Kontakt
Shin saß auf dem Sofa unter der Kuppel, umgeben von Büchern und in den Versuch versunken sich zu konzentrieren. Seine Aufmerksamkeit schweifte jedoch immer wieder ab. Einerseits zu den Büchern auf dem Boden und in den Regalen und andererseits zu den kleinen Geräuschen aus der Ferne, die von Roan stammten. Er hatte gesagt er würde ein bestimmtes Buch brauchen und war es suchen gegangen. Shin hatte er eine Aufgabe gegeben.
„Du hast schon jemanden markiert? Keine Sorge, du brauchst mir keine Details zu verraten. Sobald du jemanden markiert hast, sei es in einer Welt oder in einer Domäne, kannst du sie wiederfinden und zu einem gewissen Grad kontaktieren oder sogar kontrollieren. Versuche dich zu konzentrieren und sie zu finden."
Und jetzt saß Shin hier und versuchte Ren irgendwie zu finden, aber sein Kopf war so voll von anderen Dingen, dass es unmöglich war irgendwo darin Ren zu finden. Es war ganz anders als die Verbindung mit dem Blut. Ab und zu bekam er etwas zu fassen, aber es verschwand sofort wieder, zerfloss in seinen Händen. Das Blut dagegen war stärker gewesen und hatte ihn als ständiges Gefühl begleitet. Jetzt hingegen saß er da und griff mit bloßen Händen ins Wasser, in der Hoffnung einen Fisch zu fangen. Er seufzte und dachte nach was er noch tun könnte. Seine erste Vermutung hatte sich nicht bestätigt. Als Roan noch dabei gesessen hatte und Shin vergeblich nach Ren Ausschau gehalten hatte, hatte er den Verdacht geäußert, dass wenn Aurun keinen Kontakt zu Roan hatte, es Shin vielleicht ähnlich erging. Aber Roan hatte gesagt, dass Shin sich mit seiner Domäne niemals selbst blockieren würde. Also versuchte er es weiter und weiter ...
... und dann, während seine Gedanken wieder abschweiften, viel ihm ein, dass Ren nicht die einzige Person war, die er markiert hatte. Es gab auch noch den Traumfresser. Ankamna hatte ihn zwar getötet, aber ihr Bund sollte noch immer Bestand haben. Selbst im Tod... Shin erschauderte bei seinen eigenen Gedanken, streckte aber dennoch die geistige Antenne nach dem Traumfresser aus. Einem Wesen, dessen Namen er nie kennengelernt hatte.
Es war erstaunlich einfach – viel einfacher als bei Ren. Kaum dass er daran dachte, konnte er die Spur finden, die ihn wie ein roter Faden direkt zu ihm führte.
Shin sah auf seine Hände, die in rotem Wasser versanken, während um ihn Stille herrschte. Dann hörte er wie jemand etwas sagte, aber es war verzerrt und dumpf als würde durch einen schlechten Lautsprecher gesprochen und er konnte kein einziges Wort verstehen. Dann fiel er hinab, immer tiefer hinein in den Abgrund.
„Geht es dir gut?"
Shin kam langsam wieder zu sich. Er war von dem Sofa gerutscht und lag zwischen umgestoßenen Bücherstapeln. Roan stand über ihm und tat so als wäre er besorgt. Als er sah, wie Shin sich aufrappelte, kehrte das Desinteresse zurück und er setzte sich gegenüber Shin aufs Sofa.
Was war passiert? Shin hatte sehr viele wirre Bilder gesehen und gar nicht bemerkt wie er die Kontrolle verloren hatte. War er wirklich im Kopf des Traumfressers gewesen? Lag es daran, dass er tot war?
Shin sah zu Roan und überlegte ob er ihn fragen sollte, entschied sich dann aber für etwas anderes. „Ich schaffe es nicht.", gab er zu. „Ich kann keinen Kontakt zu Ren aufnehmen."
„Ren?", fragte Roan nach. „War das nicht dieser Fuchs dem Ankamna immer nachgejagt ist?"
„Du kennst ihn?", fragte Shin.
Roan nickte. „Naja es gibt nicht so viele von uns und wenn jemand neues auftaucht – wie dieser Ankamna – wird natürlich viel geredet."
Shin erinnerte sich an die ganzen Boulevard-Blätter, die über Unsterbliche berichteten und ihm kam der Gedanke, dass es bestimmt auch lustig mit ihnen sein konnte. Sie konnten ganz normale Leute sein, die übereinander lästerten und Freundschaften schlossen. Wären da nur nicht ein paar grausame Individuen, die den anderen den Spaß verdarben. „Hast du Ankamna getroffen?", fragte Shin.
„Nur von der ferne. Aurun bevorzugt es uns von Neuen zu trennen, damit er sich selbst um sie kümmern kann.", erklärte Roan.
„Keine Sorge, da hast du wirklich nichts verpasst.", sagte Shin und kam dann zum eigentlichen Thema zurück: „Ren ist jemand den ich markiert habe und ich schaffe es nicht ihn zu erreichen. Kannst du mir einen Tipp geben, oder mir helfen?"
„Na gut." Roan setzte sich Shin gegenüber. Das heißt, er kniete sich vor Shin, der jetzt wieder auf dem Sofa saß und nahm dessen Hände in seine. „Versuche dich zu konzentrieren."
Shin fiel es plötzlich schwer sich auf etwas anderes zu konzentriere als diese zweideutige Position in der sie sich befanden. Zum Glück fand er Roan immer noch zu gruselig um ihn anziehend zu finden. „Worauf soll ich mich konzentrieren.", fragte er leicht genervt.
Roan überlegte einen Moment, dann antwortete er. „Auf den Fuchs. Versuche dich an Details von ihm zu erinnern. Wie er riecht, wie er sich bewegt, wie er redet. Solche Dinge eben. Versuche die Erinnerung wachzurufen und du wirst den echten ganz schnell lokalisieren können."
Also schloss Shin die Augen. Es half irgendwie, dass Roan seine Hände festhielt, denn Körperkontakt hatte ihm schon immer geholfen im hier und jetzt zu bleiben. Er versuchte es so zu machen wie ihm geraten worden war. Er rief sich Rens leicht arrogante Blicke ins Gedächtnis, seine Kommentare und seine Stimme, als er Shin darum gebeten hatte ihn zu markieren und zu befreien. Und irgendwie auch, Shin konnte es fast schmecken, das Gefühl als er Ren gebissen hatte. Shin spürte die Stacheln auf seiner Zunge und ihm war es fast so, als wäre er mit Ren in einem Raum. Doch er konnte nicht nach ihm greifen. Gerade als er sich sicher war ihn gefunden zu haben, zerfiel alles wieder vor ihm. Wie sollte das funktionieren? Wie hatte Ankamna es überhaupt geschafft Ren um die halbe Welt zu jagen? Shin wurde ärgerlich, als er an den anderen Unsterblichen dachte. Und mit einem Mal sah er Ren ganz klar vor sich. Shin zögerte nicht lange, sondern griff nach ihm. Im selben Moment verließ ihn das Gefühl auf dem Sofa zu sitzen und Roans Hände zu halten.
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Er saß sehr unbequem und steif auf einem reich verzierten Diwan. Den Rücken durchgedrückt, die Haltung gerade, der Blick arrogant. Ein Tag wie jeder andere und trotzdem fühlte er sich seltsam.
Seine Gäste kamen herein. Es waren zwei Unsterbliche, die auf Verheißen von Aurun zu ihm gekommen waren. Sie blieben an der Tür des Salons stehen, als würden sie nicht wissen, was sie als nächstes tun sollten. Hereinkommen? Grüßen? Platz nehmen?
Schließlich verlor er die Geduld, winkte sie herein und deutete auf zwei freie Stühle. „Setzt euch, nehmt euch etwas zu Essen und dann erzählt."
Sie setzten sich, ignorierten jedoch die Etageren mit den bunten Törtchen und Gebäcken.
„Wir brauchen deine Hilfe!", redete eine von ihnen einfach drauf los.
Der andere nickte. „Aurun hat uns zu dir geschickt."
Er seufzte. „Was ist geschehen?", fragte er, obwohl er die Antwort schon längst kannte.
„Aurun hat einen von uns losgeschickt um eine Gruppe Unsterblichenjäger zu töten und er ist seitdem nicht mehr zurückgekehrt. Aurun kann auch keinen Kontakt mehr zu ihm aufnehmen. Er sagte wenn jemand uns weiterhelfen kann, dann bist Du es."
Bei diesen Worten zuckte er innerlich zusammen. War das eine Warnung? Wie viel wusste Aurun? Wollte er wirklich seine Hilfe, oder war es etwas anderes? „Ihr seht müde aus.", sagte er schließlich, obwohl er selbst es war, der sich müde fühlte. „Ihr habt eine lange Reise und einen langen Tag hinter euch. Ruht euch aus und wir werden morgen sehen, was wir tun können."
Sie wollten protestieren, doch er winkte und zwei Dunkelelfen kamen herein, um sie auf ihre Zimmer zu führen. Er hörte wie sie auf dem Flur draußen noch leise aber angeregt diskutierten, bis ihre Stimmen langsam in der Ferne verschwanden.
„Ist alles in Ordnung?", fragte ein dritter Dunkelelf, der soeben in den Salon gekommen war.
„Ja. Ich ziehe mich für heute zurück.", erklärte Er und ging durch eine Tür die sich neben dem Kamin befand. Er schritt einen marmornen Gang entlang und erreichte eine unscheinbare Tür. Er öffnete sie und war jetzt in einem Treppenhaus. Er wählte den Weg nach oben und gelangte in ein minimalistisch eingerichtetes Vorzimmer. Er durchquerte eine weitere Tür und war an seinem Ziel angekommen. Ein Schlafzimmer mit Ausblick über die Stadt in der Abenddämmerung. Er warf einen Blick aus dem Panoramafenster und sah die unendlichen Lichter der Leben dort draußen und die untergehende Sonne am Horizont. Dann schaltete er das Licht an und die Stadt verschwand hinter seinem Spiegelbild.
Jetzt blickte er in das Gesicht von Ankamna und ein Schrecken durchfuhr ihn. Er stolperte zurück und stieß gegen einen niedrigen Tisch. Fast wäre er hingefallen, doch er fing sich rechtzeitig ab. Seine Hände zitterten und sein Herz raste. Was war hier los? Woher kam diese plötzliche Angst und dieser ... Hass? Dann merkte er woher er dieses Gefühl kannte. Es verfolgte ihn, seit er im Salon gesessen hatte. Wann hatte es angefangen? Warum hatte er es nicht schon früher bemerkt? Es war viel weniger invasiv als er es gewohnt war. Irgendwie zurückhaltend. Mit leicht zitternden Händen, tastete er nach dem Tisch hinter sich und setzte sich. Dann fragte er in das leere Zimmer: „Shin?"
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Shin spürte Roans Hände, die noch immer seine eigenen hielten und blinzelte. Er war wieder hier. Er war die ganze Zeit hier gewesen. Aber es hatte sich alles so real angefühlt.
„Hat es geklappt?", fragte Roan neugierig.
Shin starrte ihn an, nicht in der Lage eine Antwort zu geben.
„Keine Sorge, lass dir Zeit.", versicherte Roan ihm.
„Das war nicht Ren!", platzte Shin heraus. Oder doch? Er sah sich unsicher um. Ren konnte seine Gestalt verändern, aber warum ausgerechnet Ankamna? Und was hatte er dort getan? Warum war er nicht mehr mit Nell, Balgir und Cian unterwegs? „Jedenfalls sah er nicht so aus... und ich weiß auch nicht wo er war." Letztlich hatte es nichts gebracht. Das einzige was in seinem Kopf widerhallte war, wie er nach Shin gefragt hatte. „Er hat mich bemerkt.", murmelte Shin.
Wie immer blieb Roan ruhig und er wuschelte Shin mit einem Lächeln über die Haare. „Das ist nicht schlimm. Wir bemerken es recht häufig, besonders wenn die Person die uns markiert hat starke Emotionen empfindet. Und was den Ort betrifft. Vielleicht kannst du ihn beschreiben und ich helfe dir ihn zu finden."
Shin nickte und ordnete die Details in seinem Kopf. Erst einmal war dort der Salon. Er war edel und altertümlich eingerichtet gewesen, aber es hatte elektrisches Licht gegeben. Und das Treppenhaus war komplett Schmucklos gewesen, genau wie das Vorzimmer und das Schlafzimmer. Shin beschrieb es Roan und erzählte auch von kurzen Blick den er auf die Stadt hatte erhaschen können. Es hatte Flachbauten gegeben und viele Schornsteine, aber auch seltsam spitz zulaufende Türme.
„Hast du auch ein großes Gebäude gesehen, das weit über die anderen herausragt und eine Art Stufenpyramide ist?"
Das war eine sehr spezifische Frage. Roan schien schon eine Spur zu haben, aber Shin erinnerte sich nicht an ein solches Gebäude, aber dann fiel ihm noch etwas wichtiges ein: „ich habe dieses Gebäude nicht gesehen, aber alle Leute die ich gesehen habe und die keine Unsterblichen waren, waren Dunkelelfen."
Roan nickte. „Dann ist es Marhain. Aber ich wundere mich nur, dass du den Tempelberg nicht gesehen hast."
Shin hatte schon davon gehört. Der Tempelberg war kein richtiger Berg, er war nur so riesig, dass er den Spitznamen ‚Tempelberg' erhalten hatte. „Vielleicht war er auf der anderen Seite. Ich konnte durch das Fenster ja nur in eine Richtung blicken.", vermutete Shin.
„Das kann natürlich auch sein.", bestätigte Roan, doch sein Blick schien etwas anderes sagen zu wollen. Er wechselte jedoch das Thema, anstatt darauf einzugehen: „Wirst du dorthin gehen und Ren suchen?"
Shin traf die Frage unvorbereitet, obwohl es irgendwie klar war, dass das Ziel von Shins Bemühungen war. „Ja ich denke schon.", sagte er, plötzlich nervös. „Ren kann mir bestimmt vieles erklären und uns weiterhelfen."
„Das denke ich auch.", sagte Roan. „Es ist gut, dass du hier noch jemanden hast, dem du vertrauen kannst."
„Ja.", log Shin. Er wusste es nicht. Er hatte keine Ahnung ob er Ren vertrauen konnte, oder ob das, was er dort als Spiegelung in der Glasscheibe gesehen hatte, überhaupt Ren gewesen war.
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