So wird die Welt sein wie sie ist


Lelio blinzelte.

Alles fühlte sich leicht und einfach an. Shin hatte es ihm doch gerade erklärt und er hatte seinen neuen Platz in der Welt gefunden. Es dauerte einige Sekunden, bis er verstand was dieser neue Platz zu bedeuten hatte und als Shin sich von ihm abwandte, drang ein unangenehmes Gefühl an die Oberfläche. Lelio verspürte Panik. Er verkrampfte sich und trat ein paar Schritte von dem Inkubus weg. „Was hast du getan?", fragte er mit einer Stimme die für seinen Geschmack viel zu schwach und verängstigt klang.

Shin zuckte als Antwort nur mit den Schultern und trat vor. Doch Lelio wich der Bewegung aus, machte auf dem Absatz kehrt und stürmte aus dem Zimmer.

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Shin wollte ihm hinterher laufen. Zwar hatte er keine Ahnung was er tun sollte, wenn er ihn eingeholt hatte, aber etwas musste er machen. Sie waren immer noch ein Paar, oder? Wenn er daran dachte, durchdrang ihn ein nie dagewesenes Gefühl von Verantwortung. Er mochte es nicht, genau so wenig wie die Schuld die dadurch ausgelöst wurde. Gerade deswegen musste er hinterher und die Sache aufklären, oder Schluss machen. Das Dilemma sorgte dafür, dass er keinen Gedanken an die Tat verschwendete, die er eben begangen hatte. Wie unwichtig eine Gehirnwäsche doch werden konnte, wenn man sich zum ersten Mal in seinem Leben mit einer Beziehungskrise konfrontiert sah. Gerade als er losgehen wollte, legte sich eine zögerliche Hand auf seine Schulter. Als Shin sich umdrehte, sah er Nell, den er schon fast ganz vergessen hatte. Was er auch nicht wusste war, dass Nells Hand sich gar nicht zögerlich auf seine Schulter gelegt hatte. Eigentlich hatte er fest zupacken wollen um Shin am Gehen zu hindern, doch er hatte immer noch keine Kraft in dieser menschlichen Hand und so war es als wollte er den Inkubus nur sanft am Weggehen hindern. Es hatte ebenfalls seine Wirkung. Zwar nicht die, die Nell eigentlich hatte erzielen wollen, dafür aber etwas das fast genauso gut war, denn Shin sah jetzt mit milder Besorgnis zu ihm auf und sagte: „Es tut mir Leid, dass du das mit ansehen musstest."

„Seid ihr zusammen?", fragte Nell fast zeitgleich. Der Blick der in seinen Augen lag war nur schwer zuzuordnen.

Shin überlegte kurz und antwortete: „Eigentlich... aber du hast ihn ja gehört. Mit so jemandem möchte ich nicht zusammen sein." Und Nells Hand auf seiner Schulter wurde etwas schwerer.

„Vorhin als wir allein waren hast du diese Sachen noch nicht gewusst und dich mir trotzdem angenähert. Du hast wohl nur mit mir gespielt.", stellte Nell trocken fest und ließ wieder keinerlei Gefühlsregung zu.

Shin geriet langsam unter Druck und die Angst die er vor Nell empfinden sollte, machte sich langsam aber sicher wieder bemerkbar. Wenn wenigstens die Hand auf seiner Schulter nicht mehr da wäre, wenn wenigstens die Tür ganz offen stehen würde. „Ich sollte Angst vor dir haben, das hab ich auch. Aber irgendwie finde ich dich auch gleichzeitig ziemlich anziehend." Er wusste was diese Worte für eine Wirkung haben mussten. Während er sprach senkte er leicht den Kopf und lies zu, dass eine minimale Röte in sein Gesicht kam. Jetzt musste er nur den richtigen Moment für seinen Abgang auswählen und schon im nächsten Atemzug tat er alles um Nells Hand abzuschütteln, legte die kurze Strecke zur Tür zurück und streckte die Hand aus. Doch Nell kam ihm zuvor. Er stieß die Tür mit dem Fuß zu, noch bevor Shin sie erreicht hatte. Der Knall der durch die zufallende Tür verursacht wurde, ließ Shin vor Schreck zusammenfahren.

Nell hob die Hände, legte sie je an eine Seite von Shins Kopf und zwang ihn auf diese Weise sanft dazu ihm ins Gesicht zu sehen. „Dann hast du doch keinen Grund jetzt zu gehen.", sagte er mit fester Stimme.

Shins Augen weiteten sich überrascht. „Was redest du?"

Nell verdrehte ungläubig die Augen. „Kann ich noch eindeutiger werden? Bleib hier." Vielleicht war die Bedeutung der Worte wirklich romantisch, doch wie Nell sie aussprach, klangen sie eher wie ein Befehl.

„Bleib....", ein Lächeln huschte über Shins Gesicht, als er Nells Worte halb wiederholte und den Moment auskostete, in dem man verzweifelt versuchte seine Verlegenheit zu überspielen. Der Inkubus hätte nicht erwartete, dass er es in einem so kurzen Moment schaffen würde, solch einen Eindruck bei Nell zu hinterlassen, oder vielleicht war wirklich etwas an den Worten dran, dass er sich in ihn verliebt hatte. Dies war wieder so etwas, das ihn nervös machte. Bisher hatte er noch kein solches Geständnis bekommen, genau wie er noch nie von jemandem gefragt worden war, ob er eine Partnerschaft in Erwägung zog. Er fragte sich ob es an ihm selbst lag, weil er sich langsam veränderte, oder es war diese Umgebung. Er folgte Nell, der langsam dabei war in das Gewächshaus zu fliehen, und betrat hinter ihm den kleinen eingeschlossenen Garten. Shin war bisher nur kurz hier gewesen und zwar in einer kritischen Situation, die keine genauere Analyse der Umgebung zugelassen hatte. Aber es war eine schöne kleine Welt, voller grüner Farben und Leben. Wenn man sich das Versteck eines genialen Bösewichts vorstellte, wollte man an edle Gänge, dunkle Höhlen und hohe Decken denken und nicht an ein stickiges Gewächshaus voller gepflegte Pflanzen. Aber vielleicht war es genau das was Nell so an dieser Arbeit faszinierte, er hatte Kontrolle über die vielen kleinen Leben, die ihm voll und ganz ausgeliefert waren.

Das grelle Licht der Nachmittagssonne, brach sich in dem gläsernen Dach des Gewächshauses und tauchte es in matte Schatten, als sie eine Decke auslegten und sich hinter einer breiten Palme niederließen.

Shin streckte einer Hand aus und strich mit den Fingern durch Nells rabenschwarze Haare. Es schien auszureichen, dass Nells Nervosität verschwand und er wieder ganz in den Bann des Inkubus geriet. Dieser setzte sich wieder auf seinen Schoß und küsste Nells Nacken. „Kann es sein", fragte Shin nach kurzer Zeit „dass du noch keine Erfahrung hast?"

„Du sagst es als wäre es etwas Schlechtes.", murrte Nell und keuchte auf, als Shin mit der Zunge an seiner Ohrmuschel entlangfuhr.

Es war schön für Shin, irgendwie anders. Da Nell mit der Wirkung von Shins Magie einfach nicht umzugehen wusste, fiel er auch nicht sofort über ihn her und sie ließen sich Zeit. Noch dazu waren Nells Hände so ungewohnt für ihn, dass sie ihn daran hinderten sich an Shin zu vergreifen und so konnte der Inkubus ihn küssen wo er wollte und anfassen wo er wollte.

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„Warum hast du es nicht ganz getan... ich meine Männer können es doch auch tun.", erkundigte sich Nell, als sie eine halbe Stunde später nebeneinander lagen und durch die Glasdecke in den Himmel starrten.

„Ich hatte nichts dabei. Es tut weh wenn man es ohne was macht.", erklärte Shin und weil Nell es nicht ganz verstehen wollte, nahm er dessen Hand und hob sie zu seinem Mund. Mit Bedacht schob er sich Ring- und Mittelfinger von Nell in den Mund und begann sie mit der Zunge zu bedrängen, bis er sie wieder herauszog und sie voll von seinem Speichel waren. „Wenn es nicht so ist, dann tut es weh. Es muss feucht sein, wie bei einer ..." er wurde etwas leiser beim Sprechen, als er merkte, dass Nell ihn mit dem Ernst eines eifrigen Schülers anstarrte.

„Ich komme mit diesen Händen einfach nicht zurecht.", sagte er während Shin etwas peinlich berührt Nells Finger an seinem Oberteil abtrocknete.

„Wie ist das eigentlich passiert?"

Nell verzog bei der Erinnerung das Gesicht. „Sie sagten es sei eine Strafe, weil ich dich verletzt hätte. Sie hatten beide goldene Augen. Ich glaube einer von ihnen hieß...Anka...Kamm... keine Ahnung."

„Ankamna!?"

Er sah überrascht zu Shin, der sich plötzlich aufgesetzt hatte und Nell erschrocken anstarrte.

„War es Ankamna?!", fragte Shin noch einmal.

„Ja, ich glaube schon.", antwortete Nell vorsichtig. „Woher kennst du diesen Namen?"

Shin schluckte, unsicher ob er gerade mit Nell darüber reden konnte. Aber es jetzt zu leugnen, würde bedeuten ihr aufgebautes Vertrauen zu zerstören und damit die Chance, dass sie sich noch näher kommen würden und Nell ihn nicht mehr angreifen würde. Stattdessen wich er der Frage aus. „Darf ich noch mal deine Hände sehen? Ich mach dieses Mal auch nichts Komisches!", versicherte er und wandte sich zu Nell. Er nahm den Verband an dem einen Handgelenk ab, wobei ihm natürlich auffiel, dass die Bisswunde schon so verheilt war, dass kein Blut mehr fließen würde. Heilfähigkeiten hatte Nell also nicht eingebüßt und die Stelle an der sich das fremde, aber Shin trotzdem irgendwie bekannte Zeichen befand, war einfach gar keine Verletzung vorhanden. Die Bissstellen hörten einfach an der Stelle auf und gingen ein paar Millimeter davon entfernt ganz normal weiter, als hätte Nell eine Zahnlücke, die dort keine Wunde hinterlassen haben könnte. Shin sah prüfend zu Nell, der sich mittlerweile ebenfalls aufgesetzt hatte und dessen Gebiss vollständig und perfekt aussah. „Sieh dir das an." Er zeigte ihm die gesäuberte Wunde.

Nell folgte der Anweisung, warf einen flüchtigen Blick darauf und zuckte dann mit den Schultern. „Ich habe versucht das Zeichen aufzubeißen. Da es nicht funktioniert hat ist es ja logisch, dass es irgendwie noch da sein muss."

Doch Shin hörte schon gar nicht mehr richtig hin. Die Ruhe die ihm gefehlt hatte, als er zum ersten Mal die Zeichen betrachtet hatte, war jetzt da und er merkte, wie sein Blick davon gefesselt wurde. In gewisser Weise waren ihm die Formen vollkommen unbekannt und auf eine andere, ganz befremdliche Weise, konnte er sich an sie erinnern. Er wusste wie sie aussehen mussten, noch bevor er sie richtig gesehen hatte. Selbst die Stellen die noch etwas von Nells Blut überdeckt waren, sah er klar vor sich.

„Shin, was ist los?"

Nells Stimme riss ihn aus seinen Gedanken. Ohne es zu merken, hatte er Nells Handgelenk immer fester gepackt, während er selbst mit einer schleichenden Panik hatte kämpfen müssen. „Ich weiß nicht...", stammelte er und lockerte seinen Griff, als Nell ihm seinen unverletzten Arm hinhielt. Shin erkannte, dass die Zeichen dort genauso aussahen, wie er es erwartet hatte. Genau wie sie sein sollten. „Das ist ein Schriftzug der Bestrafung ausdrückt. Sie haben nicht die gleiche eindeutige Bedeutung wie in den gängigen Sprachen, aber es zeigt eindeutig Zorn und den Drang nach Unterdrückung.", hörte Shin sich sagen. „Es ist mit Blut geschrieben und kann daher nur von dem gleichen Blut wieder getilgt werden."

„Woher weißt du das?!", fragte Nell sofort, dachte jedoch sofort selbst darüber nach und seufzte. „Das heißt, dass ich es nicht so schnell loswerde, wenn nur das gleiche...", er unterbrach sich, als Shin sich plötzlich in den rechten Daumen biss und ein dünnes Rinnsal Blut entstand. Erst einmal war es überraschend, dass der Inkubus überhaupt über so etwas wie Reiszähne verfügte und was konnte ihn nur zu einer solchen Tat veranlassen? Die Frage wurde sehr schnell beantwortet, als Shin Anstalten machte, mit dem blutigen Daumen über das aufgemalte Zeichen zu streichen. Nell zog schnell die Hände weg. „Was soll das werden?", fragte er und hatte unweigerlich das Bild des verängstigten Lelio im Kopf, nachdem Shin ihn mit seinem Blut gefüttert und danach auf ihn eingeredet hatte. „Was ist wenn etwas davon in die Wunde kommt und ich dich wieder anfalle?"

Shin hielt inne. „Ich glaube nicht, dass das noch einmal so einfach passieren wird. Hast du nicht etwas bessere Dinge mit mir zu tun, als zu versuchen mich zu töten? Außerdem...", ein unschuldiges Lächeln trat auf sein Gesicht. „... ich will es nur einmal versuchen. Willst du denn nicht deine normalen Krallen zurück haben?"

Dies hingegen war wieder etwas anderes und Nells Augen verengten sich ein Stück, so dass er wieder ganz so aussah wie an dem Tag als sie sich kennengelernt hatten. „Ich kann dir nicht vertrauen.", sagte er klar und deutlich und die natürliche Feindseligkeit war mit jeder Silbe zu hören.

„Mit so einer Einstellung kann man doch nicht das Herz von jemandem erobern.", erwiderte Shin und musste sich anstrengen, dass der Spott in seiner Stimme so klang, als wäre er wirklich nur gespielt. Er war froh, dass er es geschafft hatte Nell insoweit aus der Bahn zu werfen, dass dieser zeigte, dass er wirklich die Person war die ihn fast umgebracht hatte. Die letzte Stunde war schön gewesen, aber es war immer noch dieser Nell vor ihm und Shin überlegte wenn er sich nichts anmerken lassen würde, nichts von der Angst, nichts von der Verunsicherung, nichts von all dem was ihm durch den Kopf ging und das ihn irgendwann noch in den Wahnsinn treiben würde, ja, dann hatte er gewonnen. „Ich kann dir versprechen", fuhr er fort. „dass ich dir nicht willentlich Schaden zufügen werde. Wobei mein Blut dich schon beim letzten Mal nicht kontrollieren konnte, sonst hättest du mich ganz bestimmt nicht angefallen."

Es brachte auch Nell zum Nachdenken. „Und du bist dir wirklich sicher, dass du etwas dagegen tun kannst?"

Shin nickte. Wenn seine Überlegung stimmte, dann konnten diese Zeichen nur von Aurun stammen. Woher sonst sollte er sie kennen und wer sonst würde jemanden an dieser Schule bestrafen, wenn jemand verletzt wurde? Soweit er in Erfahrung bringen konnte, gab es hier nie ernsthafte Konsequenzen. Also musste es etwas persönliches sein, also hatte Aurun etwas mit dieser Schule zu tun und...

„Was ist eure Verbindung?", fragte Nell mit einem Mal.

„Was?", Shin bekam das unangenehme Gefühl, das die Situation sich in die Richtung bewegte, die er befürchtet hatte und er einen Teil der Kontrolle an Nell abgeben musste. „Was für eine Verbindung?"

Die Frage rief einen kurzen Ausdruck der Begeisterung in Nells Augen hervor. Endlich hatte seine Stunde geschlagen und jemand erkundigte sich nach seinen Äußerungen. In der Regel war er das höfliche Desinteresse seiner Eltern gewohnt, die alles ablehnten was nicht ihrer geruhsamen Normalität entsprach. „Es hängt alles zusammen.", sagte Nell und genoss es dies endlich jemandem mitzuteilen, der den Eindruck machte, als würde er ihn ernst nehmen und dabei nicht so tat als ob, damit Nell ihn endlich loslassen und er wegrennen konnte. Nein, Shin wartete freiwillig. Also erzählte Nell: „Wir leben doch in einer Welt die eigentlich einen recht friedlichen Eindruck macht. Selbst in Orten in denen hauptsächlich Dämonen und so leben." Er machte eine kurze Pause, als er sah, dass Shin leicht das Gesicht verzog, dann jedoch langsam nickte. Nell fuhr fort: „Vor den Schattenkriegen hat es so etwas nicht gegeben, vor allem da die meisten Arten unter sich blieben. Dieser ganze Trend, dass alle Arten sich integrieren wollen und plötzlich aussehen müssen wie Menschen, das ist vollkommener Unsinn wenn du mich fragst. Warum ist das notwendig? Wegen solch einem Benehmen, sind die Kriege doch erst ausgebrochen! Richtig gewesen wäre, wenn die Globalisierung nach dem Friedensvertrag fürs erste eingestellt worden wäre und man sich dann Schritt für Schritt an den Artenaustausch gewagt hätte. Eigentlich hätte sich das ganze Chaos wiederholen müssen, aber das hat es einfach nicht! Und jetzt kommt der Punkt! Irgendjemand hat eine Möglichkeit gefunden, die Störenfriede schon vorher zu selektieren um sie in genau dieser Schule hier von der Gesellschaft zu separieren. Nimm mich als Beispiel! Meine Eltern haben so viele illegale Sachen am Laufen, dass es schon sehr unwahrscheinlich wäre wenn es noch niemand bemerkt hätte. Und wer wird weggeschickt? Ich! Dabei war das was ich getan habe nur ein Bruchteil des Ganzen was diese beiden mir vorgelebt haben. Wir sind keine Leute die zwingend allgemeingefährlich sind, sondern Leute die ihr System bedrohen. Jemand hat im Hintergrund alles in der Hand und will nicht, dass diese Ordnung zunichte gemacht wird. Und jetzt habe ich zum ersten Mal einen Hinweis darauf bekommen!" Er hob mit leichtem Triumph seine Hände, so dass die roten Zeichen im Nachmittagslicht zu sehen waren. „Und wie es aussieht, bist du meine Verbindung zu ihnen.", damit sah er wieder zu Shin, dessen Ausdruck seltsam unverändert war.

„Das ist komisch.", sagte Shin nach einer ganzen Weile die aus betretenem Schweigen und nervösen Seitenblicken von Nell bestanden hatte. „Ich kann mich nicht erinnern jemals ein System bedroht zu haben. Alles was ich getan habe war... normale Dinge eben, wie lernen und so." Es war wirklich eine berechtigte Frage. Bisher hatte er keinerlei Zweifel daran gehabt, warum er an der Loup Parole war. Es war ganz klar weil er sich nicht unter Kontrolle hatte und andere sich dadurch ebenfalls nicht unter Kontrolle hatten. Aber mit etwas hatte Nell Recht. Es bestand eine Verbindung. Selbst wenn Shin seine offensichtliche Verwandtschaft zu Aurun ignorierte, konnte er einfach nicht darüber hinwegsehen, dass etwas in ihm sich an diese Zeichen erinnerte. Nell machte auf ihn den Eindruck eines exzentrischen Einzelgängers, der viel zu viel Zeit als Einzelgänger verbracht hatte und diese Zeit dazu genutzt hatte zu viel nachzudenken. Jedoch konnte Shin den wahren Kern dieser Gedanken nicht abstreiten. Wenn die Diversität der Gesellschaft wirklich der Auslöser der Schattenkriege gewesen ist, warum funktionierte es jetzt? Es konnte nicht nur an ein paar wenigen Besserungsanstalten liegen. Das einzige was ihn dabei störte, war sein eigener Platz in der ganzen Geschichte. „Was tust du eigentlich wenn das alles stimmt was du sagst? Schließlich ist doch alles gut so wie es ist, also warum etwas reininterpretieren? Nur um sich beschäftigt zu halten?"

Nell runzelte die Stirn. „Es ist nicht alles gut so wie es ist! Sieh dich doch mal um, wir sind Gefangene, genau wie alle anderen auch. Da macht es doch keinen Unterschied ob man hinter den Mauern einer Schule eingesperrt ist, oder in einem Tagtraum! Die Leute sind viel zu ruhig geworden, dabei sollte niemand einfach nur ruhig sein und in den Tag hinein leben. Ich habe gelesen, dass die Menschen früher in Abenteuer gezogen sind um fremde Länder zu entdecken. Heute macht man sich Sorgen, ob man sich ein Auto leisten kann um damit zur Arbeit zu fahren. Sogar der Betrieb von Dampftechnik wurde eingestellt, weil er als ineffizient gilt."

„Die Realität unterscheidet sich meistens von dem was du liest, oder dir wünschst.", entgegnete Shin und konnte über Nells Gerede nur gedanklich den Kopf schütteln. Es klang wie die Träumereien eines kleinen Kindes. Es stimmte, dass die Welt einmal interessant gewesen war, aber das Monster vor dem man sich früher fürchtete, trug heutzutage einen Anzug und war ein vorbildlicher Nachbar. „Du redest so als wäre die Welt irgendwie krank, aber es verändert sich eben alles. Soll ich dir jetzt helfen oder nicht? Obwohl ich schätze, dass die Chancen sehr hoch stehen, dass ich mit deiner ganzen Verschwörung zu tun habe und am Ende noch einer der Drahtzieher bin." Ein zynisches Lächeln huschte über Shins Gesicht, als er sprach. Er wusste nicht woher es kam, aber in diesem Ausdruck lag auch seine eigene Unsicherheit über diese Worte.

Es schien Nell genug zu beschäftigen, um ihn von seiner Verschwörungstheorie abzulenken. „Nun gut.", sagte er schließlich. „Ich glaube dein Blut ist immer noch angenehmer als das hier.", und er streckte Shin seine Handgelenke entgegen. „Aber wenn irgendetwas nicht so läuft wie ich es haben will, beiße ich dieses Mal wirklich zu."

„Das befürchte ich auch.", murmelte Shin halblaut und wischte mit seinem Blut über die roten Zeichen.

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