"
In dieser Frage lag keinerlei Aggression, sie war einfach nur gefragt und zu Shins entsetzen erkannte er auf dem Gesicht des Angreifers eine ehrlich fragende Miene. „Hngln", gab Shin von sich. Es war sehr schwer zu sprechen wenn einem der Hals zugedrückt wurde von... eine plötzliche Leere breitete sich in Shin aus, als er begriff, dass sich keine Finger um seinen Hals schlossen, sondern Klauen. Schwarze schuppige Klauen, die in dunklen Krallen endeten. Nach oben zu den Armen hin, wurden die Schuppen immer weniger, bis sie komplett in menschlicher Haut verschwanden. Es war kein abruptes Ende, es war ein fließender Übergang. Shin nahm all seine verbleibende Kraft hervor und presste: „...Entschuldigung...", heraus.
Der Griff um seinen Hals lockerte sich ein wenig und das Lächeln des Krallenträgers wurde etwas düsterer. „Du kommst ohne anzuklopfen herein und fängst an zu randalieren. Es wird mir eine große Freude bereiten dich Stückchen für Stückchen zu zerquetschen."
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top