Nehmen was wir wollen
Er war wach ohne sich erinnern zu können aufgewacht zu sein. Shin lag in einem Bett und das Zimmer in dem er sich befand, kam ihm bekannt vor. Er setzte sich auf und stellte als erstes fest, dass er kein Oberteil trug, außerdem war Blut auf den Lacken. Eine Erinnerung, gefolgt von einem kurzen Gefühl der Panik, bis er schaffte sich zur Vernunft zu rufen. Er trug noch seine restliche Kleidung, außerdem schien ihm sonst nichts zu fehlen. Es ging ihm gut. Zu gut für jemanden, der erstochen worden war. Er sah an sich herab. Keine Narbe, nichts. Und jemand schien ihn sauber gemacht zu haben. An seiner Hose war noch getrocknetes Blut. Neben dem Bett stand ein Eimer und ein Waschlappen. Das Wasser darin war rot gefärbt. Daneben lag in Fetzen das Designershirt das Cian ihm gegeben hatte.
Shin sah sich etwas genauer in dem Zimmer um. Er stand aus dem Bett auf und wunderte sich über die minimalistische Einrichtung. Er trat vor das große Fenster und sah hinaus auf Marhain im Sonnenuntergang. Da fiel es ihm ein. Er war in ‚Ankamnas' Zimmer. Shin wollte irgendwann mit ihm reden, ihn fragen was passiert war und was mit Ren und Ankamna los war, doch diesem Moment wollte er hier weg. Vielleicht würde er mit ihm reden können, wenn Shin nicht so wütend auf dieses Wesen wäre. Es hatte ihn erstochen und es hatte sich an Cian vergangen. Shin wollte nicht mit diesem Ding allein sein und früher oder später würde es in dieses Zimmer zurückkehren. Also machte Shin sich bereit mit Schwarzer Magie ein Portal zu öffnen und er musste kurz an das denken, was Tiamat über Magie gesagt hatte. Es konnte nie und nimmer so einfach sein. Hinzu kam, dass Shin die Magie auch noch sehen konnte, so dass er theoretisch alles tun konnte. Er fühlte sich als ob er damit bei irgendetwas betrügen würde. Er griff nach der nötigen Magie, doch sie entglitt ihm und ließ sich nicht formen. Shin merkte, dass er nicht richtig danach griff, als würde sein eigener Körper ihn blockieren. Er kam auf eine schreckliche Idee. Er rannte zu dem Spiegel neben dem Bett und untersuchte seinen freien Oberkörper. Voller Erleichterung und doch mit klopfendem Herzen stellte er fest, dass er nirgendwo eine dieser Narben trug. Also musste es etwas anderes sein. Er konnte jedoch keine Spur fremder Magie an sich erkennen.
Bevor er etwas weiteres unternehmen konnte, merkte er plötzlich, wie er schwach auf den Beinen wurde. Jemand kam näher. Shin konnte es spüren. Es war nicht wie das Mal, es war anders und es zog an ihm. Er sank vor dem Spiegel auf die Knie und versuchte ruhig zu atmen, doch sein Herz schlug wie wild und er sehnte sich nach etwas – nach jemandem. Die Tür zu dem Zimmer wurde geöffnet und Shin sammelte seine restliche Kraft um aufzustehen und in das Badezimmer zu laufen. Er schloss die Tür hinter sich und drehte den Schlüssel im Schloss. Als würde das etwas nützen, als würde das irgendjemanden aufhalten können. Eine Badezimmertür abzuschließen war sowieso nur eine Sicherheitsmaßnahme, dass jemand nicht einfach hereingelaufen kam. Niemand erwartete ernsthaft, dass so ein schwaches Schloss ein Hindernis darstellte, wenn jemand wirklich auf die andere Seite wollte. Trotzdem saß Shin jetzt hier, drückte seinen Rücken gegen die Tür und vergrub sein Gesicht in den Händen. Er wollte von hier verschwinden, die Welt um sich herum aussperren. Seine neu entdeckten Fähigkeiten und der Triumph, dass er es geschafft hatte die anderen vor Roan zu beschützen, hatten ihn vollkommen vergessen lassen, wie schwach er immer gewesen war. An der Loup Parole war er ständig in gefährlichen Situationen gewesen. Doch jetzt stand plötzlich mehr auf dem Spiel als sein Leben. Sein Körper krümmte sich plötzlich vor Schmerzen, als die Person auf der anderen Seite der Tür sagte: „Komm da raus, Shin."
Es war ein Befehl, gefühllos und ohne Widerstand zuzulassen. Mit einem Ruck stand Shin auf und seine Hand lag auf dem kleinen Hebel mit dem sich die Tür aufschließen ließ. Es war nicht nur Shins Körper, der ihm nicht gehorchte. Gemeinsam mit den ungeplanten Bewegungen erwachte in ihm der innige Wunsch allen Äußerungen der Person auf der anderen Seite der Tür Folge zu leisten. Es war so stark, dass es fast alles andere verdeckte. Aber nur fast. „Hast du mir von deinem Blut gegeben?", fragte Shin.
Es war einen Moment still, bevor die Antwort kam: „Ja. Damit du nicht wegläufst, oder mich angreifst. Und jetzt komm raus."
Shin ließ es geschehen, öffnete die Tür und trat hinaus. Auf dem Bett auf dem er bis eben noch gelegen hatte, saß Ren. Aber es war nicht Ren. Etwas war anders. War es der Ausdruck auf seinem Gesicht? Die Farbe seiner Augen, die sich mit einem unwirklichen goldenen Schimmer vermischte?
„Wer bist du?", fragte Shin.
Ren lächelte und nahm Ankamnas Gestalt an. „Mehrere Monate bin ich als Ren mit Balgir, Nell und Cian umhergezogen und keiner von ihnen hat es bemerkt. Du siehst mich für einen kurzen Moment und erkennst, dass ich weder Ren, noch Ankamna bin. Hat das etwa damit zu tun?" Er schob seine Haare zur Seite und zeige das Mal an seinem Hals, das Shin bei Ren hinterlassen hatte.
Das seltsame Gefühl kehrte zurück und Shin merkte, wie ihm langsam schlecht wurde.
Die Person vor ihm lächelte. „Ich versuche die ganze Zeit dich auf die Weise zu kontrollieren wie Ankamna es mit Ren gemacht hat, aber bei dir funktioniert es nicht. Dabei konnte ich selbst unsere drei Freunde etwas Zerstreuung schenken, obwohl sie nicht einmal von meinem Blut getrunken hatten."
War ihm deswegen schlecht? Weil er sich unbewusst gegen die Kontrolle wehrte? Shin sah die Person vor sich voller Abscheu an. „Sag mir endlich wer du bist."
Doch sie zuckte mit den Schultern. „Ich weiß es nicht. Ich war irgendwann da und weil ich aussah wie Ren, haben die anderen mich so angesprochen und ich habe einfach mitgespielt. Doch nach einiger Zeit konnte ich einfach nicht mehr mitmachen und bin vielleicht ein wenig ausgerastet. Aber jetzt ist alles soweit stabil. He, wenn du herkommst, sag ich dir was mit Ren passiert ist."
Shin war schwach auf den Beinen und das Angebot sich auf das Bett zu setzen war unglaublich verlockend. Außerdem war das Wesen vor ihm unglaublich schön. Alles was es bisher angerichtet hatte verschwamm irgendwo im Hintergrund. Bevor Shin es sich versah, stand er vor ihm und wurde von Ankamna aufs Bett gezogen.
„Das ist wie als du im Zug Ankamna verführen wolltest. Aber dieses Mal kann ich dir versprechen, dass es wirklich was wird.", flüsterte er in Shins Ohr.
„Du wolltest mir sagen was mit Ren passiert ist.", hörte Shin sich protestieren.
„Oh na gut." Ankamna verdrehte die Augen. „Die Beziehung zwischen Ankamna und Ren war ein wenig kompliziert. In der Vergangenheit hat der kleine Fuchs mehrmals versucht wegzulaufen und hat zu immer drastischeren Maßnahmen gegriffen. Irgendwann ist er dann dazu übergegangen Ankamna auf verschiedenste Arten zu töten, in der Hoffnung, dass er Tot bleibt. Doch egal was er versuchte... Ankamna ist nun einmal ein Unsterblicher gewesen. Doch als du mit ihm gekämpft hast, hattest du ihn sehr geschwächt und Ren dachte, er könnte wieder zur Tat schreiten. Weißt du welche Tötungsart er sich dieses Mal überlegt hat?"
Shin erinnerte sich an Ren wie er ihn in seinem Leben als Veil kennengelernt hatte. Immer zur Stelle, doch letztlich hatte er nur Ankamna gehorcht und geholfen Veil alles zu nehmen. Genau wie Veil, war er unter der Kontrolle eines Unsterblichen gewesen, jede Sekunde seines Lebens. „Ich weiß es nicht.", antwortete Shin mit zitternder Stimme.
Das Wesen hatte aufgehört zu lächeln. Seine Augen waren kalt und erinnerten weder an Ren, noch an Ankamna. „Er hat Ankamna verschlungen. Mit Haut und Haaren hat er ihn gegessen. Angefangen hat er mit dem Herzen und hat sich dann nach und nach alles einverleibt. Wenn nichts mehr von ihm übrigbleibt, denn wenn ich ihm alles nehme, dann kann er auch nicht wiedergeboren werden." Es ließ Shin los und stand aus dem Bett auf, um ein paar Schritte durch das Zimmer zu gehen.
Shin setzte sich auf und sah ihm dabei zu. Wie anmutig es sich bewegte. Es sah jetzt weder wie Ankamna, noch wie Ren aus. Sowohl im Ausdruck, als auch in der Gestalt, war es zu seiner eigenen Person geworden.
„Und dann war ich da.", fuhr es fort. „Ich trage die Erinnerungen von beiden in mir, aber ich bin keiner von beiden. Anscheinend bin ich ein Unsterblicher und trage gleichzeitig die Fähigkeiten von Ren in mir. Es hat eine Weile gedauert, bis ich das begriffen habe."
Wenn das die Wahrheit war, dann bedeutete das, dass Ren tot war. Er war verschwunden bei dem Versuch sich von Ankamna zu befreien. Shin wurde von Schuldgefühlen und Traurigkeit überwältigt. Er hatte es gemocht sich mit Ren zu streiten und er hatte es gemocht sich mit ihm zu versöhnen. Die Dinge die er Veil in der Vergangenheit angetan hatte, waren alle nur geschehen, weil Ankamna es ihm befohlen hatte. Ren hatte sich befreien wollen und Shin hatte ihm zwar versucht zu helfen, aber irgendwie versagt. Wäre das alles nicht passiert, wenn er Ren nicht markiert hätte? Hätte Ren anders gehandelt? Shin merkte, wie ihm die Tränen über das Gesicht liefen. Das war der schlechteste Zeitpunkt um zu weinen. Das Wesen mit dem er im Zimmer war, sah ihm neugierig zu, während er versuchte den Tränenfluss zu stoppen. Ren war nicht mehr hier. Sie hatten sich doch gar nicht so lange gekannt? War es wegen dem Mal? Oder war es – nein. Es war ja noch da, es wurde nur von jemand anderem getragen. Ren war komplett verschwunden, weg von den Unsterblichen, weg von allem.
Es griff nach Shins Kinn und schob dessen Gesicht zu sich. „Würden die anderen auch weinen? Du bist der einzige der sich an den echten Ren erinnert. Die anderen habe ich vergessen lassen. Genau wie dich."
„Du warst es, der Nell verhext hat, so dass er sich nicht an mich erinnert?", fragte Shin unter Tränen. Doch eigentlich war es ihm egal geworden.
Es lächelte wieder. „Deine Existenz an der Loup Parole habe ich aus ihren Köpfen genommen. Macht dich das nicht wütend?"
Shin starrte es an, seine Gedanken kreisten um Ren. Das kleine gemeinsame Zimmer, das vollgestopft war von geklauten Dingen. Er musste etwas antworten. „Ich weiß nicht.", brachte er heraus.
Es gab ihm eine Ohrfeige.
Shin fiel zur Seite auf das Bett. Er konnte nicht sterben und alle seine Wunden würden wieder heilen und trotzdem lag er jetzt dort, schnappte nach Luft und sah Sternchen.
„Ich war so neugierig. Ich kenne dich nur aus den Erinnerungen. Der eine hasst dich, der andere liebt dich. Ich kann damit einfach nichts anfangen. Ich hatte Angst vor dir, weil ich deine Markierung trage, aber ehrlich gesagt ist sie nicht besonders mächtig. Ich hätte dich töten können! Was soll ich machen?"
Das fragte Shin sich ebenfalls. Die Erinnerungen von Ren und Ankamna und seine plötzliche Existenz, machten es unzurechnungsfähig. Es hatte mehrere Monate mit der Annahme verbracht, Ren zu sein, bis es irgendwann ausgebrochen war. Vielleicht wenn er von Anfang an dabei gewesen wäre, wenn Shin sich nicht von Aurun hätte mitnehmen lassen, sondern dageblieben wäre, hätte er ihm helfen können. Wieder machte er sich Vorwürfe. Wieder kamen die Tränen. Wegen der Situation in der er sich befand und wegen allem anderen. „Es tut mir Leid.", flüsterte er.
Es packte Shin grob am Haarschopf und zog ihn zu sich. „Bei wem entschuldigst du dich? Ich bin ein Niemand. Ich habe keinen Namen und keine Geschichte. Alle interessieren sich nur für Ren oder Ankamna. Selbst dieser Aurun sieht mich nur, wenn ich mich als sein Untertan ausgebe. Als wolle er das andere nicht sehen. Und du siehst mich genauso wenig an." Ein hässliches Grinsen trat auf sein Gesicht. „Wie der Vater so der Sohn. Alles eine Herde Feiglinge."
Shin sah ihm entgegen und hielt seinem Blick stand. Er versuchte wütend zu sein, denn tief im Inneren wusste er, dass er den Vergleich mit Aurun nicht mochte. Aber er trug das Blut des Wesens in sich und konnte sich nicht hasserfüllt gegen es wenden. Also sah er ihm mit Trotz in die Augen um ihm zu zeigen, dass seine Aussage haltlos war.
Nach einer halben Minute lächelte es. „Du gefällst mir immer besser.", erklärte es. „Nenn mir einen Namen und ich werde ihn behalten."
Wieder einmal war es keine Bitte, sondern ein Befehl, dem Shin Folge leisten musste. Es war aus Ren und Ankamna entstanden, also war etwas naheliegend, das die beiden Namen miteinander verband. Nach kurzer Zeit fiel ihm der passende Name ein. „Aren.", sagte Shin und sah voller Erwartung zu dem Wesen, in der Hoffnung es würde den Namen annehmen. Angst, Wut und Abneigung waren verschwunden. Die Suche eines Namens hatte Shin so sehr abgelenkt, dass er alles losgelassen hatte, was ihn von dem Sog des Blutes bewahrt hatte.
„Das ist ein wundervoller Name.", flüsterte Aren und drückte Shin vor sich auf das Bett. „Keine Sorge, ich werde es so machen, dass du dir keine Gedanken machen musst."
Shin dachte es ging um Sex und mit dem Blut von Aren in sich war er nur allzu bereit dazu. Die Sorgen wegen Nell spielten in seinem Kopf überhaupt keine Rolle. Er wollte näher zu Aren. Doch als dieser sich über ihn beugte und Shin am Hals küsste, spürte Shin den stechenden Schmerz. „Nein!", Shin wollte ihn wegdrücken, doch es war zu spät. Shin merkte, wie der Einfluss des Mals, das Aren ihm gegeben hatte, bereits auf ihn wirkte.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top