Gefangennahme

Der Morgen danach war unangenehmer als Shin es sich vorgestellt hatte.

„Willst du das nicht verstecken?", fragte er Ren nervös und deutete auf die Narbe. „Die von Ankamna hast du auch versteckt."

Ren zuckte mit den Schultern. „Aber das hier ist doch nichts Schlimmes. Sie war freiwillig."

Shin beugte sich vor und flüsterte eindringlich in Rens Ohr: „Es ist auch gar nicht die Tat per se. Ich mache mir Sorgen um die Reaktion der Monster um uns herum. Seit neustem erfreue ich mich unaufgeforderter Beliebtheit und besonders eine gewisse Krallentragende Person die wir beide kennen, könnte das alles in den falschen Hals bekommen."

„Ah.", machte Ren und dann etwas lauter: „Aha! Deswegen wolltest du mich gestern nicht ganz haben. Du hattest ja Sex mit Nell! Ich scheine nicht der Einzige zu sein, der mutwillig seine Freiheit verschenkt." Zaghaft strich er über die frische Narbe, die fast sofort verschwand, als wäre sie nie dort gewesen.

„Danke.", sagte Shin erleichtert. „Und du fühlst dich nicht komisch? Irgendwie Wahnsinnig und über gefährliche Ausmaße verrückt nach mir?" Er musste ständig an den Traumfresser denken, von dem er immer noch nicht genau sagen konnte, ob dieser wirklich guter Gesinnung zu ihm gewesen war.

Ren hob die Augenbrauen. „Natürlich nicht. Für wen hältst du mich?!"

Damit war das Thema abgeschlossen und sie machten sich auf den Weg zum Frühstück, wo sie sich mit Nell und Balgir trafen. Balgir sah erleichtert aus, endlich Ren wiederzusehen und auch Ren war froh, auch wenn er es kaum zeigte. „Wie bist du zurückgekommen?", fragte der Dämon.

„Ich war nur ein paar Tage weg und du machst ein Drama daraus.", tat Ren die Frage ab. „Ich habe mich jedoch dazu entschlossen mein Leben etwas zu ändern und schließe mich jetzt offiziell Shins Harem an."

Shin verschluckte sich an seinem Kaffee und brachte vor Husten keinen Ton heraus.

Um Nell bildete sich eine leichte Aura der Aggression, ohne dass dieser es in seinem Gesicht oder seiner Körperhaltung zum Ausdruck brachte. Es war eine Naturgegebene Fähigkeit, die nur den Wenigsten, unabhängig von Art und Geschlecht, gegeben war und jeder der vernünftig war, würde in diesem Moment versuchen die Lage zu beruhigen oder das Weite suchen. Leider saß an diesem Tisch niemand der diese Anforderung erfüllte, außer Shin der drohte an seinem Kaffee zu ersticken. Nell klopfte ihm so fest auf den Rücken, dass Shin sich mit den Ellbogen schmerzhaft abfangen musste, um nicht mit dem Gesicht auf die Tischplatte zu knallen. „Wovon redet der Fuchs da?", fragte Nell in beiläufigem Tonfall.

„Das frage ich mich auch.", meinte Balgir möglichst desinteressiert.

Shin versuchte den Rest Kaffee aus seiner Luftröhre zu husten und dachte dabei an die Dinge die sich ihm hier Boten. Er könnte jetzt versuchen Rens Worte aufzuklären, oder eine völlig neue Möglichkeit entdecken. Immerhin hatten alle Anwesenden von seinem Blut getrunken und waren ihm auf die ein oder andere Art verfallen. Als er sich wieder gefangen hatte, traf sein Blick den von Ren. Ren blinzelte ihm zu und Shin glaubte zu hören wie dieser dachte: „Ich helfe dir nur zu bekommen, was du wirklich willst."

„Es ist...", begann Shin.

„Ist alles in Ordnung?", fragte ein Mädchen, das keiner von ihnen kannte. Sie war von einem Tisch herübergekommen, an dem mehrere Leute saßen, die alle misstrauisch Nell beäugten. „Niemand von uns will, dass du Shin etwas antust.", sagte sie direkt und ohne Angst zu Nell. Es war noch nie geschehen, dass jemand so offen Kritik an Nell geäußert hatte. Doch dann merkte Shin, dass die Augen aller Anwesenden im Speisesaal auf das Geschehen an seinem Tisch gerichtet waren. Er wurde immer noch beobachtet und würde die Blicke wahrscheinlich nicht so schnell loswerden. So einen Traum vergaß man nicht einfach so.

Nell hob die Augenbrauen. „Ganz unter uns. Shin ist der Einzige hier, der sich nicht vor mir fürchten sollte."

„Dann ist ja gut.", sagte das Mädchen unbeeindruckt und kehrte an ihren Tisch zurück.

Die kleine Gruppe um Shin sah sich in dem Raum um, bis alle wieder zu ihren Morgengesprächen zurückgekehrt waren.

„Das war gruselig.", stellte Balgir fest.

Shin nickte. „Und dies aus dem Mund eines Dämon zu hören ist noch beunruhigender. Vergiss bitte, wovon wir vorhin geredet haben." Der letzte Satz galt Nell und Shin sah ihn hoffnungsvoll an. „Ren hat nur Unsinn erzählt."

Nell lächelte, wobei etwas Zweifel in seinem Blick lag. „Das weiß ich doch.", versicherte er.

Shin wurde zunehmend nervös. Den ganzen restlichen Tag über schien Ren an ihm zu kleben wie eine Klette und in jeder freien Minute gesellte Nell sich zu ihnen und brachte jedem hasserfüllte Blicke entgegen, der es wagte Shin auch nur anzusehen. Dies geschah leider sehr häufig, da immer noch alle auf ihn fixiert waren. Shin hatte kaum Zeit dafür, sich zu fragen, wann und ob Ankamna handeln würde. Er sah es als selbstverständlich und das Ausbleiben eines Gegenangriffs, machte ihn zu einem einzigen Nervenbündel und steigerte seine Sorge um Lucy. Was wenn er schon etwas getan hatte und Shin es nur nicht mitbekommen hatte. Wenn er ihr etwas angetan hatte. Er versuchte seine Angst zu ignorieren und normal in den Tag hineinzuleben. Es fiel ihm schwer sich daran zu erinnern, wie es funktionierte. Noch vor ein paar Monaten hatte er fast nur die Tage bedeutungslos an sich vorbeiziehen lassen. Die Aufmerksamkeit und die Verantwortung waren eine Last mit der er nicht umzugehen wusste.

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Es geschah unerwartet. Als Shin mit der Masse aus einem der Klassenzimmer strömte, lehnte sie lässig an der Wand gegenüber und wartete darauf, dass er zu ihr kam. Lucy. Shin blieb vor ihr stehen und versuchte etwas zu sagen, doch die Worte blieben ihm im Hals stecken.

„Ankamna möchte mit dir sprechen.", kam sie ihm zuvor.

Er nickte, sagte nichts und folgte ihr. Er hatte das Gefühl, dass es nicht richtig war. Dass es höchstwahrscheinlich eine Falle war. Doch Situationen der letzten Wochen hatten ihm vor Augen geführt, dass es kaum etwas gab, das eine echte Gefahr für ihn war. Was sollte schon passieren, was ihm nicht schon von anderen zugefügt worden war. Nun konnte er jederzeit Magie heraufbeschwören, obwohl er sich nie angestrengt hatte es zu erlernen. Er dachte an all die Formeln die es brauchte um eine Beschwörung zu meistern und an all die Stunden die wahrscheinlich auch Cian in das Erlernen seiner Magie investiert hatte. Shin spürte eine zynische Genugtuung darüber wie einfach es gewesen war, mit geringem Aufwand an diese Macht zu kommen. Und er hatte einmal ernsthaft geglaubt, seine Zukunft wäre erst dann sicher, wenn er sich durch die ganze Bürokratie und Lernstunden der Universität geschlagen hätte. Jetzt hatte er etwas Neues, etwas das er gar nicht gewollt hatte und dann auch noch auf dem einfachsten Weg. Das erste Mal wurde ihm bewusst, dass er ebenso einen dunklen Weg betreten konnte. Er war jetzt schon Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Alles was er noch tun musste, war den anderen Schülern, der Loup Parole, seine Macht zu demonstrieren und er würde sofort an der Spitze stehen. Doch war das wirklich er? Nein. Er blieb erschrocken stehen. Niemals würde er einen solchen Schritt tun. Aber er könnte es. Jederzeit. Er dachte an die Worte seines Vaters:

... am Ende wird nichts in dieser Welt für dich eine Gefahr sein. Sie ist lediglich dein Spielplatz.

„Was ist los?", fragte Lucy und brachte Shin mit ihrer Frage ins hier und jetzt zurück.

Er schüttelte den Kopf. „Nichts ist los. Lass uns weitergehen." Richtig, er war ein Teil dieser Welt und musste sie ernst nehmen. Und er musste Lucy helfen. Jetzt da er wusste, was Ankamna mit ihr angestellt hatte, umso dringender. Wenn sie wieder sie selbst war, würde er ihr alles erzählen und sie würde für ihn da sein, so wie sie beide immer füreinander dagewesen waren. Die Erwartung darauf, nahm ihm einen Teil seiner Angst, die sich im Stillen langsam in ihm aufgebaut hatte. Er musste bei ihr sein. Selbst wenn sie ihn in eine Falle lockte. Ihr Weg endete in einem der Gänge, der wie aus dem Nichts um sie herum auftauchte und Shin den Moment verpasst hatte, in dem sie ihn betreten hatten. Er warf einen kurzen Blick zurück, während Lucy nicht auf ihn achtete und weiterging. Am Ende des Ganges, sah er wie eine kleine Gestalt sich hinter der nächsten Ecke verbarg, damit er sie nicht bemerkte. Doch Shin erkannte was es war, weil er es auch in seinem Traum gesehen hatte. Es war ein Fuchs. Ren war ihnen gefolgt. Was hast du vor, dachte Shin angestrengt, doch Ren gab keine Antwort.

Sie erreichten das Ende des Ganges und Lucy blieb vor der undurchdringlich scheinenden Wand stehen.

„Worauf wartest du?", fragte Shin mit einem leichten Zittern in der Stimme.

Sie sah ihn nicht an, sondern legte die Handfläche gegen die Wand. „Wir sind hier.", flüsterte sie. Es war anders, als zu dem Zeitpunkt an dem er von Ren hierhergebracht worden war. Es schien als würde sich der Raum krümmen und im nächsten Augenblick standen sie auf der anderen Seite der Mauer, in dem unwirklichen Garten. Er drehte sich von Lucy weg und sah Ankamna auf sie zukommen. Shin grüßte ihn mit einem kalten Lächeln. „Ich frage mich, warum du mich hast kommen lassen. Es wäre nicht nötig gewesen mich extra einzuladen."

Ankamnas Mundwinkel zuckten. „Die hier ist eine von mir geschaffene Welt. Ohne meine Erlaubnis kann niemand sie betreten oder verlassen. Außerdem, wirst du hier nicht in der Lage sein, Magie aus deiner Umgebung zu schöpfen."

„Wirklich?" Shin konzentrierte sich und es stimmte. Er konnte keine Magie zu sich ziehen. Er war in einer Welt, die seiner Natur widersprach. Es war ärgerlich, aber irgendwie verunsicherte es ihn weniger, als Ankamna erwartet hätte. „Was willst du von mir?"

„Du sollst mir Ren zurückgeben."

„Er gehört weder dir, noch mir."

„Du hast ihm von deinem Blut gegeben und ihn gebissen."

„Und weiter?", fragte Shin. „Er war doch nur bei dir, weil du ihn dazu gezwungen hast."

„Es gibt Verbindungen, die anders sind, als das Blut und der Biss.", Ankamna deutete mit einem Nicken auf Lucy. „Sie ist doch auch so jemand. Eine Person die nicht auf eine solche Weise mit dir verbunden ist und die du trotzdem liebst. Ich tausche sie gegen Ren."

Aber Lucy und ich sind nicht in einer Liebesbeziehung und ich habe Lucy keine schrecklichen Dinge angetan und Ren ist freiwillig zu mir gekommen. „Du bist verrückt.", sagte Shin laut.

„Das hat man davon, wenn man versucht die Dinge mit Worten zu lösen.", seufzte Ankamna und sammelte Magie in seiner Hand. Er formte sie blitzschnell zu einer Klinge und schleuderte sie Shin entgegen. Zuerst wollte Shin versuchen auszuweichen, doch es war die einzige Energiequelle die er im Raum finden konnte und so streckte er die Hand danach aus und nahm sie entgegen. Die Klinge löste sich auf und die Magie wand sich um Shins Arm. Er richtete sie gegen Ankamna und hielt sofort inne, als er sah wie Lucy sich schützend zwischen sie stellte. Shin seufzte und flehte sie an: „Bitte geh mir aus dem Weg, danach wird alles gut."

„Was willst du tun? Ihn töten?", fragte sie ohne auch nur einen Millimeter zu weichen.

Shin zuckte bei dem Wort zusammen. Eigentlich war das Angreifen seine Intention gewesen, ohne sich jegliche Gedanken über die Folgen einer solchen Tat zu machen. „Bitte, er ist nicht gut."

„Und was ist mit dir? Warum denkst du, dass ausgerechnet du gut wärst? Es ist deine Schuld, dass Leute wahnsinnig geworden sind und sich gegenseitig angreifen. Du hast Leuten absichtlich von deinem Blut gegeben um sie zu kontrollieren. Nur weil du denkst, dass du Ren geholfen hast, willst du gut sein? Ankamna hat mir gesagt, dass wir beide einmal Freunde gewesen sind, aber ich frage mich wie das jemals hatte passieren können. Wie hatte ich jemals auf so ein Monster wie dich hereinfallen können. Du bist eine Hure die sich an andere hängt und ihren Nutzen aus allem zieht. Du bist widerlich!"

Shin spürte die Last dieser Worte auf sich ruhen und lächelte. „Das weiß ich doch alles und ich habe nie behauptet gut zu sein. Es ist nur so, dass auch du in diesem Moment unter der Kontrolle von jemandem stehst und ich dir die Ernsthaftigkeit deiner Worte nicht ganz abkaufen kann. Sie werden mich nicht aufhalten.", und er machte einen Schritt nach vorne und legte einen Arm um sie. Den anderen Arm, der noch mit Magie umwunden war, streckte er über sie hinweg nach Ankamna aus. Doch als sich ihre Blicke trafen, erstarrte er.

Es war wie in dem Zug, als er unterwegs zu Loup Parole gewesen war. Ankamnas ganze Art hatte sich verändert: Er hielt sich aufrechter, doch mit leicht gesenktem Kopf. Seine Augen wirkten schwerer, das Gold war intensiv und stechend.

„Aurun!?", keuchte Shin und die Magie die er bis eben noch gehalten hatte, wurde mit einem einzigen Atemzug seines Vaters aufgelöst.

„So amüsant wie ich euren kleinen Streit auch finde, kann ich nicht länger mitansehen, wie du dich an diesen Menschen klammerst." Es geschah zu schnell und zu schmutzig. Das Blut spritzte über den falschen Garten und färbte den Kies und die Blätter. Lucy knickte ein, Shin hielt sie fest und sank mit ihr auf die Knie.

Es war das Herz gewesen und Lucy war sofort tot.

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Veil schrie auf und fing Dan im Fall ab. Der kraftlose Körper hatte ein solches Gewicht, dass Veil mit ihm in die Knie sank und dort seine Arme um ihn schlang. „Nein, nein, nein. Du darfst nicht verschwinden, nicht jetzt. Du hast gesehen was hier mit mir passiert, ich bin nicht mehr ich selbst.", rief Veil und hob Dans Gesicht am Kinn an.

Dan lächelte schwach, sprach mit letzter Kraft: „Ich komm dich retten, das ist mein Versprechen.", und seine Augen schlossen sich. Er verschwand, kehrte irgendwohin zurück.

„Das ist ein dummes Versprechen!", rief Veil.

„Wie wahr.", stimmte Aurun ihm zu. „Menschen können sich nur gegen das stellen, was sie kennen, aber nicht gegen uns. Wenn er zurückkehrt, wird er wieder sterben."

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Shin legte die Hand an den Türknauf. Er konnte es nicht realisieren. Er hatte schon Tote gesehen, doch es war alles fern gewesen. Dies hier war mehr. Es war wie eine Erinnerung. Es war schon einmal ein Mensch in seinen Armen gestorben. Es war an der Zeit diese Tür zu öffnen und die Wohnung zu verlassen, doch jemand umarmte ihn. Shin erschrak.

„Bitte dreh dich nicht um.", flüsterte der Fremde. „Es tut mir leid. Ich hatte versprochen dich zu retten und habe wieder einmal versagt. Ich habe dich sogar vergessen." Es war die Stimme eines Mannes. „Ich glaube das war das letzte Mal, noch eine Chance werde ich nicht mehr bekommen. Leb wohl."

Shin wirbelte herum, doch es war niemand mehr hier.

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Seine Kleidung wurde feucht von ihrem Blut, doch er drückte sie an sich, hob ihr Gesicht an und schloss ihre Augen. Er konnte den kalten Blick nicht mehr ertragen und er würde sie nicht mehr loslassen. „Lucy, Dan", hauchte er ihre Namen.

Aurun lächelte zufrieden. „Hast du gehört? Ab sofort wirst du nicht mehr von seiner Wiedergeburt belästigt."

„Wovon redest du?", fragte Shin und war erschrocken über den Klang seiner eigenen Stimme. „Warum hast du sie umgebracht? Was ...", er brach ab und schlug mit der Faust in den falschen Erdboden. Vielleicht lag es an seiner Wut und Kraft die er aufbrachte, oder daran, dass Ankamnas Geist in diesem Moment nicht wirklich anwesend war, doch die Illusionswelt des Gartens zerbrach. Zerfließende Scherben lösten sich um sie herum auf, bis sie sich in einem leeren Klassenzimmer wiederfanden. Sie waren zurück und Shin konnte spüren, wie die Magie wieder unaufhaltsam in ihn hineinströmte. Als würde sie auf seinen Hass reagieren. Er starrte seinem Vater voller Feindseligkeit entgegen.

Doch dieser lächelte nur und war plötzlich in seiner echten Gestalt direkt vor ihm. „Du bist sehr wütend auf mich, das kann ich verstehen. Aber du solltest deine Emotionen unter Kontrolle bekommen."

Shin erhob sich halb, Lucys Körper immer noch im Arm, streckte er die freie Hand aus und rief in Gedanken diesen einen Zauber. Den, mit dem er beinahe den aufdringlichen Satyr angegriffen hatte. Das erste Mal wollte er solch eine Tat mit vollem Bewusstsein und Genugtuung ausführen und es fiel ihm nicht schwer. Doch kaum hatte er angefangen den Zauber zu formen, griff Aurun nach Shins Hand und riss ihn zu sich. Shins Arm wurde dabei so heftig verdreht, dass ein leises, jedoch eindringliches Knacken zu hören war. Trotz all der Wut, zuckte Shin vor Schmerz zusammen und ließ Lucy los, während Aurun ihn zu sich zog wie eine Puppe, die nicht imstande war sich zu wehren. Die man einfach nehmen und mit ihr tun konnte was man wollte. Wie das, was Shin mit all denen machen konnte, die von seinem Blut gekostet hatten und das was er mit Ren tun konnte, nachdem er ihn gebissen hatte. Das, was Ren sich von Ankamna hatte antun lassen. Es war ganz anders als der Moment in dem Nell ihn, mit der Intention zu töten, festgehalten und den Hals aufgerissen hatte. Damals hatte Shin sich zur Wehr gesetzt, zwar hatte es letztlich kaum etwas geholfen, doch er hatte es versucht gehabt. Nun, in dieser Situation, konnte er rein gar nicht machen. Auf Auruns Augenhöhe, spürte er wie sein Herz für einen Tackt aussetzte und seine Gedanken sich plötzlich nur noch um das drehten, was Aurun als nächstes sagen oder tun würde. Alles andere war wie ausgelöscht und er verlor sich in den goldenen Augen.

„So ist es gut.", sagte Aurun.

Doch obwohl diese Worte in vollkommener Ruhe gesprochen waren, konnte Shin spüren, dass etwas nicht stimmte. Aurun war uneins mit sich selbst. Ein Teil von ihm war zufrieden, dass Shin sich nicht wehrte, doch gleichzeitig ruhte in ihm eine bitterliche Enttäuschung. Es war dieses Missfallen, das Shin wieder zur Vernunft brachte und ihn überhaupt erst bewusst auf diese Verbindung aufmerksam machte. Sie existierte. Wie durch die Narben, die Veils Nacken zierten. Die in dem Spiegelbild auch seinen Nacken gezeichnet hatten. Shin riss sich los und stolperte von seinem Vater weg, nur um auf Lucys Blut auszurutschen und unbequem auf dem Steinboden aufzukommen. Seit wann waren sie wieder zurück aus Ankamnas Garten, hatte er selbst das etwa angestellt? Ankamna lag bewusstlos an dem ehemaligen Eingang zur dessen Welt und Aurun stand jetzt über ihm, lächelte wie immer. „Ich kann an deinem Blick sehen, dass du langsam eine Ahnung davon bekommst, was du bist." Er zeichnete mit einem Finger eine Linie an seinem Hals hinauf. „Hast du die Narben schon bemerkt? Natürlich sind sie nicht in deinem Körper, zu dem Zeitpunkt als ich sie hinterlassen habe, warst du tot. Es ist kein Grund wütend auf mich zu sein, schließlich habe ich dir dieses Leben geschenkt. Dafür, dass du für so lange Zeit mein Interesse wecken konntest."

Shin schüttelte wie in Zeitlupe den Kopf und versuchte sich einen Reim darauf zu machen. Er schloss damit, dass er gar nichts wusste. Alles was er hatte, waren die Rätsel eines Gottes, zwei Namen (Dan und Veil), unsichtbare Narben und eine verschlossene Tür. Das letzte war das, was er sich nicht mehr traute anzusehen, doch es war das, was all sein Denken in diesem Moment am meisten einnahm. Wie eine unaufhaltsame erstickende Welle, die schon längst über ihm eingebrochen war. Er konnte sich keinen neuen Fragen stellen. Seit er aus Auruns Blick befreit war, konnte er nichts anderes tun, außer in dem Meer der Trauer ertrinken, das einzig und allein den Tot seiner besten und einzigen Freundin enthielt. Er stand auf. Er war ganz ruhig und zitterte nicht. Er starrte seinen Vater an. „Ich weiß nichts von dem, an das du vielleicht versuchst mich zu erinnern, aber ich weiß, dass ich dir dies hier niemals verzeihen werde.", brachte Shin hervor, streckte eine Hand aus und rief erneut den Zauber aus.

Dieses Mal war Aurun noch schneller bei ihm, nicht einmal mehr ein Augenzwinkern lag zwischen seinen Bewegungen. Als er mit dem Zeigefinger so fest gegen Shins Stirn schlug, dass dieser komplett die Kontrolle über die Magie verlor. Ihm wurde schwarz vor Augen und wie aus weiter Ferne hörte er, wie die Magie sich löste und sich krachend in das Gestein um sie herum fraß.

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„So geht das nicht. Es ist nur zu deinem Besten. Immerhin bist du nicht nur eine Gefahr für dich selbst, sondern vor allem für deinen Mitmenschen. Immerhin müssen die Schüler der Loup Parole auch einen gewissen Grad von Sicherheit genießen. Also lass mich dir fürs erste helfen.", klang Auruns Stimme als angenehmer Singsang in sein Ohr. Die anderen Empfindungen kamen erst nach und nach zurück. Shin wurde am Kopf festgehalten und so über den Boden geschleift. Er konnte nichts sehen und das einzige was er hörte, war Aurun, wie er leise vor sich hin summte. Eigentlich ein wunderschönes Geräusch, doch es war so durchdringend, dass Shin das Blut in den Adern gefrieren wollte. Bevor er es ausprobierte, war ihm schon klar, dass er nicht imstande sein würde, sich zu bewegen und sich aus dieser Situation zu befreien. Aurun sprach wieder: „Dies hier tue ich wirklich ungern, aber mir war irgendwie klar, dass du eine Bindung zu dieser Welt haben würdest, also habe ich keine andere Wahl, als diese zu Vernichten. Du wartest hier. Es dürfte nur noch wenige Jahrzehnte dauern." Es gab das Geräusch einer sich öffnenden und schließenden Tür und dann, irgendwo in der Ferne, das Drehen eines Schlüssels. Shin blieb zurück und alles um ihn herum war still. Ab diesem Moment wäre er eigentlich in der Lage wieder sehen zu können, doch er hielt die Augen geschlossen, aus Angst was sich davor offenbaren könnte. Er grub die Hände in den Boden und merkte, dass es das vertraute Gefühl eines bestimmten Teppichs war. Verwundert hob er den Kopf und öffnete die Augen, mit denen sich auch seine anderen Sinne aktivierten. Er lag in seinem Zimmer. Doch es war nicht das echte, sondern das, welches er in seinen Träumen erschaffen hatte.

„Verdrängung.", sagte Veil, der in seinem Bett lag und an die Zimmerdecke starrte. „Es ist ein dummes Wort, weil es einfach nicht nötig ist sich an alles zu erinnern. Warum auch."

Shin sah ihn im Augenwinkel und auch die Stimme war schwach, als würde er Radio mit schlechtem Empfang hören und eine andere Frequenz sich immer wieder durchkämpfen. Als er sich darauf konzentrierte, waren sowohl Bild als auch Ton fort und er war wieder allein. Weil er weder seine Situation nicht begreifen wollte, tat er das was er immer an dieser Stelle tat: Er ging in die Küche und öffnete das Eisfach. Er war hier. Es war ein noch vertrauterer Anblick, als diese ganze Wohnung. Das einzige was echt war und ihn hier mit der Realität verband. „Was ist geschehen?", fragte Darios Kopf.

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Ankamna spürte wie die Welt langsam um ihn herum zerbrach. Das kleine bisschen Welt das er sich erschaffen hatte, wurde von Shin zerstört.

In dem Augenblick, in dem sie zurück in die Realität fielen, verließ Aurun seinen Körper und ließ ihn geschwächt und halb ohnmächtig zurück. Nun konnte Ankamna zusehen, wie Shin sich beugte und fortgeschleppt wurde, was ein guter Anblick war, obwohl es wohl nicht Shins Leben beenden würde. Ankamna gab sich trotzdem damit zufrieden. Er war müde und konnte sich kaum mehr bewegen, noch dazu war seine Welt zerbrochen, doch er hatte Aurun helfen können und sich irgendwie auch für Ren rächen können. Als er allein war, setzte er sich mit einem leichten Stöhnen auf. Er war es nicht gewohnt so wenig Kraft zu haben und sich dabei in dieser Realität aufzuhalten. Vorsichtig hob er die Hand und versuchte vergeblich darin Magie zu sammeln. Die Zerstörung seines Gartens, hatte für einen heftigen Rückschlag gesorgt. Er musste dringend zurück in Auruns Wald, um sich wieder zu regenerieren.

Am anderen Ende des Ganges, kam ein Fuchs um die Ecke gebogen und schlich langsam auf ihn zu. Ankamna sah erst alarmiert auf, lächelte dann jedoch. „Ren.", sagte er. „Du kommst immer zu mir zurück."

Während er lief, begann der Fuchs sich zu verändern, wurde größer, das Fell glatter und zu Kleidung. Die Ohren wuchsen zur Seite, die Schnauze wurde zu einem Gesicht. Bis das Tier stehen blieb und sich als Mensch aufrichtete, direkt vor Ankamna. Ren grinste übers ganze Gesicht. Er sank auf die Knie und schlang seine Arme um Ankamna. „Jedes Mal, egal wo du bist. Ich werde dich immer finden. Unsere Verbindung hat wirklich schon seit einer sehr langen Zeit nicht mehr nur mit Blut und Zeichen zu tun."

Sie lachten beide, bis Ankamna sagte: „Egal wie schwach ich bin. Du weißt, dass du mich nicht töten kannst."

Ren nahm Ankamnas Gesicht in beide Hände und sie sahen sich an. „Ich habe lange darüber nachgedacht.", begann Ren. „Und damit meine ich wirklich lange. All die Stunden der Vergangenheit, in denen du dich noch an mir vergehen konntest, all die Jahre der Folter und Vernichtung. Ich habe schon so viel von deinem Blut abbekommen und werde trotzdem nie in der Lage sein, dich damit zu töten.", er seufzte. „Shin war meine letzte Chance es auf eine humane Art hinter uns zu bringen. Aber am Ende ist das, was zwischen uns beiden ist, auch nie sonderlich human gewesen und es ist auch keiner von uns beiden ein Mensch. Deswegen wird es schon in Ordnung sein, du bist ja schon eigentlich so gut wie ein Teil von mir."

„Es klingt romantisch.", meinte Ankamna. „Erzähle mir was es ist."

„Mein Liebster", flüsterte Ren und zog das Gesicht näher zu sich, bis er in Ankamnas Ohr hauchte: „Ich werde dir dein Herz herausreißen und es verschlingen. Wenn das nicht reicht, werde ich all dein Blut trinken und all dein Fleisch essen. Nichts mehr soll von dir übrigbleiben. Selbst wenn es dich nicht tötet, wirst du dann in mir gefangen sein. Ja, es ist romantisch." Ren runzelte kurz die Stirn, als er daran dachte. Aber er hatte schon lange den Punkt überschritten, an dem es noch so etwas wie Zweifel gegeben hatte.

Ankamna schmiegte sein Gesicht in Rens Hände. „Es klingt nach der Tat einer verzweifelten Bestie. Ich wünsche dir viel Erfolg, vielleicht ist es effektiver als das Ertränken."

„Und das Erwürgen.", fügte Ren hinzu.

„Das war aber auch zu halbherzig.", meinte Ankamna. „Als du mir den Kopf abgeschlagen hattest, war ich zum ersten Mal überrascht gewesen."

„Als ich dich komplett zerlegt hatte", überlegte Ren halblaut. „warst du danach sehr lange verschwunden."

„Das Feuer war auch nicht so schön gewesen.", erinnerte sich Ankamna. „Dieses Mal wird es vielleicht funktionieren. Du trägst von dem Blut dieses Halbwesens in dir und es ist mächtiger als ich es bin."

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Der erste Plan war es, irgendwie diesen Ort zu verlassen. Zwar fühlte Shin sich hier sicher, doch er war eingesperrt. Vorher hatte er einfach aufwachen müssen um von hier wegzukommen, aber dieses Mal war alles anders. Er war nicht nur geistig anwesend, sondern mit seinem ganzen Körper hier. Aurun hatte ihn überwältigt und Shin fühlte sich wie ein ungezogenes Kind das von seinem Vater auf sein Zimmer gesperrt worden war. Er ging in der Küche auf und ab, während Dario ihm besorgt dabei zusah.

„Du könntest einfach die Tür nehmen.", benannte der Kopf irgendwann das Offensichtliche.

„Ganz bestimmt nicht.", sagte Shin sofort, doch seine Stimme klang nicht allzu überzeugt. Er hatte versucht wieder aus einem Fenster zu steigen, wie in dem Moment als er dem Fuchs gefolgt war, doch die Wege die sich dahinter auftaten, waren nichts weiter als endlos scheinende Tunnel, die nicht einmal die Schwärze absoluter Finsternis zeigten, sondern ein mattes Grau das alle anderen Farben verschlang. Vielleicht funktionierten diese Wege nur, wenn jemand anderes sie ging. Der einzige Pfad dem Shin folgen konnte, war der der hinter der Tür lag und an dessen Ende wahrscheinlich Abaddon auf ihn wartete. „Ich möchte nicht in die Vergangenheit gehen.", gestand er sich schließlich ein. „Warum muss sie mich etwas angehen?"

„Ich schätze mal sie ist wichtig um etwas mit der Gegenwart anfangen zu können.", überlegte Dario und fügte hinzu: „Hey, kann ich mitkommen, wenn du gehst?"

„Denkst du dort draußen ist es besser als hier?", fragte Shin kritisch, nahm jedoch den Kopf in die Hände und wandte sich mit ihm zusammen zu der bedrohlich normal aussehenden Wohnungstür. Es war beruhigend nicht allein sein zu müssen. Er war sich nicht sicher, ob er diesen Schritt je aus eigenem Antrieb gewagt hätte und noch als er sich diese Gedanken machte, öffnete er die Tür und trat hinaus. Doch es gab keinen Boden, nur Leere. Er versuchte sich zurück durch die Wohnungstür fallen zu lassen, doch er verlor das Gleichgewicht und stürzte nach vorne ins Nichts.

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