Eine Ahnung
Es verging sehr viel Zeit.
Es fühlte sich so an als würde sehr viel Zeit vergehen.
Es handelte sich um knapp zwei Stunden.
Shin kam es wie eine kleine Ewigkeit vor, bis er endlich seine Augen öffnen konnte. Alles war hell und das Bett war herrlich weich. Langsam drehte er den Kopf um zu sehen was dort neben ihm lag (und auch auf seinen Beinen, aber er setzte die Priorität mal auf das etwas direkt neben seinem Kopf). Er brauchte eine Weile bis das Bild vor seinen Augen in sein Gehirn vordrang, selbst als er es langsam begriff war er noch so voller Schmerzmittel, dass er keinen großen Schock zustande brachte. Shin blinzelte.
Das Ding vor ihm blinzelte zurück.
Es musste ein Tier sein, doch es musterte ihn viel zu intelligent und auf eine tiefgründige Weise auch... fürsorglich.
Shin sah in zwei rot glühende Augen, die zu einem riesigen geschuppten Kopf gehörten. Entfernt erinnerte es an einen Hund, doch dafür war es viel zu groß, viel zu schuppig, viel zu bedrohlich und hatte viel zu viele Zähne und Stacheln. Oben am Kopf waren sogar die Ansätze von Hörnern zu erkennen.
„Hi", brachte Shin hervor.
Sofort weiteten sich die roten Augen, schienen in der Mitte aufzuflammen, die schmalen Pupillen vergrößerten sich und das Gewicht das auf Shins Beinen lag, erhob sich. Plötzlich schwebte über ihm noch so ein Kopf, der ein Schnauben von sich gab und sich dann langsam über ihn senkte.
Ein ureigener Überlebenswille kämpfte sich an den Schmerzmitteln vorbei und verlangte schreiend nach Aufmerksamkeit. Bevor er merkte was er tat, hatte Shin die Beine angezogen und sich vom Bett gerollt. Mit zitternden Füßen landete er auf den kalten Fließen des Krankenzimmers. Ein dumpfer Schmerz stach durch seinen Hals. Es war nicht unerträglich, aber es war da. Wie eine Ermahnung.
Diese kleine Bewegung hatte seinen Körper schon so angestrengt, dass er Schwierigkeiten mit der Atmung bekam. Trotzdem machte er noch ein paar Schritte vom Bett weg, bis er gegen die Wand stieß und zitternd daran hinabsank.
Dann erst sah er zurück.
Das Wesen, das an dem Krankenbett saß, sah aus als wäre es geradewegs aus einem der Alpträume entsprungen, die man nach dem Erwachen sofort verdrängte und sich dann an der langweiligen Realität erfreute. Die Kreatur besaß die Statur eines Bären, der Vorderkörper war kräftig und muskulös. Das Hinterteil endete in drei stachelbesetzten Schwänzen, die sich über den kalten Boden bewegten wie Schlangen. Alles war mit dunklen Schuppen geziert, nur der Rücken war mit einer schwarzen Fellmähne bedeckt, die bis auf die Häupter zweier gehörnter Tierköpfe ging. Zwei Schnauzen, vier Rote Augen und vier Ohren, hatten ihre volle Aufmerksamkeit auf Shin gerichtet. Der junge Inkubus gab einen verzweifelten Ton von sich, als er sah wie das Ding sich aufrichtete und wie dessen Rückenfell auf allen Vieren fast an die über drei Meter hohen Decke reichte. Es hatte die Köpfe gesenkt und kniff ein Augenpaar zusammen.
Es wartete ab.
Nach ein paar Minuten wurde Shin langsam klar, dass es keine Anstalten machte ihn irgendwie zu verletzen und als der Nebel in seinem Kopf sich anfing zu lichten, begriff er auch, dass es die ganze Zeit über bei ihm gewesen war. Er entspannte sich ein wenig und saß jetzt komplett auf dem Boden. Die Kälte kroch in seinen Körper, doch er brachte es nicht Zustande jetzt aufzustehen und etwas an seiner Situation zu ändern.
Das Hundewesen beobachtete ihn und kletterte dann, erstaunlich geschickt, über das Bett hinweg auf ihn zu. Es streckte ihm einen seiner riesigen Köpfe entgegen, als wollte es sagen: Lass dir helfen.
Shin hob die Hände und hielt sich zaghaft an den beiden kleinen Hörnern fest. Der Kopf hob sich und stützte den Körper von Shin mit der Schnauze ab. So trug er ihn zu dem Bett zurück und ließ ihn vorsichtig darauf sinken.
„Danke.", murmelte Shin. „Tut mir leid, dass ich mich so erschrocken habe. Aber wer bist du?"
Das Wesen schnaubte und senkte beide Köpfe um ihn mit allen vier Augen ansehen zu können. Kannst du es nicht erraten? Das ist meine echte Gestalt.
„Zwei Köpfe?", fragte Shin. „Kann ich deine Stimme wirklich hören, oder bilde ich mir das nur ein?"
Du kannst mich in deinem Kopf hören, also ist es irgendwie beides.
Das war zu anstrengend. Shin runzelte die Stirn und legte eine Hand auf den Verband an seinem Hals. Die Wunde darunter strahlte eine unangenehme Wärme aus. „Du kannst das nur wenn du in dieser Gestalt bist oder? Sonst benutzt du all deine Magie um wie ein Mensch, nein, zwei Menschen auszusehen. Cers."
Ja. So werde ich heute genannt.
Shin lächelte und rieb langsam über den Verband.
Lass das, sonst geht es wieder auf.
„Was willst du von mir? Warum beschützt du mich? Ich bin nur ein niedriger Dämon und du bist ein Höllenhund und ein sehr mächtiger noch dazu."
Ich glaube es hat etwas mit deiner Abstammung zu tun. Ich kann es mir nicht aussuchen, wem ich folgen möchte.
„Dann bleibst du bei mir?" Etwas Hoffnung schwang in seinem Tonfall mit. Er wollte jetzt nicht allein sein, selbst wenn die Gesellschaft aus einem riesigen Monster bestand.
Nein, aber ich werde zu dir kommen, wenn du mich rufst. Damit wandten sich die Köpfe ab und Shin durfte dabei zusehen, wie sich eine Kreatur von der Größe eines Elefanten versuchte in einem Krankenzimmer zu drehen, ohne dabei etwas kaputt zu machen.
„Dann sehen wir uns wieder.", sagte Shin, als der Höllenhund sich durch die Tür nach draußen quetschte. Es war erstaunlich wie er das anstellte, eigentlich war es anatomisch unmöglich. Zum Abschied schnaubte das Wesen noch einmal und war dann verschwunden.
Shin starrte nachdenklich an die Decke, an der ein Rückenhaar von Cers hing. Etwas an dem zweiköpfigen Wesen war schon die ganze Zeit komisch gewesen, auch jetzt hatte er, wenn er den Höllenhund in seiner richtigen Gestalt ansah, noch das Gefühl, als würde etwas fehlen. Davon abgesehen war die Entwicklung der Ereignisse besser als er erwartet hätte. Er war noch am Leben, na gut irgendwo lauerte noch Nell, aber er hatte ihn nicht umbringen können. Wenn er jetzt so darüber nachdachte, hatte die ganze Sache sich viel zu lange hingezogen. Eigentlich hätte Shin schon nach der ersten Minute tot sein müssen. Nell hatte es nicht hinziehen wollen, wie er selbst behauptet hatte, Nell hatte einfach viel zu lange gezögert. Shin lächelte bei dieser Erkenntnis stumm vor sich hin. Trotzdem würde er ab sofort alles dafür geben, Nell aus dem Weg zu gehen.
Die Tage im Krankenhaus vergingen wie im Zeitraffer. Shin erholte sich körperlich und geistig sehr schnell von den Strapazen. Er schlief viel und hatte ein paar Sachen aus seinem Zimmer holen lassen, mit denen er sich beschäftigen konnte. Eigentlich fand er Bücher die meiste Zeit einfach nur langweilig, aber die Not machte die Literatur zu seinem stärksten Verbündeten. Die ganze Zeit über hatte er keinen einzigen Besuch, nicht einmal Amelia sah kurz vorbei. Einmal hatte er die Gelegenheit mit seiner Mutter zu telefonieren, aber es war nicht sehr spannend und sie schien auch noch nicht den Kopf im Gefrierfach entdeckt zu haben. Aber was ihm wirklich Sorgen bereitete, war das Lucy sich gar nicht mehr bei ihm meldete. Ihre Nummer war nicht mehr gültig und er hatte auch niemanden sonst den er nach ihrer Neuen fragen konnte. Noch etwas war anders: Er hatte keine Träume mehr. Zuerst hatte er es nicht wirklich zur Kenntnis genommen, an das Meiste aus den wiederholenden Träumen konnte er sich auch so nicht mehr erinnern, aber am Ende der Woche wurde ihm klar, dass er diesen Ort im Schlaf nicht mehr besuchte.
Es beunruhigte ihn.
Es war als hätte er die Kontrolle über etwas Wichtiges verloren.
Kontrolle...
Es war auch etwas über das er sich viele Gedanken machte.
Aurun und auch Ankamna hatten bei ihrer Begegnung Fähigkeiten gezeigt, von denen Shin nicht gewusst hatte, dass sie existierten. Konnte er selbst sich vielleicht auch unsichtbar machen oder den Körper von jemandem übernehmen? Shin wollte diese Fähigkeiten auch in sich selbst entdecken und sie unter seine Kontrolle bringen. Es könnte vielleicht nützlich sein und es hielt ihn auch davon ab sich über das andere Gedanken zu machen: Er wusste immer noch nicht was er war. Bei Gelegenheit würde er Ren darüber ausquetschen, aber es beschäftigte ihn nicht mehr so sehr. Es reichte ihm zu wissen, dass er war.
In Shin wuchs ein neues Bewusstsein heran. Es sah sich zögernd um, sah die Welt mit offenem Blick, berechnend, nachdenklich. Es tastete sich langsam durch einen Körper, der von den Trieben und Verlangen einer alten Dämonenart geprägt war. Aber es war mehr dahinter. Es schmeckte eine Wurzel die tief in die Abgründe dieser Welt reichte und Shin mit mehr verband, als das bloße Auge erkennen ließ. Das Bewusstsein fing langsam damit an, Shin darauf aufmerksam zu machen.
Himmel und Erde hielten den Atem an, als sie darauf warteten welchen Weg ihr Kind einschlagen würde.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top