Lebenszeichen

Nell war nicht schnell genug gewesen. Oder er hatte einfach nicht genug aufgepasst. Eines von beidem, oder alles zusammen. Als das Drachenwesen ihm einfach ausgewichen war, hatte er versucht es noch zu erwischen und sich dabei mit dem Rücken zu den anderen beiden Unsterblichen gedreht. Das war ein Fehler gewesen. Er hatte gar nicht mitbekommen wer oder was ihn letztlich ausgeschaltet hatte. In jedem Fall musste er jetzt tot sein, aber irgendwie fand er keine Ruhe. Stattdessen war da dieses monotone Geräusch. Wie ein Rauschen das einfach nicht aufhören wollte. Er blinzelte und stellte fest, dass er noch am Leben war. Nell lag auf einer gepolsterten Bank in einem kleinen Raum mit Fenster und Schiebetür. Draußen raste die Landschaft an ihm vorbei. Gegenüber von ihm saßen Balgir und Cian. Der Elf starrte aus dem Fenster und der Dämon starrte in ein Buch. Sie waren in einem Zug. Warum waren sie in einem Zug? Nell stützte sich mit der Hand ab um aufzustehen, verlor jedoch sofort den Halt und fiel ungebremst auf den Boden des Zugabteils. Seine beiden Reisegefährten sahen erschrocken zu ihm runter.

„Du bist wach!", stellte Balgir überflüssigerweise fest.

„Ja.", Nell versuchte aufzustehen, doch er hatte keine Kraft in den Armen. Irgendwas stimmte hier nicht. Er sah an sich hinunter und stellte mit Schrecken fest, dass seine Krallen verschwunden waren und er stattdessen menschliche Hände hatte. Für einen Augenblick hatte er ein Déjà-vu, aber er bekam es nicht richtig zu fassen. Jetzt wo er wusste was sein Problem war, schaffte er es aufzustehen und sich wieder auf seine Bank zu setzen. „Haben sie uns also endlich erwischt.", sagte er und hoffte, dass ihn niemand auf seinen kleinen Unfall ansprach. „Ich nehme an wir sind in Richtung Loup Parole unterwegs."

Balgir nickte.

Na das konnte ja lustig werden. An den Ort zu gehen wo Unsterbliche auf sie warteten, mit denen sie sich mit mindestens der Hälfte von ihnen schon angelegt hatten. Er sah frustriert auf seine Hände und fragte sich, ob er das Schattenschwert jetzt überhaupt noch halten konnte. „Haben sie euch auch irgendwie gebannt?", fragte er.

Balgir nickte und zeigte ein paar rote Male an seinem Handgelenk. Von Cian kam nur ein wütendes Brummen.

„Es tut mir Leid.", sagte Balgir. „Ihr ward alle am Boden und uns zu ergeben war die einzige Möglichkeit uns relativ heil da wieder rauszubekommen."

„Du brauchst dich nicht zu entschuldigen. Wenn jemand Schuld war, dann war ich es.", das klang zwar gar nicht nach Cian, aber trotzdem kamen die Worte aus seinem Mund. Anschließend murmelte er: „Wie dumm kann man eigentlich sein?" Wobei nicht wirklich klar war, an wen die Worte gerichtet waren.

Nell brannte eine andere Frage unter den Nägeln. „Was ist mit Shin? Sie wollten ihn töten. Er ist doch nicht..."

Balgir zuckte mit den Schultern und wirkte für seine Verhältnisse ungewohnt gleichgültig. „Der Typ der die Kommandos gegeben hat, hat ihn mit einem Messer erstochen. Wenn Shin ein Unsterblicher ist, hat er Glück..."

Nell spürte eine seltsame Panik in sich aufsteigen die er nicht beschreiben konnte. Es war ähnlich dem Gefühl das er gehabt hatte, als seine Mutter gedroht hatte seine Freunde umzubringen, aber viel endgültiger. Ihm wurde schlecht, also sah er aus dem Fenster.

„Das kann man ja nicht mitansehen." Cian setzte sich auf, griff ungefragt nach Nells Arm und sah dann genervt zu Balgir. „Was ist los mit dir? Haben sie dir etwas angetan?"

„Äh warum? Nein? Nur die Bannzeichen angebracht wie bei euch auch.", antwortete der Dämon.

„Oh gut.", sagte Cian und untersuchte dann Nells Arm.

„Cian. Warum warst du eigentlich so komisch? Normalerweise würdest du nie so überstürzt handeln und uns alle in Gefahr bringen.", hakte Nell besorgt nach.

„Bitte frag nicht. Es ist nichts worüber ich schon wieder reden will.", erklärte der Elf und Nell meinte zu verstehen. Wer von den dreien war es gewesen? Cian hatte den in der Mitte angegriffen. Den, der auch Shin hatte töten wollen und es vielleicht auch getan hatte.

„Das nächste Mal greifen wir ihn zusammen an.", versprach Nell.

Balgir konnte nicht wissen worum es hier ging. Er war nicht dabei gewesen, als Cian erzählt hatte wie er angegriffen worden war. Aber er schien zu verstehen, dass etwas hier nicht in Ordnung war. Der Dämon öffnete den Mund um etwas zu sagen, hielt einen Moment inne und sagte dann doch: „Ich dachte der Unsterbliche den du angegriffen hast wäre Ren gewesen."

Nell konnte seine Überraschung nicht verbergen und auch Cian drehte sich schockiert zu Balgir um. „Nie im Leben war das Ren!", stellte Nell klar.

„Aber seine Augen waren doch ähnlich.", rechtfertigte Balgir seine Vermutung. „Sie waren Gold-Grün, genau wie bei Ren."

Cian sah plötzlich sehr blass aus.

„Das kann nicht-", begann Nell.

„Doch, kann es. Ich habe es ehrlich gesagt die ganze Zeit vermutet.", Cian hielt sich an Nells Arm fest. „Ich meine er hat so viele Sachen einfach gewusst... Es war wirklich dumm von mir."

„Was ist denn los?", fragte Balgir sichtlich besorgt und irritiert.

Nell übernahm die Erklärung. „Es war der Unsterbliche der Cians Magie damals versiegelt hat und ihn ... Missbraucht hat." Es tat weh es auszusprechen. Nell hätte nie gedacht, dass solche Dinge passieren konnten und dann auch noch jemandem wie Cian. Und ebenso hätte er nicht damit gerechnet, dass ein Schmerz, der nicht ihm selbst zugefügt worden war, ihn in einem solchen Ausmaß belasten würde.

Balgir sah erschrocken zu Cian und Nell erkannte, dass dem Dämon die Ereignisse im Tempelberg langsam klar wurden. „Aber Ren würde doch nicht...", begann er, verlor dann jedoch den Faden und schien dann in Gedanken zu versinken.

„Er hat sich verändert.", sagte Nell leise. „Irgendwie war er nach unserer Flucht aus der Loup Parole anders. Früher war er nicht so..." Er merkte, wie auch er keine Worte mehr fand. Genau genommen fand er keinen Vergleichspunkt. Wie war Ren denn nochmal an der Loup Parole gewesen? Sie waren Freunde gewesen, oder? Warum fiel ihm plötzlich nichts dazu ein. Er fand keine einzige Erinnerungen. Kein gemeinsamer Nachmittag, kein spontanes Treffen im Gewächshaus oder Streitereien. Es gab nichts mehr. Sein Blick traf den von Balgir, den die Erkenntnis im gleichen Moment traf.

„Es gibt nichts.", ergriff Cian mit einem Mal das Wort. „Mir ist es heute Morgen langsam bewusst geworden: Ich habe keine Erinnerungen an Ren, die vor unserer Flucht aus der Loup Parole liegen. Ich habe es die ganze Zeit nicht hinterfragt und ich weiß nicht einmal warum. Es ist als hätte jemand etwas mit meinem Kopf angestellt. Ist es passiert als er mir aufgelauert ist?"

„Nein, warte!", sagte Balgir hastig. „Ich kann mich auch nicht erinnern! Ich weiß Dinge über Ren, aber ich kann mich nicht mehr daran erinnern wie er sie mir erzählt hat, oder ich es herausgefunden habe. Wir waren Freunde, aber ich kann mich an keine gemeinsame Zeit erinnern. Warum merke ich das erst jetzt?"

Nell spürte eine Unsicherheit in sich, die er in den ganzen letzten Monaten unterdrückt hatte. Es kroch langsam an die Oberfläche. Er konnte sich nicht erinnern. War Ren wirklich der, für den sie ihn gehalten hatten? Die Unsterblichen konnten immerhin Gedanken und Gefühle beeinflussen. „Die Frage ist...", überlegte er. „... seit wann er uns manipuliert. Haben wir ihn wirklich schon an der Loup Parole kennengelernt, oder hat er uns das später eingeredet?" Der Gedanke war furchtbar. Es war nicht nur die Unsicherheit die damit einherging, dass sie jemand über Monate hinweg kontrolliert und an der Nase herumgeführt hatte, wie um ihnen zu zeigen wie schwach sie waren. Es war auch der Verrat eines Freundes.

Auf Cians Gesicht konnte Nell ablesen, dass der Dunkelelf sich diesen Gedanken ebenfalls schon gestellt hatte. Balgir hingegen sah ihn wütend an und sagte dann: „Warum sollte er das tun? Er hat doch nichts davon. Das ist doch alles Unsinn. Er hatte vorhin eindeutig Angst vor Shin, hier ist irgendetwas anderes los! Außerdem ist dieser dumme Inkubus-"

„Was soll das?", unterbrach Nell ihn entnervt. „Ich dachte du bist auf Shins Seite. Was ist los?"

Balgir schlug plötzlich mit der Faust gegen die Abteiltür. Es war fest genug, dass die Schiebetür gegen ihre Verankerung donnerte. „Komm schon, nur weil du ihn flachlegen durftest, ist er jetzt einer von den Guten? Er ist genauso ein Unsterblicher wie Ren!" Mit diesen Worten schob er die Tür mit voller Wucht auf und verließ das Abteil. Sie konnten noch hören wie er laut den Gang des Zuges hinunterlief.

Nell war wütend. Balgir war lange nicht mehr so ausgerastet, so dass er schon fast vergessen hatte wie engstirnig der Dämon sein konnte. Es war wirklich anstrengend mit ihm. Gleichzeitig bemerkte Nell eine ungewohnte Unsicherheit in sich. Er sah auf seine jetzt menschlichen Hände hinab und realisierte, dass er Balgir gegenüber jetzt vielleicht schutzlos wäre. Er seufzte.

„Keine Sorge, Balgir wird sich nur ein ruhiges Plätzchen suchen um sich abzuregen. Er kennt sich selbst am besten. Außerdem..." Cian stand auf und warf ein Blick aus der Abteiltür, die Balgir offen gelassen hat. „Ich habe den Zug damals kontrolliert als er mich zur Loup Parole gebracht hat und es gibt keine Möglichkeit ihn irgendwie zu verlassen. Einmal hier drinnen gibt es kein Entkommen. Keine Chance dass wir da was mit versiegelten Kräften unternehmen können." Damit warf er einen mitleidigen Blick auf Nells nutzlose Hände.

„Ich wette noch vor einem Jahr hättest du alles dafür gegeben mich in diesem Zustand zu erwischen.", sagte Nell und traute sich fast gar nicht Cian dabei anzusehen.

Zu seiner Überraschung verneinte Cian jedoch: „Das wäre nicht das Richtige gewesen. Ich hätte mich zwar über dich lustig gemacht, aber es wäre kein echter Sieg gewesen. Es ging mir nie darum dich umzubringen, sondern richtig zu gewinnen." Es klang ein wenig so, als wolle Cian dem noch etwas hinzufügen, ließ es dann jedoch sein. Er setzte sich wieder gegenüber von Nell und starrte weiter aus dem Fenster.

Nell schloss die Augen und versuchte das komische Gefühl seiner Hände zu ignorieren. Irgendwo im Zug lief Balgir herum und schlug auf eine Wand ein und Nell fragte sich, woher Balgirs plötzlicher Hass auf Shin kam. Obwohl es so viel mehr wichtigere Probleme gab worüber er nachdenken konnte – Rens Verrat, dass sie in ein paar Stunden an der Loup Parole ankommen würden und die ganzen Unsterblichen die auf sie warten würden – kamen seine Gedanken immer wieder zu Shin zurück. Die Natürlichkeit mit der sie nebeneinander gelegen hatten und Shins Selbstverständlichkeit wenn es um ihre Nähe ging.

Seine Gedanken wurden jäh von Cian unterbrochen, als dieser sagte: „Ich habe übrigens eine gute Nachricht für dich. Ich habe eben deinen Arm untersucht und der Pakt ist noch da."

Nell sah auf seinen Arm, konnte dort jedoch nichts erkennen.

Cian verdrehte die Augen. „Ich habe noch genug Magie in mir um Magie aufzuspüren und das ist eindeutig der Pakt. Das heißt dein Inkubus ist noch am Leben."

Shin musste leben. „Danke.", murmelte Nell, der versuchte nicht zu zeigen, wie sehr ihn diese Nachricht erleichterte.

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