Refugium


 „...einfach verschwunden.", sagte Nell mit einer aufgeregten Stimme.

Ren stand in der Tür seines Zimmers und versuchte möglichst wach zu bleiben. Wie früh war es? Die Sonne war gerade erst aufgegangen. Wer klopfte jemanden so früh am Morgen aus dem Bett? Und es war selbstverständlich Nell, der schon komplett angezogen und hellwach war. „Wow...", machte Ren und blinzelte in das helle Flurlicht. „Ich hab zwar genau verstanden was du gesagt hast, aber um ganz sicher zu sein, solltest du es noch einmal wiederholen."

„Shin ist nicht mehr hier. Dieser Typ hat ihm die Hand auf die Schulter gelegt und sie sind einfach verschwunden!", wiederholte Nell und man konnte, selbst der verschlafene Ren, heraushören wie sehr ihn die Sache aufregte.

„Wer hat ihm die Schulter...äh Hand auf die Schulter gelegt? Vielleicht solltest du es ganz von vorne erzählen.", murrte Ren und winkte Nell ins Zimmer. Etwas verärgert darüber, dass er jetzt doch aufpassen und wach sein musste, setzte er sich auf sein Bett und deutete auf die andere Seite des Zimmers. „Setz dich auf das andere Bett. Sicherheitsabstand!" Er war müde, aber er war nicht dumm und er schätzte ab wie schnell Nell bei ihm sein würde, wenn dieser sich dazu entschloss anzugreifen.

„Oh.", machte Nell derweil, tippelte nervös von einem Fuß auf den anderen und setzte sich mit höchster Vorsicht auf die Bettkante. „Das ist Shins Bett, oder?"

„Ja.", murmelte Ren als Antwort und kratzte sich abwesend im Nacken.

Ein Lächeln huschte über Nells Gesicht und er sah sich in Shins Bereich um, als gäbe es etwas tolles Verbotenes zu entdecken. „Also wegen Shin", begann er schließlich von neuem. „Wir waren zusammen und dann ist jemand aufgetaucht und sie sind zusammen wieder verschwunden. Der Mann der erschienen ist, ist auch der der nach meinem Angriff auf Shin für meine Bestrafung zuständig war."

Ren zuckte mit den Schultern. „Ja und? Solche Sachen passieren nun mal. Aber warum kommst du damit zu mir und seit wann bist du eigentlich wieder da?"

„Seit gestern und es ist nichts Normales, dass Leute einfach von einem Augenblick auf den anderen verschwinden!", sagte Nell, dessen Tonlage langsam wieder in den Bereich der Aggression kippte.

Aber Ren ließ sich davon nicht beirren. Für ihn war es normal, dass bestimmte Leute einfach so verschwinden konnten und es wunderte ihn nicht, dass Shin dies auch passieren konnte. Immerhin stammte er von Aurun ab. Dort war es ganz normal. „Ich wiederhole mich nur ungern, aber warum kommst du damit zu mir?", wiederhole er sich.

Man konnte deutlich erkennen, wie sehr Nell sich bei dieser Frage anspannte. Er senkte leicht den Kopf, schien zu überlegen wie er seine Worte wählen sollte, während seine Finger geistesabwesend über die Laken von Shins Bett glitten. „Ich habe deinen Geruch wahrgenommen.", erklärte er schließlich. „Einer von diesen Leuten hatte eine leichte Spur von dir an sich. Es hat nach Fuchs gerochen."

Ein leises Zischen kam von Ren, als er automatisch den Kopf schüttelte. „Ich bin nicht der einzige Fuchs auf dieser Welt." Es fiel ihm schwer in seiner Aussage sicher zu bleiben, aber es war ihm sofort klar, von was Nell redete. Ren hatte nie versucht seine Beziehung zu verbergen, allerdings hatte es auch kaum jemanden gegeben, der es angesprochen hätte. Jetzt wusste er nicht, wie er es abwenden oder konfrontieren sollte. Wenn er Glück hatte, würde es dabei bleiben, doch er kannte Nell mittlerweile und Nell ließ nicht einfach locker, nur weil man ihn darum bat.

„Keine Ahnung was du mit diesen Leuten zu tun hast, aber du solltest mich wirklich nicht anlügen. Am besten sagst du einfach gar nichts dazu und hilfst mir einfach dabei, Shin wiederzubekommen. Dann werde ich auch keine weiteren Fragen mehr stellen." Es war erstaunlich wie freundlich Nell wieder einmal wirkte, während er dieses Angebot erläuterte. Wie bei vielen Dingen, war es ihm eigentlich egal was Ren mit wem tat. Das einzige das ihn gerade interessierte, war es seine eigenen Ziele zu verfolgen.

„Oh.", Ren atmete erleichtert aus. „Dann..., wo ist er denn verschwunden?"

„Im Gewächshaus!", Nell erhob sich und wendete sich zur Tür. „Komm."

„Ja.", Ren wartete bis Nell im Flur stand, ging dann ebenfalls zur Tür. „Ich ziehe mich noch um, dann komm ich nach."

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Fünf Minuten später liefen sie über den Schulhof, der langsam in das Licht der Morgensonne getaucht wurde. Ren hatte die Augen halb geschlossen und konnte nicht umhin immer mal wieder einen Seufzer von sich zu geben, weil es noch so früh war und er sich genötigt fühlte Nells Anweisungen zu folgen. „Weißt du", brachte er nach einer Weile des eintönigen Schweigens hinter sich. „vielleicht solltest du dich nicht allzu sehr in diese Angelegenheit einmischen. Die Leute mit denen Shin zu tun hat haben in ihren Ansichten ein sehr starkes Durchsetzungsvermögen."

„Möchtest du mir damit sagen, dass sie gefährlich sind?", erkundigte sich Nell interessiert.

„Ja, sehr sogar.", konnte Ren ihm bestätigen und als er zu Nell aufblickte, konnte er ein dünnes Lächeln in dessen Gesicht sehen. Es sah nicht sehr glücklich aus, zeugte jedoch von einer Ahnung dessen, was er vor sich hatte.

„Ich weiß.", sagte er nach einem kurzen Moment, in dem man nur die Stille des Hofes gehört hatte, unterbrochen nur durch ein fernes Geräusch, das durch das Hochziehen eines Rollladen verursacht worden war. Mit einem flüchtigen Blick versicherte er sich, dass seine Krallen noch so waren wie sie sein sollten. Es war eine unnötige Geste, da er sie eigentlich spüren konnte, aber diese Erfahrung war noch zu neu, als dass er sich nur auf seinen Tastsinn verlassen wollte. Allein die Möglichkeit plötzlich Hände anstatt Krallen zu haben, war so absurd, dass sie ihn mehr beschäftigte als dass er es sich eingestehen wollte.

Ren empfand es nicht als befriedigende Antwort. Seit wann wollte Nell sich so sehr mit anderen beschäftigen? Es sei denn... „Ist etwas zwischen dir und Shin passiert? Normalerweise gibst du dir keine Mühe."

„Es passieren ständig Dinge die einen verändern. Gib solch kleinen Details doch nicht so eine große Beachtung.", sagte Nell. Irgendwie schaffte er es, seinen Kopf so Richtung Sonne zu drehen, dass Ren seinen Gesichtsausdruck nicht erkennen konnte.

„Oho.", machte dieser bedeutungsvoll. „Dann denke ich mir mal meinen Teil."

Nell blieb ruckartig stehen. „Denk dir nicht einfach was! Was denkst du dir?"

Ren ignorierte ihn und ging weiter. „Das passiert, wenn du mich nicht aufklärst und du kannst den Leuten nicht das Denken verbieten. Pass nur auf, dass du neben deiner Unschuld nicht auch noch dein Herz an einen Dämon verlierst."

Einen Augenblick war Nell kurz davor Ren anzuschreien um damit vehement zu behaupten, dass dessen Annahmen nicht stimmten (ein Vorhaben das bisher bei allen angeschrienen Personen funktioniert hatte), aber er besann sich eines Besseren. Als er seine Wut untergeschluckt hatte, schüttelte er langsam den Kopf und sagte nur: „Du hast doch keine Ahnung wovon du da sprichst." Diese Aussage schien auszureichen, um Ren für den Rest des Weges zum Schweigen zu bringen. Doch egal wie unangenehm die Fragen und Seitenhiebe des Fuchses auch sein konnten, irgendwie war Nell diese stumme Reaktion etwas unangenehm und es gab ihm das Gefühl, dass er selbst nicht wusste wovon er da gesprochen hatte.

Sie kamen endlich bei den AG-Räumen an, doch etwas stimmte nicht. Der Klang ihrer Schritte hinterließ ein ungewohntes Echo in den Gängen. Fast so als wären die Wände hohl, oder hölzern. Nell sah fragend zu seinem Begleiter, der nur mit den Schultern zuckte und seinen Weg fortsetzte. Die Tür zum Botanik-Raum war fest verschlossen, so wie Nell sie am Abend zuvor gelassen hatte. Er hob die Hand und öffnete sie. Ein warmer und feuchter Luftzug kam ihnen entgegen, als sie sich mit einem Mal mit einer grünen Wand konfrontiert sahen. Es war natürlich keine massive grüne Wand. Sie bestand hauptsächlich aus Blättern und Ranken, die sich jetzt langsam aus dem Eingang drückten, als wären sie froh darüber endlich etwas mehr Freiraum zu haben. „Was zum Teufel ist denn hier los?!", fasste Nell die Ereignisse recht treffend zusammen.

„Kennst du die Geschichte, dass einmal eine sehr mächtige Hexe an dieser Schule war und es über Nacht geschafft hat, dass sich alle Jungfrauen in ihrem Zimmer versammelt und eine Orgie begonnen haben? Das hing damals mit Magie zusammen, vielleicht ist das hier etwas Ähnliches.", meinte Ren und stupste eine kleine Ranke an, die sich bei der Berührung sofort zusammenkrümmte und den Eindruck machte als würde sie sich am liebsten wieder in den Raum zurückziehen.

„Was haben Orgien mit unnatürlichem Pflanzenwachstum zu tun?", fragte Nell, griff gleichzeitig nach der kleinen Ranke und riss sie auseinander.

„Naja, beides hat etwas mit Fortpflanzung zu tun.", überlegte Ren. „Und Magie."

Nell verzog das Gesicht, als das abgerissene Pflanzenstück vor seinen Augen wieder zusammenwuchs. „Das gefällt mir nicht. Komm mit.", sagte er und schritt in den zugewachsenen Eingang, trat dabei ein paar Äste zu Boden und riss so viel Fauna wie möglich von der Decke. Nach ein paar Sekunden war er aus Rens Sichtfeld verschwunden und man konnte von der Tür aus nur noch abgestumpftes Fluchen verstehen. Zwischen all den Dingen die Nell war, fand Ren es doch recht simpel ihn zu verstehen und zu beeinflussen. Es störte ihn zu einem gewissen Grad, dass Shin ebenfalls Gefallen daran zu finden schien, trotzdem konnte er dem Inkubus nicht wirklich böse sein. Ein unangenehmer Gedanke war, dass Ren vielleicht selbst von Shin beeinflusst wurde. Nach kurzem Zögern und der Erkenntnis, dass Nell in nächster Zeit nicht durch diese Tür zurückkommen würde, wagte Ren sich ebenfalls in den Urwald der vor kurzem noch ein Schulzimmer gewesen war. Es war erstaunlich wie sehr die Pflanzenwelt sich entwickelt hatte. Die meisten der Pflanztöpfe waren unter dem Druck der Wurzeln gesprungen und zeigten nur noch vage wo die Gewächse sich einmal befunden hatten. Eine der Kletterpflanzen hatte sich besonders ins Zeug gelegt und durchzog fast das ganze Zimmer. „Nell?", fragte Ren laut, weil er kaum einen Meter weit blicken konnte.

„Aus dem Weg, ihr...!", fluchte Nell, dessen Ausruf wohl den Pflanzen galt.

Ren folgte seiner Stimme und fand ihn beim Eingang zum Gewächshaus, der wie mit einem grünen Netz überspannt war und keinen Zugang bot. „Warum musste ich noch mal mitkommen? Du kommst doch ganz gut allein zurecht.", überlegte er laut, während Nell sich daran machte die zugewachsene Tür mit seinen Krallen gewaltsam zu befreien. Richtig, er könnte jetzt noch im Bett liegen, schlafend und fern aller Sorgen die sich hier immer abspielten. Ein reißendes Geräusch kündigte an, dass Nells Vorhaben von Erfolg gekrönt war. Mit leichter Genugtuung im Blick, öffnete er die Tür und winkte Ren in das Gewächshaus hinein. Die Neugierde besiegte die Faulheit um Längen und so tat Ren wie man von ihm verlangte und ging ebenfalls in das Gewächshaus.

Hier sah es nicht besser aus als in dem Klassenzimmer. Zwar war die Luft etwas angenehmer, weil eine besonders hohe Palme die Glasdecke gesprengt hatte, doch schienen die Pflanzen sich absichtlich genau dorthin zu ranken wo man hintreten wollte. Selbst Ren hatte seine Schwierigkeiten voranzukommen, was ihm zeigte, dass es sich hier auf keinen Fall um natürliches Wachstum handeln konnte.

„Hier kommt gleich die Stelle an der er verschwunden ist!", kündigte Nell an. „Hier ist...", seine Stimme versagte und Ren lief mit seinem Rücken zusammen. „Hier ist er.", stellte Nell überrascht fest.

Ren spähte über Nells Schulter.

Shin lag auf einer Decke zwischen den Pflanzen und schlief.

Er gab ein seltsam bedrückendes Bild von sich. Die Pflanzen, die über Nacht so ein Wachstum vollbracht hatten, schienen an dieser Stelle eine gewisse Zurückhaltung zu haben. Dort wo Shin lag, hatte sich keine Pflanze zwischen ihn und den Himmel gedrängt. Nur zarte Wurzeln bedeckten den Boden und hatten sich vorsichtig bis zu dem jungen Mann vorgetastet, wo sie sanft seine Haut berührten.

Ren quetschte sich an dem erstarrten Nell vorbei und kniete sich neben den Schlafenden um dessen Puls zu fühlen. „Sieht alles ganz normal aus.", sagte er langsam. „Entweder hängt das hier" und er gestikulierte in den Raum „alles mit Shin zusammen, oder er hat sich nur rein zufällig genau an dieser Stelle wo nichts wächst zum Schlafen hingelegt."

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