Limit
Sie waren nicht allein.
Es wäre ja auch zu schön gewesen.
Das AG-Zimmer war noch immer gesäubert von jeglicher Flora, so dass ein Uneingeweihter nie auf die Idee gekommen wäre, dass hier die Botanik-AG sein sollte. Eine einzige unausgereifte Platane stand einsam auf einer Fensterbank. Daneben hatte man sich mit den zur Verfügung stehenden Tischen und Stühlen eine gemütliche Sitzecke gebaut. So gemütlich wie es eben ging. Dort saßen Cian und Balgir. Sie spielten Schach. Cian sah belustigt auf, als Shin und Nell durch die Tür gestolpert kamen. „Wie ist es so, der Mittelpunkt einer Party zu sein?", fragte er.
„Du hast es gewusst, oder?", gab Shin genervt zurück.
Cian tat so als würde er darüber nachdenken. Schließlich meinte er: „Sagen wir ich habe es geahnt. Warum setzt ihr euch nicht zu uns und trinkt etwas? Oder wollt ihr lieber wieder rausgehen?" Er lachte bitter und während er sowohl Shin, als auch Nell etwas gelbe Flüssigkeit, die stark süßlich und nach Alkohol roch, einschenkte, fiel Shin etwas auf. Es war die Partie die gerade auf dem Schachfeld im Gange war. Weiß war an der Reihe und war eindeutig in einer schlechteren Position als die schwarzen Figuren. Cian hatte weiß. Balgir war am Gewinnen. Doch der Dämon starrte abwesend in sein Glas und zeigte kein sichtliches Interesse an dem laufenden Spiel. „Es kommen später noch ein paar andere Leute.", erzählte Cian weiter und reichte ihnen die gefüllten Gläser. „Leute denen wir vertrauen können, dass sie mit Shin keine Dummheiten anstellen!", fügte er schnell hinzu.
Nell sah skeptisch aus, nahm jedoch das Getränk entgegen und musterte es anerkennend. „Dann sollten wir Mero Bescheid sagen, sonst endet die Sache wieder blutig.", bemerkte er und trank einen Schluck.
Cian hätte Shins Glas beinahe fallen lassen und Balgir sah erschrocken auf. „Mero? Warum Mero?!", fragte der Dunkelelf.
„Sie hat mir geholfen und jetzt steht sie vor der Tür Wache.", sagte Shin. „Ist sie wieder jemand den man kennen sollte?" Es war wie die Sache mit Cian gewesen. Alle hatten den Dunkelelfen gekannt, nur er selbst nicht.
„Mero ist schon länger an dieser Schule.", war das einzige was als Erklärung kam. Also ging Shin nach draußen und bat sie darum doch mit ins AG-Zimmer zu kommen. Es war erstaunlich einfach mit ihr zu sprechen, hatte man sich einmal an den Gedanken gewöhnt was sie mit ihren spitzen Zähnen anstellen konnte. Doch Shin merkte, dass er bald den Anschluss verlor. Bisher hatte er an der Loup Parole noch nicht vor dem altbekannten Problem gestanden, dass er es irgendwie nie schaffte sich richtig auf andere einzulassen. Besonders als die Leute auftauchten, die schon von Cian angekündigt worden waren. Darunter ein Elf mit Hörnern, ein paar Wesen die nicht wirklich zuzuordnen waren und ein Dämon, der Shin überraschender Weise zunickte, als würden sie sich kennen. „Was ist das eigentlich für ein Zeug?", fragte Shin mit Blick auf sein Glas. Er hatte es aufgegeben den anderen bei ihren Gesprächen zu folgen und sich neben Balgir gesetzt, der noch ausgeschlossener wirkte, als Shin sich fühlte.
„Nektar.", gab Balgir als Antwort. „Die Waldelfen stellen es her. Niemand weiß genau wie sie es machen, aber es besteht hauptsächlich aus Honig und Alkohol."
Deswegen stieg es einem auch so schnell zu Kopf und Shin dachte schon über etwas anderes nach. Ein kurzer Blick verriet ihm, dass Nell sich gerade mit Mero unterhielt, was ihn irgendwie ärgerte, aber Shin lächelte und meinte zu Balgir: „Du bist gar kein Idiot, oder?"
Balgir hob die Augenbrauen. „Inwiefern?", fragte er.
Shin deutete auf das Schachbrett. „Insofern."
Balgir zuckte mit den Schultern. „Cian passt einfach nicht richtig auf."
„Ich habe eine Frage.", begann Shin vorsichtig. Wahrscheinlich würde er nüchtern gar nicht auf die Idee kommen sie zu stellen, obwohl es ihn sehr beschäftigte. „Als ich dich auf der Toilette verführt habe...", begann er und brach sofort wieder ab um über seine Wortwahl nachzudenken.
„Ja, ich folge dir.", sagte Balgir plötzlich und trank schnell noch einen Schluck Nektar.
„Gut, ich hatte dich verführt und wenn Ren nicht aufgetaucht wäre, hätten wir Sex gehabt.", versuchte Shin so nüchtern wie möglich zu erzählen.
Balgir sah verwirrt aus. „Aber Nell ist doch aufgetaucht."
„Nein.", sagte Shin. „Ren hat seine Gestalt angenommen."
„Das wusste ich nicht!", meinte Balgir und für einen kleinen Moment war ein Lächeln auf seinem Gesicht zu sehen.
„Wie auch immer.", fuhr Shin schnell fort. „Ich will wissen wie es war unter meinem Bann zu stehen. War es schön, oder wurdest du einfach nur von deinen Trieben übermannt, obwohl du es eigentlich nicht wolltest?"
Balgir starrte ihn ungläubig an. „Ich kann nicht glauben, dass du das tatsächlich fragst.", stellte er seinen Standpunkt klar.
„Bitte.", drängelte Shin.
„Es ist anders. Wenn man von einem Inkubus oder Sukkubus verführt wird, hängt es nicht nur mit Trieben zusammen, sondern mit Nähe zu ihnen. Sie werden nicht umsonst Dämonen der Liebe genannt, obwohl die Liebe nach meiner Erfahrung nur bei ihren Opfern geweckt wird. Es ist... schön.", erklärte Balgir und wurde langsam rot.
Shin war erleichtert. Es war also anders als bei dem Satyr. Wenn er alle seine Partner unbewusst auf die gleiche Weise verführt hätte, so dass sie eigentlich keinen Spaß an der Sache gehabt hatten, hätte er sich das nicht verzeihen können. „Dankeschön.", bemerkte er mit einem Lächeln. „Woher kennst du dich so aus? Ich dachte immer du könntest uns nicht leiden?", scherzte Shin, doch plötzlich fiel ihm etwas anderes auf. „Moment, was meinst du mit: Aus deiner Erfahrung?"
Balgir wollte aufstehen, doch Shin griff blitzschnell nach dessen Hand. „Du hast echt keine Ahnung.", brachte Balgir zerknirscht hervor. „Ich dachte immer, es wäre vollkommen offensichtlich gewesen."
„Was?", hakte Shin nach. „Was soll offensichtlich gewesen sein?!"
Normalerweise wäre Balgir jetzt, ohne ein weiteres Wort zu verlieren, einfach gegangen. Doch ohne es zu wissen, stand er unter dem Einfluss von Shins Blut und konnte sich seinen Fragen nicht entziehen. Er senkte geschlagen den Kopf und setzte sich wieder hin. „Es war der dämliche Sukkubus."
Shins Augen weiteten sich, als er glaubte zu begreifen. „Du meinst Yume? Du und Yume? Aber du hast gesagt, du hättest noch nie mit einem Mann geschlafen!"
„Hab ich auch nicht! Warum läuft es bei euch immer auf das eine heraus?! Ich war nur in ihn verliebt, sonst nichts. Scheiße..." Balgir vergrub das Gesicht in den Händen und murmelte anschließend mit gedämpfter Stimme: „Warum erzähl ich dir das überhaupt?"
Viele Dinge die Shin von Balgir kannte, wurden nun viel klarer. Er hätte nur nie gedacht, dass er in Yume verliebt gewesen war. Ob Yume es gewusst hatte? Hatte er deswegen immer versucht Balgir zu ignorieren und es auf die leichte Schulter genommen? Etwas war zwischen den beiden vorgefallen und Shin ließ lieber davon ab noch mehr Fragen darüber zu stellen. Es wäre sicher möglich alle Antworten zu bekommen, jetzt da Balgir sozusagen unter seiner Kontrolle war. „Es tut mir leid.", meinte Shin deswegen.
„Ist schon gut.", sagte Balgir, obwohl er nicht wusste, warum der Inkubus sich entschuldigte.
„Bist du deswegen immer so schlecht gelaunt?", fragte Shin vorsichtig.
„So ein Unsinn. Als würde ich immer noch einer Jugendliebe hinterhertrauern.", stellte Balgir klar.
Doch Shin wollte es nicht wirklich glauben. Wo er Balgir vorher nicht so richtig mochte und nicht gewusst hatte, was er mit ihm anstellen soll, war jetzt ein Interesse geweckt. „Dann sag mir doch warum. Du kannst mir alles erzählen." Shins Worte waren wie süßes Gift. Sie drangen in Balgir ein und unterwarfen ihn mit spielerischer Leichtigkeit.
Und Shin lernte, welche Wirkung seine Worte zur richtigen Zeit haben konnten.
„Ich kenne ihn.", sagte Balgir zerknirscht und mied weiterhin Shins direkten Blick. „den Mann, der deinen Traumfresser vernichtet hat."
Dies hätte Shin am wenigsten erwartet, aber dann erinnerte sich an die Angst, die sich während der Begegnung heute Morgen in Balgir aufgestaut hatte. Es war mehr als der Einfluss gewesen, den Ankamna auf Cian und Shin gehabt hatte. „Woher?", fragte er.
Balgir starrte in sein Getränk und machte einen gequälten Gesichtsausdruck. „Ich glaube nicht, dass ich darüber reden sollte."
„Willst du darüber reden?", hakte Shin nach.
Der Dämon neigte den Kopf leicht zur Seite und sah dann zu Shin. Ihre Blicke trafen sich und Balgir ließ alle Vorsicht fallen. „Es hat damit zu tun, warum ich an der Loup Parole bin. Vor fünf Jahren..." er hielt kurz inne, trank einen Schluck und fuhr dann fort währen seine Stimme immer leiser wurde: „Ich bin ein Beliar, ein Dämon der das Feuer beschwört, aber ich hatte es nie gut unter Kontrolle. Es gab einen kleinen Vorfall und danach wollte niemand mehr wirklich etwas mit mir zu tun haben."
„Aber ich habe nie gesehen, wie du Feuer beschworen hast."
„Ja jetzt habe ich es ja auch unter Kontrolle.", Balgir klang ein wenig verärgert. „Dafür bin ich doch hier."
„Aber war das schon alles?", fragte Shin nach.
Balgir schüttelte langsam den Kopf. „Es gab ein Feuer."
Shin wartete, doch Balgir hatte wohl alles gesagt, was er dazu sagen wollte. Ein Feuer. Was sollte er mit dieser Information anfangen? Eigentlich dachte er der ‚kleine Vorfall' von dem Balgir gesprochen hatte wäre ein Feuer gewesen, aber anscheinend schien es noch einmal ein wichtigeres Feuer gegeben zu haben. „Aber was-"
„Was glaubst du? Es gibt Tote und nur ein Überlebender der die Macht hat über das Feuer zu herrschen. Was würdest du dir dabei denken?"
Shin erschrak, wie emotionslos Balgirs Stimme klang. Und wie distanziert er darüber sprach. „Warst du es denn?", fragte Shin.
Balgir hob den Kopf und lächelte traurig. „Ich weiß es nicht. Meine Erinnerungen an diesen Tag sind durcheinander. Aber ich erinnere mich, wie dieser Mann mich zusammengeschlagen hat. Vielleicht hat er mich aufgehalten, oder es war etwas anderes. Ich kann es wirklich nicht sagen. Da ist nur Rauch und Schmerz wenn ich an diesen Tag denke. Das ist alles."
„Das ist alles...", wiederholte Shin schwach. Er merkte, wie seine Hand sich auf Balgirs Schulter gelegt hatte und er merkte langsam, wie ihm der Nektar zu Kopf stieg. „Was ist mit Ren?", fragte er um sich von dem Ganzen etwas abzulenken. „Er hat doch irgendetwas mit ihm zu tun."
Aber Balgir sah ratlos aus, also redete Shin weiter: „Ich glaube sie sind irgendwie ein Paar, aber..." es war nicht richtig. Das, was anscheinend die Beziehung der beiden war, war falsch. Ren hatte nicht so ausgesehen, als würde er gerne zu Ankamna gehen, ganz im Gegenteil. Shin starrte auf einen Punkt an der gegenüberliegenden Wand und driftete langsam mit seinen Gedanken ab, ehe er noch einen großen Schluck des seltsamen Getränkes nahm. Er dachte an Ren und war irgendwie wütend, konnte aber nicht mehr so richtig fassen warum.
Plötzlich merkte Balgir neben ihm an: „Hast du die Narben gesehen? Ren hat nie darüber reden wollen."
„Du hast sie gesehen?", fragte Shin, der irgendwie nicht genug Schwung in seine Stimme bringen konnte, um irritiert zu klingen. Etwas stimmte nicht. Er trank und dachte daran, dass Ren die Narben vor ihm hatte verstecken wollen.
„Natürlich, wir sind Freunde.", meinte Balgir mit ebenfalls monotoner Stimme. „Also, was ist jetzt damit?"
Shin tastete sich mit der Hand über den Nacken und schüttelte sich innerlich bei dem Gedanken daran. „Ich glaube sie sind von Ankamna. Also ihm." Die Welt um ihn herum schien sich zu drehen und er kniff die Augen zusammen, um erleichtert festzustellen, dass alles sehr schnell wieder normal war. Eigentlich spürte er den Alkohol nie so schnell. Vielleicht erzählte er Balgir deswegen auch Dinge, die er normalerweise lieber für sich behielt. „Es ist ähnlich wie ein Biss."
„Warum lässt er das mit sich machen?", fragte Balgir entsetzt. Er versuchte aufzustehen, rutschte vom Stuhl und blieb auf dem Boden sitzen. „Das ist komisch", stellte er fest. „Und was hast du eigentlich mit dem Ganzen zu tun?"
„Das würde ich auch gerne wissen. Also ich meine teilweise habe ich schon Ahnung, aber es gibt viele Dinge, über die ich nicht Bescheid weiß.", Shin seufzte und schaffte es einen Redeschwall zurückzuhalten. Die Situation bereitete ihm immer mehr Unbehagen. Balgir hatte ihm alles erzählt und es stellte sich als sehr einfach heraus, Balgir ebenfalls alles zu erzählen. Noch dazu hatte der Nektar eine solch einschlagende Wirkung, dass es Shin umso schwerer fiel den Mund zu halten. Es war bestimmt nicht gut für den Dämon, wenn er noch mehr wusste. „Tut mir leid, ich halte jetzt besser die Klappe."
Balgir nickte und starrte Shin mit seltsamem Blick an. „Das ist in Ordnung." Er schaffte es sich vom Fußboden zu erheben und sich wieder auf seinen Stuhl zu setzen. Dann sagte er plötzlich: „Ich glaube diese Welt ist krank."
Shins Blick wurde schon glasig, doch er schaffte es Balgir aufmerksam zu mustern und erkannte die Ernsthaftigkeit die in dessen Gesicht lag. Trotz des Alkohols. Bevor er etwas dazu sagen konnte, kam Cian auf sie beide zu und lachte.
„Wie ich sehe, zeigt der Saft seine Wirkung. Ich habe zwar gehört, dass er auf Dämonen einen gewissen Einfluss hat, immerhin ist es ein Getränk der Götter, aber das hier ist wirklich amüsant.", mit einem Kopfnicken wies er auf den anderen Dämon, den der Shin gegrüßt hatte. Er lief gerade aus dem Zimmer und hielt sich dabei die Hand vor den Mund. „Bemerkst du etwas bis auf den Alkoholgehalt?"
Shin schüttelte den Kopf und ignorierte besagten Alkoholgehalt. Wo war Nell wenn man ihn mal brauchte? Cian war also doch nicht so vertrauensvoll wie er ihn eingeschätzt hatte. Er warf einen besorgten Blick auf Balgir, der abwesend wirkte, aber ansonsten noch ganz gut dabei. Shin selbst spürte nichts, außer der Wirkung des Alkohols. „Versuchst du irgendetwas zu beweisen?", fragte er an Cian gewandt. „Selbst in diesem Zustand, hast du keine Chance gegen mich. Wahrscheinlich hat das niemand in diesem Raum."
„Du nimmst einem wirklich den ganzen Spaß.", Cian wandte sich wieder von ihnen ab und ging zu den anderen rüber.
Shin schüttelte ungläubig den Kopf und sah sich um. Sein Glas landete auf dem Boden und zersprang. Es war kurz still in dem Zimmer, als sich alle umdrehten um nachzusehen, wem das Missgeschick widerfahren war. Shin starrte gebannt in die Leere neben sich. Er konnte sich nicht getäuscht haben, für einen winzigen Augenblick hatte er in die pechschwarzen Augen Abaddons gesehen. Als hätte er direkt neben ihm gestanden. Noch dazu war ihm die Gestalt die er gehabt hatte, vage bekannt vorgekommen. Seine einzige Erklärung für diese Sichtung war, dass der Nektar Halluzinationen, oder etwas in der Art, auslöste. Na toll.
„Ist alles in Ordnung?", fragte Cian, der sofort wieder neben ihm aufgetaucht war. „Ich habe doch gesagt, dass du aufpassen musst." Ein spöttisches Lächeln erschien auf seinem Gesicht.
Shins Hände zitterten. Dieser arrogante Elf. Er verspürte den verführerischen Drang ihm ins Gesicht zu schlagen, ein Wunsch der ihm neu war und ihn erschreckte. „Was genau sind bitte die Nebenwirkungen von denen du etwas weißt?", fragte er mit unterdrücktem Missfallen.
Das Lächeln wurde breiter. „Wenn es doch nur so einfach wär-" Der Rest des Satzes ging verloren, als Balgir seine Faust in Cians Gesicht rammte. Der Dunkelelf schaffte es sich geschickt nach hinten zu stürzen und damit wenigstens einen Teil des Angriffes abzudämpfen. Trotzdem konnte man, als er sich aufrichtete, ein kleines Rinnsal Blut an seinem Mundwinkel sehen und das Lächeln war aus seinem Gesicht verbannt. Shin fragte sich, ob er vorhin Balgirs Wut gespürt hatte, oder ob er es gewesen war, der Balgir, durch sein Blut, dazu angestachelt hatte anzugreifen. Im nächsten Atemzug hatte Cian einen silberglänzenden Gegenstand in der Hand und machte einen Schritt aus Balgir zu. Bevor es jedoch zu einem weiteren Angriff kommen konnte, wurde die bewaffnete Hand von Nells Klaue umschlossen und grob nach oben gezogen. Der Elf lehnte sich instinktiv gegen Nell, versetzte Balgir einen schmerzhaften Tritt und holte mit der freien Hand zum Schlag nach Nell aus. Dieser blockte hingegen geschickt ab.
„Ich dachte du wärst intelligenter.", stellte Nell fest und seine Klauen schlossen sich fester um Cians Unterarme. Mit einem verspielten Flüstern fragte Nell: „Also, welchen Knochen darf ich dir brechen?"
„Nell?", mischte Shin sich ein. „Hast du überhaupt mitbekommen, warum wir uns streiten?"
Nell schwieg kurz. „Nein, nicht ganz. Aber so eine Gelegenheit möchte man doch nicht verpassen."
Cian schnaubte und lachte kurz auf. „Da muss ich dir ausnahmsweise Recht geben." Er krümmte die Finger beider Hände und murmelte etwas Unverständliches. Schlagartig gab es eine Veränderung in der Luft.
Durch die versammelten Schüler, die bis zu diesem Moment noch interessiert zugesehen hatten, ging ein Zittern und der gehörnte Elf rief: „Cian, lass es sein!" Doch Cian sammelte Dunkle Magie zusammen, bereit, sie gegen Nell einzusetzen. All die Zeit hatte er sich zurückgehalten, damit er schneller von dieser Schule runterkam, aber es gab auch Momente in denen ihm die Auswirkungen seiner Handlungen egal waren.
Die Umstehenden suchten schnell das weite. „Hör auf damit.", sagte Shin mit schwacher Stimme. Es war ihm, als würde er im Augenwinkel diese Gestalt sehen, doch als er den Kopf drehte, war sie wieder verschwunden. Genau das was er jetzt brauchte: Wahnsinn. Im Moment gab es jedoch wichtigeres zu tun. „Cian, bitte."
Der Elf lächelte. „Du bist stark, aber du weißt eigentlich nicht wie du es einsetzen und kontrollieren kannst, oder?" Die Magie manifestierte sich in pulsierenden Sphären, die sich Blasenartig um seine Hände sammelten. Sie entlud sich durch seinen Körper, so dass Nell ihn erschrocken losließ und zurückwich. Cian grinste. „Tut mir leid, Nell. Aber von dir habe ich wirklich genug. Hah... welchen Knochen soll ich dir nicht brechen?"
Nell war verwirrt. Cians Magie hatte ihm Schmerzen verursacht und jetzt war er nicht mehr in der Lage, seine Arme anzuheben. Der Elf hob triumphierend die Hand, um die sich Kreise aus dunklem Licht bildeten, doch Shin griff, ohne zu zögern, in die gerade gebildete Magie. Cian zuckte zusammen. Die Kreise lösten sich aus der Kontrolle des Elfen. Shin spürte wie der Zauber sich zu ihm wandte. Er hatte nicht nachgedacht, einfach nur gehandelt um Nell zu helfen. Jetzt nährte der Zauber sich von seiner Magie und er spürte wie er instinktiv die Kraft von oben herab in die Entstehung der dunklen Kreise lenkte. Noch dazu stellte er fest, dass Cian recht gehabt hatte. Er konnte es nicht kontrollieren. Er hatte keine Ahnung wie der Zauber funktionierte und so machte dieser sich selbstständig, indem er immer mehr Kraft in sich aufnahm. Bis die Kreise sich blutrot färbten.
Und dann war es vorbei.
Plötzlich war es still.
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-schnitt-
Shin starrte hypnotisiert auf seinen Arm, mit dem er in den Zauber gegriffen hatte. Um seinen Unterarm schwebten drei rote Kreise, nur ein paar Zentimeter von seiner Haut entfernt. Es sah viel harmloser aus, als Cians Version. Dann erst bemerkte Shin die erdrückende Stille. Alle Bewegung um ihn herum war erstarrt. Der Elf neben ihm hatte noch halb die Hand ausgestreckt und war in der Bewegung erstarrt, sich abzuwenden und das Weite zu suchen. Nell stand Shin gegenüber, hatte nur einen Schritt zur Seite gemacht, um sich ihm aus einer anderen Richtung zu nähern. Ein Blick nach hinten verriet Shin, dass Balgir noch dort war. Er saß auf dem Boden und war erstarrt, genau wie die anderen. Er selbst konnte sich ganz normal bewegen, doch er sah lieber davon ab die roten Kreise zu berühren, die sich noch um seinen Arm schlangen. Er hielt ihn auf Abstand und drehte sich um die eigene Achse, um sicherzugehen, dass wirklich alles bewegungslos war. Er zog mit der freien Hand ein unbenutztes Taschentuch hervor und ließ es in der Luft los. Es fiel ein Stück hinab und blieb dann in der Schwebe stecken. „Ist die Zeit stehen geblieben?", flüsterte er in die Stille.
„Ja, du Tor.", antwortete eine Stimme.
Er sah die Gestalt und auch nicht. Sie stand vor ihm, aber nicht hier. Zu ihren Hufen war rotes Wasser. Ihre Flügel breiteten sich ungleichmäßig durch das Zimmer aus, ohne wirklich zu existieren. Über ihrem Haupt strahlte ein roter Nimbus. Ihre Augen, die mehr als zwei waren und weniger als die Unendlichkeit, existierten auch außerhalb ihres Körpers.
Ohne erkennbare menschliche Züge war es schwer festzumachen, aber sie sah verärgert aus. Langsam bildeten sich noch mehr Gestalten aus dem Nichts heraus, doch sie ignorierten Shin, zogen einfach durch die Luft hinweg und glitten durch sämtliche Materie. Also überging Shin sie ebenfalls und wendete sich der geflügelten Gestalt zu. Nur wusste er nicht, in welches der Augen er blicken sollte. „Das wollte ich nicht.", rechtfertigte er sich.
Die Gestalt schnalzte wütend mit der Zunge. „Wenn man den Zauber nicht begrenzen kann, sollte man gefälligst den Anstand haben, sich von ihm aussaugen zu lassen und zu sterben. Aber du hast ihn einfach bis zum Limit mit kosmischer Magie gefüllt."
„Das Tut mir leid.", sagte Shin automatisch und stockte dann. „Tut mir leid, dass ich nicht tot bin?"
„Das sollte es auch." Die Gestalt wirkte zufrieden.
Es entstand eine kleine Pause in der Shin sich fragte was jetzt passieren sollte. „Darf ich dich etwas fragen?", fragte er vorsichtig.
Sofort richteten sich alle Augen auf ihn und die Gestalt zeigte etwas wie ein Nicken.
„Bist du ein Engel?", brachte er hervor. Er kannte geflügelte Wesen, aber noch nie hatte er eines getroffen, das so anders war. Jeder Dämon kannte die Märchen über himmlische Wesen, die einst als Engel bekannte waren. Immerhin war einer der Begründer der Unterwelt, Lucifer, ein Engel gewesen. Doch sie waren nicht hier, nur Legenden und Märchen.
„Es gibt keine Engel mehr. Sie haben vor langer Zeit die weltlichen Sphären verlassen."
„Aber es ist doch gerade keine Zeit, deswegen meine Frage."
„Du kommst dir wohl ganz schlau vor. Nun gut, ich bin kein Engel. Ich bin wesentlich älter, wenn man in meinem Fall überhaupt von alter reden kann. Ich existiere unabhängig der Dimensionen. Engel hingegen sind bis zu gewissen Teilen an sie gebunden, sonst wäre Er sicherlich schon hier."
„Wer wäre hier?", Shins Herz machte einen Hüpfer. Gab es sie noch?
Das Wesen näherte sich Shin und ein Geräusch erklang, das an ein Schnuppern erinnerte. „Du bist wahrlich ein Tor. Die Wesen mit den goldenen Augen werden geboren, indem sie von dem vergossenen Blut der fleischlichen Titanen trinken. Es waren Seelenlose und tote Geschöpfe, die ihren eigenen Geist und ihr eigenes Leben entwickelten. Doch einer von ihnen war niemals tot. Er lag nur im Sterben. Voller Angst verschlang er das Blut und wurde wiedergeboren. Es ist zu bezweifeln, ob er sich an etwas aus seinem alten Leben erinnert, denn als die Engel ihre Existenz aufgaben, kehrten sie all ihre Kraft nach innen und wurden zu Sonnen. Wesen, die keinen Geist brauchen und sich dem Vergessen hingaben. Und eines, das langsam erlosch, wurde plötzlich von dem Quell des Lebens berührt."
„Aurun war ein Engel?" Shins Gedanken drehten sich, während das Wesen vor ihm immer näherkam.
„Du scheinst nicht zuzuhören. Er war eine Sonne, bevor er zu dem wurde was er jetzt ist. Engel gibt es nicht mehr." Es war mittlerweile so nahe, dass Shin den schwachen Atem spüren konnte und die angedeuteten menschlichen Gesichtszüge sah.
„Danke, dass du es mir erzählt hast." Langsam wurde diese Nähe mehr als Unangenehm. Die Flügel fingen an Shin einzuschließen. Augen fixierten ihn, Federn die sich anfühlten wie nasses Laub, streiften sanft über seinen Körper. Das Wasser schwappte in trägen Wellen über seine Füße. Er kam in Kontakt mit dem Ort, der ohne Zeit existierte.
„Ich weiß, dass Abaddon nur zu gerne in Rätseln spricht." Ohne Vorwarnung packte die Gestalt Shin am Hals. Im selben Moment zogen sich die Kreise um seinen Unterarm zusammen und gruben sich in sein Fleisch. Shin schrie vor Schmerzen auf, als das Geschöpf ihn in das Wasser stieß, mit einer Hand sein Kinn packte und mit der anderen gegen seine Stirn drückte. Der Zauber der roten Kreise bohrte sich gnadenlos in seinen Arm und mischte sich mit seinem Blut, das in das rote Wasser floss. „Zeig dich, oder das Kind wird sterben."
Shin versuchte sich gegen sie zu wehren, aber er konnte keinen Muskel rühren. Die Schmerzen in seinem Arm gingen langsam in Taubheit über und sein Kopf fühlte sich, durch die Berührung an der Stirn, wie leergefegt an.
Jemand legte die Hände auf seine Schultern. Abaddon kniete plötzlich in Shins Gestalt über ihm. „Kehre. Um. Du. Musst. Den. Zauber. Auflösen."
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Es fing von Neuem an.
Bewegung kehrte zurück.
Die Kreise zogen sich zusammen und Schmerz fuhr durch Shins ganzen Körper, während er den Zauber auflöste. Er schaffte es die Magie durch seinen Körper abzuleiten, doch sie hinterließ ihre Spuren und er sank langsam auf die Knie. Sein Kopf fühlte sich an, als hätte ihn jemand an der Stirn zusammengedrückt. Etwas war passiert, aber er konnte sich nicht mehr daran erinnert.
„Du Vollidiot! Was hast du gemacht?", rief Cian entsetzt.
Es waren nur Augenblicke vergangen, aber Shin kam es wie eine Ewigkeit vor, als wäre er woanders gewesen. Verwirrt sah er sich in dem Zimmer um und nahm kaum zur Kenntnis, dass Nell zu ihm stürzte und ihn in die Arme schloss. War er schon immer hier gewesen? Der Boden war zu hart, zu stofflich, irgendwie nicht wirklich und die Umarmung war nicht richtig.
„Shin, du blutest!", sagte Nell hastig und untersuchte Shins linken Arm, mit dem er den Zauber übernommen hatte. Drei gleichmäßige Schnitte schlossen sich wie Bänder um seinen Unterarm.
Shin nahm es mit einem Kopfnicken auf. „Nell. Du kannst deine Arme wieder bewegen. Bitte schlag Cian für mich."
Nell lächelte verständnisvoll. „Okay, wenn du möchtest."
Shin senkte den Kopf und Nell stand auf um sich Cian zu nähern. Während der Elf versuchte davonzukommen, hob Shin vorsichtig seinen verletzten Arm an und schloss seine Hand zur Faust. Es schien noch alles intakt zu sein, nur sein Blut tropfte unablässig zu Boden.
„Alles klar?", fragte Balgir, der hinter ihm saß und sich die Schläfen rieb.
„Ja, war schon schlimmer.", antwortete Shin und stand auf. Mittlerweile hatte Nell den Elfen in die Enge getrieben und am Kragen gepackt, bereit ihm ein blaues Auge zu verpassen. „Cian.", sagte Shin und schaffte ein müdes Lächeln. „Du weißt doch so viel über Magie, also bitte sag mir doch was da gerade passiert ist."
Cian schluckte seinen Stolz herunter und nickte. „Wenn man einen Zauber wirkt, muss man ihn geistig begrenzen, weil er sich sonst selbstständig macht und die Magie des Anwenders aussaugt und dieser an den Folgen stirbt."
Shin nickte. Irgendwie kam ihm das bekannt vor.
Cian fuhr fort: „Aber du hast einfach den Zauber an sein Limit getrieben, so dass er keine Magie mehr aufnehmen konnte ... und ihn dann irgendwie wieder rückgängig gemacht, indem du die Magie abgeleitet hast? Ich habe das ehrlich gesagt noch nie gesehen."
„Okay, danke." Shin wandte sich ab und schauderte. Er hatte ausversehen etwas Seltsames gemacht, etwas das ihn beunruhigte, obwohl er sich nicht mehr daran erinnern konnte. Er beschloss fürs Erste die Finger von der Magie zu lassen. „Ich gehe zur Krankenstation.", sagte er knapp und ging zur Tür. Nell ließ von Cian ab und folgte ihm. Balgir zögerte und kam dann ebenfalls mit, um sich wegen dem Einfluss des Nektars untersuchen zu lassen (so jedenfalls seine geistige Ausrede). Der Elf blieb verärgert und eingeschüchtert zurück. Als Shin seinen Zauber gestohlen hatte, hatte er mit einem Mal seinen ganzen Vorrat an Magie getilgt, weswegen auch der Bann von Nell gefallen war und dieser sich wieder hatte bewegen können. Er konnte einfach nicht einschätzen, ob Shin dies alles absichtlich tat, oder nur aus Zufall.
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