Die lebendige Welt
Wie so viele von ihnen konnte es sich nicht mehr an seinen Namen oder geschweige denn an sein vergangenes Leben erinnern. Aber das war schon in Ordnung. Denn es hatte kein vergangenes Leben, nur die Erinnerungen von zwei Geschöpfen. Es hatte lange gebraucht um zu begreifen, dass es keines von beiden war. Es war es selbst und es brauchte nur noch einen Namen.
------~✧ ✧~------
Das Frühstücksbuffet war für ein so kleines Hotel doch recht üppig und sie suchten sich einen Tisch etwas abseits um sich ungestört unterhalten zu können. Während Shin, Nell und Cian sich etwas zu Essen holten, blieb Balgir am Tisch zurück. Er sah sehr blass aus und Shin vermutete, dass der Dämon die Vergiftung von der letzten Nacht noch nicht ganz überwunden hatte. Cian hingegen war wieder komplett das arrogante Selbst, das Shin kennengelernt hatte. So als hätte er nicht vor einer halben Stunde noch in Shins Armen geweint.
„Wie ist der Plan heute?", fragte Nell als sie zurück an ihrem Tisch waren und er Balgir ein Glas Wasser hinstellte.
Balgir nickte dankbar und trank einen Schluck. „Um elf Uhr werden wir im Tempelberg empfangen. So wie ich die Bürokratie der Dunkelelfen einschätze, dürfen wie keine Sekunde zu spät sein, sollten aber damit rechnen, dass wir mindestens eine Stunde warten müssen, bis sie uns zu den Unsterblichen vorlassen.", sagte der Dämon und warf dann einen fragenden Blick zu Cian.
„Da liegst du wohl richtig.", meinte Cian, der sein Besteck mit Magie zum fliegen brachte.
„Also machen wir uns um zehn auf den Weg.", beschloss Nell. „Besser so als zu spät."
Die anderen beiden murmelten zustimmend.
Shin sah ihnen fasziniert zu. Das alles war so ganz anders als ihre Interaktionen an der Loup Parole. Sie waren wie ein eingespieltes Team und er spürte eine Spur Neid in sich aufkeimen. Er hatte sie alle nur einen Monat gekannt und jetzt waren sie alle Freunde und er selbst war der Fremde. „Ich muss euch etwas fragen...", begann Shin vorsichtig. Er fühlte sich seltsam fremd hier.
„Frag schon.", forderte Cian ihn auf, während seine Aufmerksamkeit seinem Frühstück vor sich galt.
„Kennt ihr Ren?", fragte Shin. In seinem Kopf wollte sich einfach kein klares Bild darüber formen, was mit Ren passiert war. Lelio hatte ihn mit den anderen drei getroffen, doch jetzt schien er sich in der Gestalt von Ankamna im Tempelberg aufzuhalten. Auch wenn Shin ein beunruhigendes Gefühl beschlich, dass mit diesem Ren etwas nicht gestimmt hatte. Außerdem war da noch das was Cian angetan wurde.
Shins Frage brachte ein wenig Unruhe in ihre kleine Frühstücksrunde. Cian schmierte sich wütend Marmelade aufs Brot, Nell stocherte aggressiv in seinem Müsli und Balgir starrte konzentriert in sein Wasserglas. „Ja.", antwortete Cian knapp und biss dann in sein Brot.
„Woher kennst du ihn?", fragte Balgir Shin, nachdem niemand anderes sonst etwas zu sagen schien.
Shin überlegte kurz und entschied sich für einen Teil der Wahrheit. „Wisst ihr was die Male bedeuten, die die Unsterblichen hinterlassen?"
Cian und Nell sahen beide auf und Nell fragte: „Welche Male?"
Shin versuchte es zu erklären: „Wir haben so eine Art Widerhaken an unseren Zungen. Damit können wir Blut übertragen und auch jemanden verletzen. Die Narben die dabei hinterlassen werden, sind eine Art magische Markierung, mit der Personen an uns gebunden werden. Die Widerhaken sind parallel angeordnet." Er versuchte es mit seinen Fingern nachzumachen, während er es erklärte.
„Wäre es nicht einfacher, wenn du uns einfach deine zeigst?", fragte Nell.
Shin schüttelte schnell den Kopf. „Auf keinen Fall. Ich kann damit nicht umgehen."
Nell sah daraufhin ein wenig enttäuscht aus.
Balgir hingegen schien ein Licht aufzugehen und seine Miene verdüsterte sich. „Ich glaube Ren hat mir solche Narben einmal gezeigt. Er hat sie normalerweise mit Magie verdeckt, aber sie sehen so aus wie du sie beschrieben hast!"
Shin lächelte und erinnerte sich, dass Balgir schon an der Loup Parole gesagt hatte, dass Ren ihm die Narben gezeigt hatte. „Ich wollte ihm helfen sich davon zu befreien. Aber dann wurde ich für für einige Zeit aus dem Verkehr gezogen. Jetzt bin ich auf der Suche nach ihm, kann ihn aber nicht so richtig aufspüren." Er blicke neugierig in die Runde und merkte, dass sogar Nell ihm auswich. „Was ist los?"
„Es ist schwierig.", erklärte Balgir. „Wir sind mit ihm zusammen aus der Loup Parole geflohen und haben uns gemeinsam auf die Jagd nach Unsterblichen gemacht, aber er ist immer merkwürdiger geworden und dann ist er einfach verschwunden. Ich denke er hatte seine Gründe-"
„Was sollen das schon für Gründe gewesen sein!", platzte Nell heraus. „Wir waren gerade mitten in einer schwierigen Situation und er ist einfach abgehauen. Balgir wäre fast draufgegangen und Ren geht einfach weg."
Cian nickte, versuchte wütend auszusehen, doch Shin entging nicht, wie blass der Dunkelelf plötzlich um die Nase aussah.
Nach dem kurzen Gespräch beendeten sie das Frühstück recht zügig und gingen sich für das Treffen mit den Unsterblichen bereitmachen. Cian gab Shin etwas zum anziehen, da sie ungefähr die gleiche Größe hatten und Shins Kleidung vom Vortag für ein solches Treffen anscheinend nicht angemessen war. Shin zog das weite Designeroberteil und die eng anliegende schwarze Hose in Nells Hotelzimmer an. Es passte ihm gut, nur war es einfach nicht sein Stil. Aber da musste er jetzt wohl durch. Er betrachtete sich in dem Spiegel neben der Tür und merkte dann, dass Nell ihn beobachtete. „Was ist?", fragte Shin.
„Irgendwie ist das komisch. Normalerweise würde es mich stören, wenn jemand immer bei mir ist. Ist es wegen dem Vertrag?" Nell sah Shin geradewegs in die Augen.
„Ich denke schon.", sagte Shin und wich seinem Blick aus. Es war bestimmt wegen dem Vertrag. Genau wie es damals angefangen hatte, weil Nell aus versehen von Shins Blut getrunken hatte. Es musste einen Auslöser geben, sonst würde Nell ihm sicherlich keine Beachtung schenken. Es war eine Unsicherheit, die Shin normalerweise tief in sich begrub. Die Leute standen nur auf ihn und wollten Zeit mit ihm verbringen, weil er sie mit seiner Magie verzauberte. Nell mochte ihn nur, weil Shin ihn erst mit seinem Blut und jetzt mit einem Vertrag an sich gebunden hatte.
Vor dem Hotel trafen sie die anderen beiden, die sich ansehnlich zurechtgemacht hatten. Sogar Balgir hatte sich ausnahmsweise mal die Haare gekämmt – etwas das mit Hörnern sehr nervig sein konnte. Cian war jetzt ähnlich gekleidet wie die Dunkelelfen denen Shin schon hier begegnet war, was hauptsächlich aus schwarz und dunklem Grau bestand. „Ich werde reden.", sagte Cian. „Nell wird neben mir gehen, da die Bellefleurs unter den Dunkelelfen eine geachtete Familie sind. Balgir und Shin bleiben hinter uns, sagen am besten kein Wort und blicken niemandem in die Augen. Dämonen sollten zwar respektiert werden, aber im Tempelberg hält man noch an alten Traditionen fest."
„Aber ich habe einen Vertrag.", sagte Shin.
Cian rang sich ein Lächeln ab. „Spätestens wenn die Symbole bei dir und Nell sichtbar werden, wird klar, dass es ein fast gleichberechtigter Vertrag ist und die dürfen von Dunkelelfen nicht praktiziert werden."
Sie machten sich auf den Weg, während Shin noch gedanklich an Cians Erklärung zu nagen hatte. Cian war immer sehr unfreundlich gewesen, aber Shin hatte nicht das Gefühl gehabt, dass er ihn wegen Shins Dämonenart anders behandelt hatte. Die anderen Dunkelelfen schienen da anderer Meinung zu sein. Er erinnerte sich an seine kleine Auseinandersetzung mit den beiden Elfen die Balgir etwas hatten antun wollen. „Das ist gar nicht cool.", murmelte Shin.
Balgir, der neben ihm lief, suchte seinen Blick und nickte. „Wir sind ja nicht mehr lange hier."
Die Straße zum Berg lief tatsächlich ein klein wenig bergauf, so dass der Tempelberg selbst ein wenig auf einer kaum merklichen Anhöhe stand. Das war Shin am Abend zuvor gar nicht aufgefallen. Die Läden um sie herum, die in Richtung Berg immer zahlreicher wurden, erwachten langsam zum Leben und ein paar Dunkelelfen und andere Wesen boten vereinzelten Bummlern schon edle Steine, Kräuter und Zaubersprüche aller Art an. Shin entschied sich dazu, jetzt schon Cians Ratschlag zu befolgen und konzentrierte sich auf Nells Rücken, nachdem einer der Händler auf ein paar sehr knappe Kleider in seinem Sortiment gedeutet hatte und Cian ein paar Worte in einer anderen Sprache zugerufen und dann Shin zugewunken hatte. Also ignorierte Shin jetzt einfach alle, während Cian ab und zu mit jemandem schimpfte. Nell verhielt sich ebenfalls erstaunlich ruhig.
Sie erreichten den Tempelberg und gingen – zu Shins Enttäuschung – nicht zu dem Imposanten Haupteingang, sondern noch ein Stück die Straße entlang, bis sie eine gut gesicherte kleinere Tür erreichten. Davor stand ein Dunkelelf in Kriegerausrüstung, an dem Shin eine sehr konzentrierte und gut kontrollierte Menge an Magie sehen konnte.
Cian reichte dem Elfen eine schwarze Karte, die ein wenig größer war als eine Visitenkarte. Daran klebte schwarze Magie, die sich mit der Magie des Tempelbergs verband. Der Krieger nahm die Karte entgegen und berührte damit eine gravierte Stelle an der Tür. Es ertönte ein fernes Klicken. Er nickte zufrieden und öffnete ihnen die Tür. Das alles ging ohne ein einziges Wort vonstatten und sie gingen hindurch, ohne den Dunkelelfen noch einmal anzusehen.
Sie waren alleine und gingen einen langen dunklen Gang entlang. Nell seufzte plötzlich und sagte: „Das ist ja wie zuhause."
„Die Gänge sind mit schwarzer Magie versehen, die uns an andere Orte in dem Berg bringt. Die Wege ändern sich so ständig, bringen einen aber immer dorthin wo man hin soll.", erklärte Cian.
Da ging Shin ein Licht auf. Es war gar nicht dunkel, es war nur wieder die Schwarze Magie. Er kniff angestrengt die Augen zusammen und versuchte sie auszublenden, bis er endlich wieder klarer sehen konnte.
„Da vorne.", sagte Cian. „Wir sind zwar zu früh, aber wie es aussieht werden wir schon empfangen."
Am Ende des Ganges hatten sie eine unscheinbar wirkende Tür erreicht. Ohne zu zögern öffnete Cian sie, ließ zuerst Nell hindurch und folgte ihm dann, die beiden Dämonen ignorierte er, wobei Shin vermutete, dass es an ihrem Schauspiel lag. Er und Balgir folgten ihnen und konzentrierte sich darauf, den Fußboden zu betrachten, was dazu führte, dass Shin im nächsten Moment gegen Nells Rücken stieß. Reflexartig sah er auf. Sie befanden sich in einem gut eingerichteten Raum, den Shin kannte. Er war hier gewesen, als er nach Ren gesucht hatte. Genau genommen musste es Ren gewesen sein, der hier war. Shin konnte seinen Blick nicht mehr senken. Stattdessen sah er hinter Nell hervor zu den drei Personen, die auf edlen Stühlen an dem reich gedeckten Tisch saßen. Zwei davon hatte er durch Rens Augen gesehen. Die dritte Person hatte die Gestalt und das Gehabe von Ankamna. Sie sah auf, und obwohl sie ihr kommen sicherlich schon vorher bemerkt hatte, tat sie überrascht und deutete dann auf die freien Plätze am Tisch.
„Setzt euch, setzt euch. Die Dämonen bitte auch. Ich denke in unserer kleinen Runde wird niemand daran Anstoß nehmen." ‚Ankamna' lächelte und sein Blick blieb an Shin hängen.
Shin sah ihm entgegen und versuchte darin etwas zu finden, doch die Person vor ihm zeigte keinerlei Wiedererkennen. Also setzte er sich ans Ende des Tisches neben Nell und wartete mit klopfendem Herzen, was dieses Treffen mit sich bringen würde.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top