Über dem Meer

Die Loup Parole lief an der Längsseite ins Meer hinaus, so dass man von den Fenstern der Schlafräume das Geräusch der Wellen hören konnte. Das Fenster war geöffnet und das gleichmäßige Rauschen raubte ihm den Schlaf, aber es war zu warm um es zu schließen. Shin gab irgendwann auf und stand aus dem Bett auf. Er zog sich ein Oberteil über, blieb dann einen Moment in der Mitte des Zimmers stehen und starrte auf Rens leeres Bett. Die Erinnerungen an Ren wurden langsam verdrängt und ließen ein unbestimmbares Bild zurück, das Shin nicht mehr einzuordnen wusste. Es war zu viel kaputt gegangen und er merkte, dass er nicht mehr hierbleiben konnte. Nicht in diesem Zimmer, wo sich langsam die letzten guten Erinnerungen verformten und zu Alpträumen wurden.

Er ging hinaus in den dunklen Flur. Er wusste nicht einmal wie viel Uhr es war, aber irgendwie war es auch besser so. Wie lange er wohl warten müsste um den Sonnenaufgang zu sehen? Er kam an eine Tür mit einem sehr eindringlichen ‚Betreten verboten' Schild und öffnete sie. Sie war eigentlich immer abgeschlossen und doch brauchte es jetzt nur einen kleinen Schubs und sie gab ohne Einwände nach. Shin lief ein enges Treppenhaus nach oben und gelangte so hinauf aufs Dach. Es war nicht ganz gerade, lief leicht abgeflacht aufs Meer hinaus und bestand aus grünen Dachziegeln. Bestimmt nicht ganz ungefährlich. Dann sah er in der Dunkelheit schon jemanden hier sitzen und erkannte ihn seltsamerweise sofort: „Nell?"

Nell sah zu ihm hoch. Sein rechtes Auge war von einem Verband geschützt und der rechte Arm verbunden und in einer Trage, aber ansonsten sah er wieder sehr lebendig aus. Er lächelte als er Shin erkannte und Shin hatte das Gefühl, dass er diese Zuneigung nicht verdiente.

„Geht es dir besser?", fragte Shin.

Nell winkte ihn mit der linken Kralle zu sich und Shin setzte sich neben ihn. Nell seufzte genervt und sagte mit sehr leiser und rauer Stimme: „Kannst du dich nicht auf die andere Seite setzen? Ich will nicht dauernd den Kopf drehen müssen."

Also stand Shin wieder auf und setzte sich auf Nells linke Seite. Kaum hatte er das getan, legte Nells Klaue sich um Shins Hand und sie blieben eine Weile so sitzen und lauschten den Wellen. Hier an dieser Stelle klangen sie gar nicht mehr so schlimm, wie noch unten in dem dunklen Schlafzimmer. Shin musste irgendwann eingenickt sein, denn plötzlich wachte er mit dem Kopf auf Nells Schulter auf. Er setzte sich schnell wieder normal hin und starrte in die dunkle Ferne. Er wusste nicht was er sagen sollte, auch wusste er nicht, ob es überhaupt etwas zu sagen gab. Er sah zu Nell und ihre Blicke trafen sich. Shin sah schnell weg und fragte dann: „Seit wann bist du wach?"

„Seit heute Abend. Ich wollte dich nicht wecken, weil Balgir meinte, dass du die letzten Tage kaum geschlafen hast." Nells Stimme war immer noch rau und es fiel ihm sichtlich schwer zu sprechen.

„Es tut bestimmt weh.", hörte Shin sich sagen und verfluchte sich schon für diese unnötigen Worte.

„Es heilt wieder. An meinem rechten Arm sind schon ein paar Schuppen nachgewachsen, er sieht nur noch ein wenig menschlich aus. Wenn du die Versiegelung nicht zerstört hättest, wäre es schlimmer ausgegangen."

„Und dein Auge?"

Nell schwieg und seine Klaue schloss sich etwas fester um Shins Hand.

„Nell... Es ... es tut mir Leid.", brachte Shin hervor.

„Es ist nur ein Auge und ein wenig kann ich noch damit sehen, Licht und Schatten und so. Also mach dir keinen Kopf.", sagte Nell hastig und sah Shin dabei seltsam besorgt an.

„Es ist meine Schuld.", murmelte Shin.

Nell seufzte. „Balgir hat auch gesagt, dass es seine Schuld ist. Er konnte Aren nicht angreifen, weil er glaubt, dass es immer noch Ren ist. Cian hat ebenfalls gesagt, dass ich wegen ihm verletzt bin, weil er Angst hatte und nicht schnell genug gehandelt hat."

„Aber das ist-", begann Shin, doch Nell unterbrach ihn, indem er seinen Satz beendete:

„Schwachsinn." Er nickte und fuhr dann fort: „Und ich denke es war meine Schuld. Ich habe euch alle in Gefahr gebracht, weil ich es für eine gute Idee hielt mit den Unsterblichen im Tempelberg zu verhandeln und dich zu einen Pakt überredet habe. Nach meinem Ermessen ist es meine eigene Schuld."

„Aber... du verstehst nicht. Ich habe euch angegriffen und wenn du nicht dabei gewesen wärst, hätte ich Balgir wahrscheinlich getötet. Und Aren hatte es nur auf mich abgesehen. Wenn ich nicht so... wenn ich mich ihm einfach hingegeben hätte, wäre er gar nicht auf die Idee gekommen euch zu beseitigen." Shin starrte weiter in die Dunkelheit, nicht in der Lage Nell anzusehen.

Daraufhin ließ Nell seine Hand los und Shin spürte einen Stich im Herzen, doch dann legte Nell seinen Arm um Shins Schultern und zog ihn zu sich. „Dafür musst du dich nicht entschuldigen. Das Blut der Unsterblichen verdreht dich und lässt dich seltsame Dinge tun. Was auch immer Aren mit dir angestellt hat ist einzig und allein auf ihn zurückzuführen. Weißt du, ich bin auch mal unter den Bann eines Unsterblichen gefallen, obwohl es wahrscheinlich keine Absicht war. Ich habe dadurch viele unüberlegte Dinge getan."

Shin spürte, wie Nell mit der Klaue an seinem Hals entlangfuhr, genau dort wo er die Narbe hinterlassen hatte.

Es konnte eine beiläufige Geste sein, doch Shin hätte nicht sagen können, worauf Nell mit dem was er gesagt hatte, sonst hinaus wollte. „Erinnerst du dich an alles?", fragte er.

Nell schmiegte sein Gesicht an Shins Hals und flüsterte: „Ich erinnere mich an alles was Aren versucht hat mich vergessen zu lassen. Und ich weiß noch was ich zu dir gesagt habe, als ich verletzt wurde. Aber je mehr ich versuche mich zu erinnern warum ich es gesagt habe und warum ich dich so genannt habe, desto mehr verschwindet es."

Shin legte seine Arme um Nell und spürte seine Wärme. Und er merkte, dass Nell weinte. Leise. Also sagte er nichts, bis Nell wieder aufsah und ihn fragte: „Geht es dir überhaupt gut?"

„Ja.", antwortete Shin und wunderte sich über Nells plötzliche Sorge.

„Du warst für eine ganze Woche unter Arens Kontrolle und bist es theoretisch auch jetzt."

„Oh.", Shin fuhr reflexartig mit der Hand über die Stelle, die Aren markiert hatte. Es war so gut verheilt, dass es kaum mehr zu erkennen war. „Ich glaube ich trage noch zu viel von seinem Blut in mir, als dass ich wirklich begreife was er mit mir angestellt hat. Der erste Schock ist vorüber, aber ich glaube wenn es weg ist wird mir erst wirklich bewusst was geschehen ist. Ich versuche die Zeit so gut wie möglich zu nutzen." Shin versuchte zu lächeln, merkte jedoch, dass es etwas schwach ausfiel.

Sie umarmten sich fester und keiner von beiden sagte mehr ein Wort. Sie saßen zusammen in der endlosen Dunkelheit der Nacht. Nur sie und das Rauschen des Meeres. Als wären sie allein in der Welt, in einem See aus Finsternis, nur mit der Wärme ihrer Körper, die sich einfach nur aneinander festhielten.

Dann, viel zu schnell, fing an die Sonne aufzugehen und als der Morgen über sie hereingebrochen war, verließen sie ihre kleine Welt hier oben über dem Meer und gingen hinein um sich dem zu stellen, was auf sie wartete.

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