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Shin war allein.

Er saß zusammengekauert auf dem Bett in seinem Zimmer, die Arme um den Kopf geschlungen, versuchte er sich noch mehr von der Außenwelt abzuschirmen als er es allein mit der Tatsache tat, dass er sich hier an diesem Ort befand. Hier im Traum war er sicher. Es war zu seiner einzigen Möglichkeit geworden an den Ort zurückzukehren, an dem er sich zuhause fühlte. Er wusste, dass es nicht echt war, trotzdem versuchte er mit aller Kraft den Moment hinauszuzögern es wirklich zu realisieren und dann das zu tun, worauf dieser Traum immer hinauslief: In die Küche zu gehen und mit Darios Kopf zu reden. Es verging also eine gefühlte Ewigkeit, bis Shin sich aus dem Bett erhob und langsam durch sein Zimmer ging um die Tür zum Flur zu öffnen. Doch sie ging nicht ganz auf, da sie auf halber Strecke gegen etwas Hartes stieß. Das dumpfe Geräusch das dadurch erzeugt wurde, riss Shin aus seinem benommenen Zustand. Plötzlich fühlte er sich alarmiert und so aufmerksam, wie er es noch nie an diesem Ort gewesen war. Vorsichtig schob er sich durch den geöffneten Türschlitz um zu sehen was die Tür blockierte. Es war die Kommode, sie war umgekippt, die Schubladen waren teilweise komplett herausgenommen und ihr ganzer Inhalt war in stürmischer Unordnung über den Flur verteilt. Jemand war hier gewesen und hatte nach etwas gesucht. Shin erschrak bei dieser Feststellung, denn ein Blick in die anderen Zimmer ließ vermuten, dass der Einbrecher bei seiner Suche sehr gründlich gewesen war. Alle Schränke und Türen waren aufgerissen, Schubladen entleert, Kisten ausgekippt. Die Wohnung war ein einziges Chaos. Shin lauschte angestrengt ob irgendwelche Geräusche zu hören waren, irgendetwas das darauf hindeutete, dass sich noch jemand hier befand. Doch alles was er hörte, war sein eigener Atem. Also ging er langsam in die Küche, auch hier hatte man gewütet. Er musste darauf achten wo er hintrat, denn der Boden war mit Besteck übersäht. Er schob es mit dem Fuß aus dem Weg und kniete sich vor das Eisfach. Mit zitternden Händen öffnete er die kleine Tür und zog die Schublade hinaus. Darios Kopf war noch da. Shin entspannte sich und nahm ihn heraus um ihn auf den Küchentisch zu legen. „Jemand war hier.", tönte der Kopf in seinen Händen.

„Nein wirklich?", ächzte Shin. „Gut, dass du es mir gesagt hast. Es wäre mir überhaupt nicht aufgefallen."

Dario kniff die Augen skeptisch zusammen. „Du neigst doch eigentlich nicht zu Sarkasmus...ist etwas passiert? Geht es dir gut?"

Shin überlegte und fasste sich dabei an den Hals, der an diesem Ort weder wehtat, noch von Blut geziert war. „Ja...", sagte er langsam. „Hast du auch manchmal das Gefühl, dass du anfängst etwas zu verstehen, aber du weißt nicht was es ist? Dieser Schmerz ist kein neues Gefühl."

Dario sah ihn erschrocken an. „Was für ein Schmerz?"

„Der Schmerz bei dem du dir wünschst zu verschwinden, aber du kannst es einfach... nicht..." Shin wurde leiser, bis er ganz aufhörte zu sprechen. Mit abwesendem Blick sah er sich in der Küche um, als hätte er vergessen wo er sich befand.

„Shin, was ist mit dir passiert?", fragte Dario, der jetzt sichtlich besorgt war.

Plötzlich hob Shin den Kopf. „Ja. Was ist hier passiert? Wie kann jemand in meinen Traum eindringen und so ein Chaos anrichten?"

„Shin...", begann Dario wieder, doch als er das aufgeregte Gesicht vor sich sah, wurde ihm klar dass Shin nicht darüber reden wollte, oder konnte. Also überging er das Thema ebenfalls. „Ich glaube nicht, dass es sich hier um einen normalen Traum handelt, sonst könnte ich mich nicht hier verstecken und wenn ich hier sein kann, dann können auch andere hierher kommen. Das hier existiert ja auch wenn du weg bist."

Das verwunderte Shin. Er hatte die ganze Zeit geglaubt, dass es nur ein Traum war der sich immer wieder wiederholte. Vielleicht weil er Schuldgefühle gegenüber Dario empfand, aber das würde er nicht zugeben. „Warum bist du dann bei mir? Ich bin indirekt für deinen Tot verantwortlich, bei so jemandem will man sich doch nicht im Nachleben aufhalten."

Dario lächelte. „Wie gesagt, ich kann mich hier gut verstecken. Sie kommen immer wieder in die Nähe, aber sie haben es bis jetzt nicht geschafft in die Wohnung einzudringen... doch jetzt... Sie konnten einfach die Tür öffnen, ohne jeden Widerstand."

Shin fand nur eine einzige Erklärung: Wenn das alles hier mit ihm verbunden war, dann hing es vielleicht auch irgendwie mit seinem Zustand zusammen. Er war für ein paar Minuten sehr schwach gewesen und jemand hatte es ausgenutzt um einzudringen. „Wer war hier? Wer versucht dich zu finden?", fragte er und wunderte sich, dass es ihm bisher nie in den Sinn gekommen war darüber nachzudenken.

„Ich bin mir nicht sicher, weil ich nicht weiß was sie sind.", Dario zögerte und sagte dann mit etwas schwacher Stimme: „Aber einen habe ich eindeutig wiedererkannt: Es war mein Mörder."

Er wusste sofort wen Dario damit meinte. Wie konnte er denn auch vergessen, was Ankamna ihm angetan hatte. Neben all den Fragen darüber, was Ankamna in Shins Traum zu suchen hatte, fiel ihm noch etwas anderes auf und es erfüllte ihn mit einem klammen Gefühl. „Woher weißt du, wer dich umgebracht hat? Du warst doch bewusstlos."

„Nein.", der Kopf auf dem Tisch schloss die Augen. „Nicht die ganze Zeit über und es war mehr ein Abschlachten, als ein Töten. Der erste Schmerz hat mich zurück in die Realität geholt, aber das Gefühl das du eben beschrieben hast, dass man dabei am liebsten verschwinden würde, kann ich ganz und gar nicht nachvollziehen. Ich wollte nicht sterben."

„Es tut mir Leid.", stammelte Shin. Es war seltsam wie objektiv Darios Stimme beim Sprechen klang, als würde es nicht über so etwas Persönliches wie seinen eigenen Tot gehen. Vielleicht lag es daran, dass er kein Leben mehr in sich trug. Vielleicht sah man dann die Dinge etwas entspannter. Shin hingegen spürte wie er unter der Last der Fragen und Rätsel immer nervöser wurde. Er wollte nicht daran denken was hier passiert war, warum Ankamna nach Dario suchte und was er selbst war. War er am Ende genauso wie Ankamna? War es ihm deswegen so egal gewesen, dass Kaito und Dario tot waren? „Was soll ich nur machen?", fragte er mit matter Stimme.

„Wie wäre es erst mal mit aufwachen?", schlug Dario vor und kaum hatte Shin daran gedacht, spürte er wie seine Umgebung sich langsam auflöste und die Realität ihn empfing.

Ich habe Dario nicht versteckt, dachte er noch, aber es war zu spät.

Shin spürte, dass er sehr weich lag. Es war wohl ein Bett und die erwarteten Schmerzen hatten nicht eingesetzt, stattdessen fühlte sein Körper sich taub und viel zu warm an. Außerdem schaffte er es nicht seine Augen zu öffnen und etwas belastete seine Beine, so dass er sich nicht traute sie zu bewegen. In regelmäßigen Abständen schlug ihm warme Luft ins Gesicht. Es war etwas seltsam und Shin konnte es im Halbschlaf einfach nicht zuordnen.

Von irgendwo erklangen Schritte. Das Geräusch warf ein Echo und Shin erkannte daran, dass er sich in einem offenen Zimmer befinden musste. Vielleicht ein Krankenzimmer, hoffte er.

„Wie lange willst du noch hier herumliegen? Die anderen Patienten werden langsam nervös und du könntest uns etwas behilflich sein.", Es war Amelia die sprach und der strenge Klang ihrer Stimme ließ Shin innerlich aufmerken. Woher wusste sie, dass er wach war? Er versuchte seinen Mund zu öffnen und ihr zu antworten, dass er noch nicht aufstehen konnte und warum er denn bitteschön die anderen Patienten nervös machte. Doch er schaffte es nicht. Sein Kiefer war schwer und sein Gesicht zu gelähmt um einen Muskel zu kontrollieren. Dann wurde ihm klar, dass Amelia ihn gar nicht gemeint hatte, dass sie unmöglich wissen konnte dass er bei Bewusstsein war. Denn plötzlich hob sich das Gewicht von seinen Beinen, im nächsten Atemzug wurde die warme Luft die ihm entgegen blies stärker und ein Knurren erfüllte den Raum. Es war kein gewöhnliches Knurren, es schien aus der Tiefe der Erde zu kommen und war ein Geräusch, dass jedem noch so starken Helden das Blut in den Adern erfrieren lassen konnte. Doch anscheinend traf das nicht auf Amelia zu, sie seufzte nur genervt auf: „Na gut, dann bleib halt bei ihm!"

Zufrieden senkte sich das Gewicht wieder vorsichtig auf Shins Beine. Etwas war hier bei ihm, etwas sehr großes und bösartiges. Shin fühlte sich dadurch sicher. Natürlich, das Knurren war schon gruselig gewesen, aber es war hier bei ihm. Entspannt blieb er liegen und wartete darauf, dass das Gefühl in seinen Körper zurückkehrte.

Ein paar Kilometer entfernt, auf der anderen Seite der Schule, hatte sich noch niemand getraut den Wandschrank zu öffnen in den Nell von Cers eingesperrt worden war. Ein paar Schaulustige hatten sich in sicherer Entfernung versammelt und drängelten sich um den Eingang zum AG-Raum, damit sie einen guten Blick auf die beunruhigend ruhige Wandschranktür hatten. Die einzige Person die sich wirklich in dem Raum befand war Ren und er fühlte sich aufgrund der ganzen Blicke immer mehr verunsichert.

„Was ist los?", fragte jemand weiter hinten.

„Nell hat jemanden umgebracht und jetzt ist er im Wandschrank."

„Der Tote?"

„Nein du Idiot. Nell natürlich."

Ren sah genervt zu seinen Mitschülern. „Niemand wurde umgebracht." Wollte er sicherstellen, doch seine Stimme klang etwas zu unsicher um wirklich überzeugend zu sein und niemand schenkte ihm Beachtung. Schließlich schob sich jemand energisch durch die Zuschauer und schritt auf Ren zu. Es war Amelia und sie hatte zur Überraschung aller eine Schusswaffe in der Hand. Aufgrund dieser Erkenntnis herrschte ein schockiertes Schweigen (allerdings konnte man es auch als Erwartungsvoll beschreiben). An Waffen mangelte es in dieser Welt zwar nicht, doch nach den großen Kriegen hatten keine bedeutende Firma mehr Zeit und Geld darauf verschwendet Handfeuerwaffen mechanisch herzustellen und so waren die Existierenden sehr teure, handgefertigte Exemplare und außerdem waren sie verboten. Es waren während der Schattenkriege zu viele diverse Kreaturen mit Schusswaffen getötet worden, so dass man sie aus Kompromissbereitschaft von den Straßen verbannt und in die Museen verfrachtet hatte. Die öffentliche Sicherheit bevorzugte nun praktische Kurzschwerter oder geschickt angefertigte und hoch technifizierte Armbolzen, was letzte Endes auf das Gleiche hinauslief aber sich niemand daran störte, denn das Zeichen der Solidarität war ja gesetzt.

Nachdem seine Aufmerksamkeit sich von dem Anblick des Revolvers etwas erholt hatte, konnte Ren sie auf Amelia selbst richten. „Was ist los? Wolltest du nicht Cers holen? Stattdessen kommst du damit an... das, das ist doch nicht etwa geladen?" Sein Blick fiel wieder auf die Waffe, jetzt etwas interessierter. „Sind das echte Goldbeschläge? Wie alt ist das Ding?"

„Ist doch egal.", Amelia verdrehte die Augen. „das ist ein Erbstück... irgendwie. Jedenfalls hat Cers sich geweigert mitzukommen um uns zu helfen. Sieht so aus als würde er lieber noch bei dem kleinen Prinzen auf der Krankenstation bleiben."

„Und wofür die Waffe?"

„Für Nell. Wenn wir ihm schon nicht mit einem riesigen wütenden Monster drohen können, dachte ich, dass das hier vielleicht funktionieren könnte." Sie hob den Revolver ein Stück an um noch einmal zu unterstreichen wovon sie hier redete. Die jähe Bewegung veranlasste alle Zuschauer an der Tür sich ein wenig zu ducken, doch Ren viel sofort auf wie natürlich die Waffe in Amelias Hand aussah. Als wäre sie den Umgang damit ebenso gewöhnt wie mit ihrem Klemmbrett und Kugelschreiber. Und als wäre es ihr Stichwort, hob sie mit der anderen Hand das Klemmbrett unter dem Arm hervor, warf noch kurz einen Blick darauf und verstaute es sicher in einem Regal. „Okay.", flüsterte sie. „Ren du öffnest die Schranktür und ich bedrohe Nell mit dem Revolver so dass wir ihn in aller Ruhe festnehmen und zum Direktor bringen können."

„Ich bin doch nicht Lebensmüde, öffne du doch die Schranktür!", Ren hatte etwas Mühe damit seine Stimme leise zu halten. „und wie wäre es wenn du sofort schießt. Ich meine wir sprechen hier von Nell. Nell! Schieß drauf wenn du nicht sterben willst."

„Ren. Ich kann doch nicht einfach auf einen Schüler schießen. Außerdem dachte ich ihr beiden wärt befreundet." Amelias Stimme hatte einen sehr pädagogischen Ton angenommen und keiner von beiden hatte bemerkt wie sie wieder ihre normale Lautstärke angenommen hatten.

„Ihr wisst schon, dass ich euch hören kann?", meldete sich schließlich Nells Stimme aus dem Wandschrank. Sie klang so dumpf als hätte er sein Gesicht gegen die Tür gedrückt und irgendwie klang sie auch matt, geschlagen... „Könnt ihr mich nicht einfach rauslassen? Ich tu niemandem mehr weh, wirklich."

Amelia runzelte leicht die Stirn. „sollten wir ihm vertrauen?" Alle Anwesenden schüttelten einvernehmlich die Köpfe (inklusive Ren). „Das ist nicht nett von euch, was soll denn groß passieren? Und ich hab immer noch die Waffe.", mit diesen Worten schritt sie zum Wandschrank und öffnete die Tür.

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