Sumpfschattenfee
Sie machten sich ans Aufräumen. Es sah so aus, als hätte Cian es mit seiner Magie geschafft den Pflanzen das Wasser zu entziehen, so dass sie das meiste nur noch zusammenkehren und in Mülltonnen stopfen mussten. Balgir hatte zuerst versucht sich aus dem Staub zu machen, was nicht geklappt hatte, da er von einem freundlich lächelnden Cian wieder zurückgewunken wurde. Also half er weiter und ließ seine Aggression an den toten Pflanzen aus. Shin wartete einen günstigen Moment ab wo er sich neben Cian befand und fragte: „Es sieht so aus, als hätten die Pflanzen ihr Wasser verloren. Das klingt auch ganz logisch, aber was ist mit dem Wasser passiert? Ist es zurück in den Boden, oder sehr schnell verdunstet?"
Das Gesicht des Dunkelelfen verzog sich etwas, als er darüber nachdachte. „Es ist Magie.", schloss er schließlich, wirkte aber noch etwas verunsichert. „Vielleicht habe ich an einen anderen Ort geschickt. Ich weiß nicht. Warum fragst du das überhaupt?"
Shin zuckte mit den Schultern. „Ich wollte nur wissen, ob du das weißt, aber ich schätze solange es funktioniert, kann es dir ja egal sein."
„Ja..." Cian lächelte, denn er würde niemals zeigen wie sehr ihn diese Aussage doch ärgerte. Doch zum Glück trug sich das Gespräch nicht weiter fort, denn plötzlich stach ihnen allen ein beißender Gestank in die Nase. Ren hatte es wohl schon etwas früher bemerkt, denn als der Geruch intensiver wurde, hielt er sich die Hand vor den Mund und bekam eine leicht ungesunde Farbe im Gesicht. Kurz darauf kam ein gut gelaunter Nell durch die offene Tür und verfiel mit seiner Laune sofort ins Negativ. Er sah sich anklagend im Zimmer um, als würde ihn der Tot der Pflanzen schwer treffen. In der Hand hielt er einen Eimer der sich als Quelle des üblen Geruchs identifizieren ließ. Etwas darin gab einen gurgelnden Laut von sich.
„Nell, was ist das?", rang Shin sich endlich zum Sprechen durch. Eigentlich war dies der Moment in dem Ren etwas sagen würde, doch dieser war gerade darauf konzentriert seinen Mageninhalt nicht in die nächste Komposttonne zu entleeren.
Nell schnaubte. „Hab ich aus der zoologischen AG. Ich wollte es für die Pflanzen benutzen, aber ist ja jetzt egal. Sie sind ja schon tot." Er machte Anstalten den Eimer fallen zu lassen und alle machten synchron einen Satz nach vorne um ihn daran zu hindern. Ren wurde dabei noch grüner um die Nase und wandte sich schnell wieder ab. Ein Grinsen trat auf Nells Gesicht. „Ich werde den Eimer schon nicht fallen lassen." Er stellte ihn stattdessen neben der Tür ab. „Ich bring sie später wieder zurück."
„'Sie'?!", hakte Balgir erschrocken nach.
„Bitte Nell... jetzt.", brachte Ren hervor und lehnte sich gegen die Wand. Sein Gesicht hatte mittlerweile das Stadium des Grün überschritten und war jetzt totenbleich.
Cian lächelte, denn er würde niemals zeigen wie sehr er sich über Nell aufregte. „Was wolltest du tun? Das Zimmer damit in die Verdammnis jagen?"
Shin hatte sich derweil mit zugehaltener Nase dem Eimer genähert um einen Blick hinein zu werfen. Der Inhalt des Eimers sah neugierig zurück. Ihm blinzelte ein kleines Geschöpf mit mehreren tiefschwarzen Augenpaaren entgegen und in dem Licht das in den Eimer drang, glitzerten die zerfetzten Überreste von dunklen Insektenflügeln. „Wie niedlich, eine Fee!", sagte Shin begeistert, auch wenn seine Augen von den Dünsten langsam anfingen zu tränen. „Ist das normal?", fragte er.
„Das ist eine Sumpfschattenfee.", erklärte Cian zwischen zusammengebissenen Zähnen. „Bei Gefahr strömen sie den Todesgeruch aus, der Pflanzen und Tiere abtöten kann. Außerdem ernähren sie sich von Aas und das ist überhaupt nicht niedlich."
Doch Shin hörte nur mit halbem Ohr zu. „Aber warum musst du denn den Todesgeruch verströmen? Niemand hier tut dir etwas.", sagte er zu der Fee, die ein Fauchen von sich gab bei dem ein Gebiss zum Vorschein kam das aus mehreren spitzen Zahnreihen, wie bei einem Hai, bestand.
„Ich habe ihr mal die Flügel kaputt gemacht als sie mich gebissen hatte, deswegen reagiert sie wohl so.", erläuterte Nell in sachlichem Ton. „Was eigentlich vollkommen überflüssig ist, weil ihr Abwehrmechanismus bei mir gar nicht funktioniert. Irgendwie haben wir von der Art her eine ähnliche Elementare Eigenschaft. Und jetzt: Wer bist du eigentlich?" Er wandte sich zu Cian.
„Äh.", machte dieser. „Eigentlich kennen wir uns?"
Nell dachte nach. „Keine Ahnung, war wohl nicht wichtig."
Cian lächelte, denn er wollte nicht der erste sein der aufsprang und dem anderen an die Kehle ging, so wie es das letzte Mal passiert war. Wo Nell ihn dann einfach gepackt und aus dem nächsten Fenster geworfen hatte. Ohne seinen geknickten Stolz zu zeigen, sagte er: „Wir waren mal Zimmernachbarn. Für eine ganze Woche."
„Ach du bist das.", sagte Nell wenig beeindruckt. „Ci... Cira...nein."
„Okay! Das reicht!", platzte es aus Cian heraus. „Was ist los mit euch allen?! Wisst ihr denn nicht wen ihr hier vor euch habt?!" Er holte wütend aus und stieß mit dem Ellbogen gegen Shin, der schnell den Halt verlor und mit der ausgestreckten Hand in den Eimer mit der Fee fiel.
„Keine Ahnung! Ich habe halt deinen Namen vergessen!", erklärte Nell gereizt und fragte sich warum der Dunkelelf so ausrastete.
„Au.", machte Shin hinter ihnen.
„Dieses Mal mach ich dich fertig!", rief Cian. Doch noch während seinem dramatischen Ausruf, schob Nell ihn kurzerhand zur Seite um sich zu Shin zu begeben.
„Sie hat mich gebissen.", sagte der Inkubus. Dort wo einer seiner Blutstropfen auf den toten Boden gefallen war, grünte es etwas auf und schnell wischte er es mit der unverletzten Hand weg. „Aber es war begründet, schließlich habe ich sie fast zerdrückt.", erklärte er hastig, sodass Nell seine Hand wieder zurückzog, mit der er gerade nach dem kleinen Wesen greifen wollte um Rache zu nehmen.
„Tut mir leid, ich hätte sie nicht herbringen sollen.", sagte Nell und sah sich dabei Shins winzige Verletzung an, während Cian noch versuchte damit klarzukommen, dass er ignoriert wurde.
Balgirs zögerliche Stimme meldete sich aus dem anderen Ende des Zimmers zu Wort: „Ren ist gerade umgekippt."
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Shin hatte eigentlich gehofft, das Krankenzimmer nicht so schnell wiederzusehen. Doch jetzt saß er zusammen mit Nell, Balgir und seltsamerweise auch Cian im klinisch weißen Flur auf einer unbequemen Bank und wartete. Zu seinen Füßen stand der Eimer mit der Fee, die seit sie von seinem Blut gekostet hatte, keine Gerüche mehr von sich gegeben hatte. Niemanden schien es groß zu kümmern, doch Shin wusste, dass es an seinem Blut lag und an dem Hass den er gegenüber dem kleinen Wesen empfand, als er Ren bewusstlos am Boden gesehen hatte. In diesem Augenblick hatte sie aufgehört ihren Geruch zu verströmen, hatte sich plötzlich ganz friedlich benommen und all ihre Zeit darauf verwendet, Shin unentwegt anzustarren.
Die Fee blinzelte aus ihren schwarzen Augen zu ihm hoch, die ihm unangenehm bekannt vorkamen. Was hatte Nell gesagt? Er und die Fee hatten ähnliche Elementare Eigenschaften? Dann war wohl Abaddon für die Schöpfung dieser Feenart zuständig gewesen. Wie die kleine ihn jetzt anstarrte, sah es jedoch ganz und gar nicht nach dem Neugierigen Blick einer gewöhnlichen Fee aus. Unbehaglich versuchte Shin etwas aus dem Sichtfeld der Fee zu rücken, doch sie ging einen Schritt im Eimer nach vorne und ließ ihn nicht einen Moment aus den Augen. Er starrte misstrauisch zurück und blinzelte. Die Fee kniff zwei der sechs Augen zu und senkte ihren Kopf ein Stück zur Seite. Also fand ein gewisses Maß an Kommunikation statt. Shin konzentrierte sich auf Abaddons Namen, die Fee öffnete sofort ihren Mund und es sah aus, obwohl es für diese Wesen anatomisch unmöglich war, als würde sie grinsen. Na toll, dachte Shin, in dem Eimer sitzt ein Gott.
„Bitte", erklang eine Stimme direkt neben seinem Ohr, die ihn und Cian zusammenfahren ließ. „Entschuldigung, zeig mir bitte den Biss, damit ich ihn behandeln kann." Hinter ihnen stand ein Mann mit Augenringen und verschlafenem Blick. Er schnieft und griff ohne noch länger auf eine Reaktion zu warten, über Shins Schulter nach dessen Hand.
Die kalte Berührung ließ Shin wieder klar denken. „Ach ja, der Biss.", sagte er hastig und leistete keinen Widerstand, als der Mann, der sich nuschelnd als Arzt dessen Namen niemand verstand vorstellte, die Wunde in Augenschein nahm.
„Sieht nicht so aus, als hätte sich irgendein Gift angesetzt. Feen benutzen oft Gifte, aber das was bei der Kleinen drin war, wurde wohl von deinem Blut abgebaut, interessant.", sagte er mit müder Stimme und mit so geringem Interesse, dass es schwer fiel die Signifikanz seiner Worte zu erkennen. Shin hoffte, dass die anderen es einfach gar nicht zur Kenntnis nahmen.
„Bei mir hat das Gift auch nicht funktioniert als sie mich gebissen hatte, aber es lag daran, dass sie bei meinen Händen nicht durch die Haut gekommen ist.", erklärte Nell. „Wie genau kann Blut das Gift denn abbauen?", fragte er den Arzt und Shin wünschte sich, dass Nell jetzt gerne von Ankamna entführt werden könnte, doch niemand tauchte auf oder verschwand.
Zum Glück war der Arzt so verschlafen, dass er sich nicht so viele Gedanken darüber machen wollte. „Du bist ein Dämon?", fragte er Shin nur.
Shin nickte.
„Bei Dämonen passieren manchmal unerklärliche Sachen.", womit die Sache für ihn erledigt war.
Shin atmete erleichtert auf.
„Aber er ist doch nur ein Inkubus.", sagte Balgir halblaut. Den ersten Satz den er herausbrachte, seitdem Ren umgekippt war. Womit er dann auch die ganze Sympathie zerstörte, die Shin schon fast wieder für ihn empfunden hatte.
Ein Funke aus Interesse ließ sich in den Augen des Arztes erkennen, was ihn nach Shins Einschätzung sogar einen Moment attraktiv aussehen ließ. „Tatsächlich? Hier?", fragte der Arzt, räusperte sich dann jedoch und sagte wieder mit monotoner Stimme: „Gerade deswegen sollten wir den Effekt nicht unterschätzen, diese Dämonenart neigt dazu sich stark mit anderen Wesen zu vermischen und beeindruckende Fähigkeiten hervorzubringen." Er gähnte und klopfte Shin auf den Kopf. „Ich hol dir ein schönes Pflaster für auf den Biss."
Das Pflaster war hellrot mit einem weißen Hasenmuster. Shin starrte es etwas ungläubig an, ein Gegenstand dessen Auftauchen dafür sorgte, dass man etwas aus der Bahn geworfen wurde. Die kleinen Häschennasen hatten eine Herzform. „Wie niedlich.", sagte er zum zweiten Mal an diesem Tag, jetzt jedoch mit etwas weniger Begeisterung.
„Wie geht es Ren?", fragte Nell, während er nach Shins Hand griff und sich das Pflaster ansah.
„Kommt wieder auf die Beine. Ihr könnt hier auf ihn warten, aber er wird wohl noch eine Stunde ausruhen müssen, ich habe ihm ein Mittel zur Entgiftung gegeben. Ihr solltet mit solchen Sachen etwas vorsichtiger sein." Er winkte zum Eimer mit der Fee und kehrte in das Arztzimmer zurück.
Shin sah zu den anderen. „Was sollen wir machen?"
„Vampir...", flüsterte Balgir. „Auf jeden Fall etwas Untotes."
Cian schnaubte. „Tipp ich auch drauf, aber er scheint neu zu sein, ich kenne ihn jedenfalls nicht.", worüber er sich etwas zu ärgern schien.
„Warum? Wegen den Augenringen?", warf Nell ein. „Es ist ein Wesen der Nacht. Aber kein Vampir, die dürfen nicht in Kliniken von Lehranstalten tätig sein."
„Ist das nicht vollkommen egal?", beschwerte Shin sich. „Ich habe etwas gefragt!"
„Ach ja.", Balgir beugte sich vor, so dass er an Nell vorbei direkt zu Shin sehen konnte. Mit einer beiläufigen Handbewegung strich er sich die dunklen Haare aus der Stirn und Shin erschrak wie anders der Dämon aussah. Vor ein paar Tagen war er noch der gleiche Idiot wie früher gewesen, oder hatte er schon immer diesen Blick gehabt? Shin hatte sich nie wirklich die Gelegenheit gegeben sich genauer mit ihm zu beschäftigen. „Ich bleibe hier und warte bis er wieder aufwacht, ihr könnt gehen.", sagte Balgir.
Cian erhob sich als erster und war mittlerweile wieder die Freundlichkeit selbst. „Dann hoffe ich es geht ihm schnell wieder gut. Ich sorge dann mal dafür, dass im AG-Raum wieder eine Arbeitsatmosphäre entsteht.", er zwinkerte und fügte an Nell und Shin gewandt hinzu: „Ihr müsst mir nicht helfen."
„Oh gut, hatte ich auch nicht vor.", sagte Nell und sie starrten sich ein paar Sekunden herausfordernd an, bis Cian drohend meinte: „Ich bin noch nicht fertig mit dir, Bellefleur!"
Nachdem Cian hinfort geschritten war, sagte Balgir: „Er hat sowieso Leute die das für ihn machen. Könnt ihr die Fee mitnehmen?"
„Ja." Shin griff nach dem Eimer und die Fee, oder war es wirklich Abaddon(?), streckte ihre Arme nach ihm aus. „Kann ich sie behalten?", fragte er Nell, als sie auf dem Weg zu den Schlafsälen waren.
„Klar, niemand wird sie vermissen, aber teilst du dir nicht ein Zimmer mit Ren?"
„Sie wird nichts mehr machen.", versicherte Shin. Und selbst wenn die Fee nicht zu dem Träger eines Gottes geworden sein sollte, war er sich sicher, dass sie niemandem mehr etwas tun würde.
Noch verstand er nicht warum.
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Ihm war kalt und er musste sich immer wieder daran erinnern, warum er ausharren musste. Das Bahnhofsgebäude der Loup Parole war so zugig wie es heruntergekommen war. Am ersten Tag war es ihm nicht aufgefallen, aber die Fenster oben an der Decke hatten nur noch vereinzelt Glasscheiben und an diesem Nachmittag hingen die Wolken tief und trieben zusammen mit dem Wind vom Meer über das Schulgelände. Shin machte mit kalten Händen seine Sweatshirt-Jacke zu und wünschte sich seine richtige Jacke mitgenommen zu haben, doch hatte er nicht geglaubt, dass es so lange dauern würde. Der Zug war bereits eingetroffen, nur von Lelio fehlte jede Spur. Ein Anflug von Romantik hatte Shin dazu veranlasst hier aufzutauchen um sich von seinem ehemaligen Freund zu verabschieden. Immerhin war es die erste Partnerschaft gewesen die er geführt hatte und bis zu dem Zeitpunkt als Lelio etwas bösartig und gemein geworden war, war auch alles ganz angenehm verlaufen. Nun stand er hier, versuchte so unscheinbar wie möglich zu sein weil es irgendwie unangenehm war als einzige Person am Bahnhof zu stehen, während ein Menschenleerer Zug wartete. Um sich abzulenken sah er in seine Hand auf der jetzt die Sumpfschattenfee saß. Sie benahm sich so still, wie es einem solchen Wesen nur möglich war und er hatte schon angefangen zu zweifeln, ob sie überhaupt ein Lebewesen war. Es war eher wie eine Puppe die ihn ständig beobachtete. Trotzdem behielt er sie bei sich. Sie saß in seiner Handfläche und ihre kleinen Hände klammerten sich an das Pflaster. Als Shin endlich das Geräusch von Schritten vernahm, hob er sie hoch und setzte sie auf seiner Schulter ab, wo sie sich an dem Kragen seiner Sweatshirt-Jacke festklammerte und das weitere Geschehen verfolgte.
Lelio zog seinen Rollkoffer hinter sich her und blieb ruckartig stehen, als er Shin am Bahnsteig erkannte. Sie sahen sich eine Weile an. Das einzige Geräusch kam von den Motoren der Bahn und Shins eigenes Atmen, das ihm plötzlich viel zu laut vorkam. Lelio stand zwar mindestens zehn Meter entfernt, doch er hörte es bestimmt. Shin dachte etwas verzweifelt daran jetzt einfach zu gehen, wusste aber dass es jetzt zu spät dafür war. Langsam setzte er sich in Bewegung um an Lelio vorbei zu gehen und ganz beiläufig und ganz cool „Tschüss" zu sagen oder „gute Reise". Als er auf Lelios Höhe war, kam dieser ihm zuvor und sagte etwas, das Shin nicht verstand.
„Was?", fragte er automatisch und blieb stehen. Im selben Moment wollte er sich verfluchen denn das war genau das was er nicht gewollt hatte. Er hatte sich einfach nur verabschieden wollen, der Erinnerung wegen und nicht ein Gespräch und am Ende noch eine neue Auseinandersetzung anfangen.
Lelios Ausdruck war ruhig, als hätte er mit dieser Schule abgeschlossen und wäre bereit weiterzugehen. Er bedachte Shin mit einer Mischung aus Interesse und ...war es Mitleid? „Warum bist du hier?", fragte er und ließ den Griff seines Koffers los, wodurch dieser auf den Boden klapperte und sie beide zusammenzucken ließ.
„Ist das nicht offensichtlich? Ich wollte nur kurz herkommen und dir auf Wiedersehen sagen! Ich meine Tschüss, leb wohl!" Shin sah stur geradeaus und ging weiter, wurde jedoch von Lelio am Unterarm gepackt und blieb sofort stehen. Etwas ärgerte er sich über sich selbst, dass er es ihm so einfach gemacht hatte.
„Warte.", sagte Lelio nach ein paar Sekunden, als hätte er erst überlegen müssen was er da eigentlich tat. „Ich habe verstanden, du bist kein gewöhnlicher Inkubus..."
„Selbst, wenn...", begann Shin. „Selbst wenn ich ein normaler Inkubus wäre, was auch immer das bedeuten soll weil niemand von uns normal ist..., selbst dann hast du dich zu unangemessen benommen. Du bist böse." Und er riss sich von ihm los, ging einen Schritt zurück und drehte sich endlich zu ihm um. „Also weiß ich wirklich nicht was es sonst noch zu sagen gibt."
„Du hast recht.", sagte Lelio etwas zerknirscht. „Ich war zu sehr von mir selbst überzeugt, aber du hast das geändert und das war doch gut, oder? Jeder macht mal Fehler und du hast mich wieder runtergeholt. Ich weiß auch nicht was mich geritten hat in diese Schule zu kommen, aber ich weiß jetzt, dass ich einfach nicht hierhergehöre. Und du auch nicht."
Shin hob verwundert den Kopf und blieb in der halben Drehung stehen, die er gerade machen wollte um zu gehen. „Was soll das jetzt?"
Die Entschlossenheit, die Lelio vor ihrem Zusammenstoß zur Schau getragen hatte, kehrte ein Stück weit zurück, als er Shin ansah und sagte: „Du bist stark, aber du bist nicht böse, oder? Komm einfach mit mir mit. Bitte."
„Warum ausgerechnet mit dir? Und jetzt?!", sagte Shin mit schwacher Stimme. Obwohl es auch nichts gab was ihn hierhalten sollte, abgesehen von einem hübschen Nell und einem wachsenden Interesse an den anderen aus der AG. Aber am Ende saß er nur hier fest und fand weder einen Sinn noch einen Zweck darin.
Lelio schien seinen Zweifel zu erkennen und flüsterte: „Die Zeit mit dir war schön. Lass uns zusammen weglaufen und noch mal neu anfangen."
„Wie sehr mir auch manchmal der Sinn nach Romantik steht, glaube ich nicht, dass wir wirklich weglaufen, wenn wir in einen der offiziellen Züge steigen und außerdem ..." Außerdem... was? Shin gab auf und blickte sich in dem ansonsten Menschenleeren Bahnhof um. „Das ist dumm."
„Ich weiß.", antwortete Lelio sofort. „Aber du bist nicht freiwillig hier und wenn man jung ist sollte man mal etwas Dummes tun."
„Ich mache nur die ganze Zeit dumme Sachen, gerade das ist mein Problem.", murmelte Shin.
Lelio legte die Arme um ihn und summte ihm ins Ohr, was Shin sehr gefiel: „Dann ist dies hier vielleicht gar nicht so dumm, sondern genau das Richtige."
Shins Kopf sank gegen Lelios Schulter und er seufzte auf. „Dann entführe mich, bitte." Was machte schon die eine Dummheit mehr oder weniger und auf beiden Gesichtern breitete sich ein Lächeln aus. Shin fühlte sich frei... es war eine der Ideen, die einen beflügelten. Einfach so auszubrechen und irgendwo etwas Neues zu beginnen. Dort wo einen niemand kannte und wo man ein anderer sein konnte. Vielleicht war es dieses mal jemand der ein ordentliches Leben führen konnte. Lelio nahm seine Hand und sie gingen zusammen zum Zug. Lelio hievte seinen Koffer hinein und kam wieder nach draußen um Shin einzusammeln. Das Lächeln auf seinem Gesicht erstarb und er blieb auf der kleinen Treppe die in den Zug hineinführte stehen.
„Was ist los?", fragte Shin in dem Moment, als sich eine Hand auf seine Schulter legte. Eine Hand die eine solche Intensität hatte, dass er das Gefühl hatte, die Gravitation hätte sich um ihn herum verdoppelt. Er sah auf und hatte Amelia neben sich stehen. Sie lächelte und hatte die Augen geschlossen.
„Shin, geh bitte unverzüglich zurück in die Schule.", sagte sie im selben autoritären Ton wie immer.
„Nein.", sagte er. Wenn er den Gesprächen der anderen vertrauen konnte, hatte sie etwas mit seinem Vater zu tun. Der Mann der ihm das alles eingebrockt hatte. Wenn er wollte, dass Shin hierblieb, sollte er gefälligst persönlich kommen und wie hatte Amelia überhaupt herausgefunden was er vorhatte?
Ihre Hand versenkte sich mit Nachdruck in seine Schulter. „Du Musst Hierbleiben.", sagte sie und Shin überkam eine Woge der Panik. Er tauchte unter ihr weg und stolperte ein paar Schritte zurück. „So ist es gut.", sprach sie und öffnete ihre Augen, die so aussahen wie immer.
Sie blieb stehen, bis Shin endgültig vom Bahnhof verschwunden und zurück zur Loup Parole gegangen war. Amelia schloss die Tür des Zuges direkt vor dem perplexen Lelio, dem es einen Augenblick so vorkam, als würden schwarze Schatten über Amelias Augen huschen. „Leb Wohl, Jäger.", sagte sie und der Zug setzte sich in Bewegung.
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