Die erste große Liebe


 Zum zweiten Mal in dieser Woche, sah sich Shin einer recht aussichtslosen Situation gegenüber und heute schien niemand zu seiner Rettung zu kommen. „Es war keine Absicht, ich bin ausversehen in die Pflanze gelaufen. Ein Unfall, verstehst du?" Vielleicht brachte es ja etwas mit dem Fremden zu reden und zu Shins Überraschung, ließ er seinen Hals los.

„Ach das weiß ich doch!", entgegnete er und winkte mit einer Kralle ab. „Wir werden trotzdem etwas Spaß haben! Mein Name ist Nell Bellefleur. Du darfst mich gerne verfluchen, wenn ich mit dir fertig bin."

„Shin Balor." Sagte Shin und spürte wie seine Beine zitterten. Obwohl der Wortlaut von Nell in den Ohren des Inkubus sehr zweideutig klang, hatte er irgendwie das Gefühl, dass der genannte Spaß nur auf der Seite von Nell stattfinden würde und das Ganze keineswegs etwas Erotisches beinhaltete.

„Dein Name interessiert mich nicht.", Nell holte zum Schlag aus.

Wie auf Kommando ließ Shin sich einfach auf den Hintern fallen und die schwarze Klaue krachte über ihm in die Wand. Sie hinterließ kleine Risse in dem trüben Glas. Es musste sehr gutes Glas sein. Shin sprang wieder auf die Füße und wollte an Nell vorbei, doch dieser verpasste ihm einfach einen Triff in die Kniekehlen und Shin klappte in sich zusammen.

„Du bist ein ziemlicher Schwächling.", kommentierte Nell den Fluchtversuch. „Wie kommst du eigentlich hierher? Niemand kommt auch nur in die Nähe der Botanik AG."

„Ich bin auf der Suche nach den Schlafräumen.", sagte Shin und versuchte sich wiederaufzurichten. Er war sich darüber im Klaren, dass er nicht fürs Kämpfen gemacht war und wie es aussah, auch nicht fürs Wegrennen. Er musste einen Weg finden hier wieder rauszukommen. „Jemand hat mir gesagt sie wären hier. Aber es sieht nicht danach aus, kannst du mir vielleicht weiterhelfen?", vielleicht, ja. Vielleicht funktionierte es wenn er einfach freundlich blieb und naiv nach dem Weg fragte.

Nell hob die Augenbrauen und sah zu Shin hinunter. „Also, der Typ der dich hierhergeschickt hat, er hatte nicht zufällig rote Haare und so... hübsche Augen." Er machte eine hilflose Geste mit seinen Krallen. „Also sah im Gesicht ein wenig aus wie ein Mädchen."

„...Ja." Shin spürte wie er wieder schwächer in den Beinen wurde, als Nell bei seiner kurzen Antwort anfing zu lachen.

Sah man einmal von den spitzen Reißzähnen ab die sich dabei zeigten, war es ein ziemlich attraktives Lachen. Doch dann sagte Nell: „Ren hat dich hierhergeschickt? Was hast du angestellt, dass er dich loswerden will?" seine gute Laune war immer noch vorhanden, doch jetzt mischte sich noch etwas Neugierde dazu und er ließ vorerst davon ab Shin noch einmal zu Boden zu stoßen.

Shin erkannte in diesem Zögern seine Gelegenheit sich irgendwie hier herauszuwinden. Zudem wurde ihm jetzt klar, dass er vorsätzlich in die Falle geschickt worden war. Dieser Junge... Ren. Er hatte gewusst was hier lauerte. „Ich hab gar nichts gemacht...", protestierte er laut, dachte aber auch an den Blick mit dem Ren ihn bedacht hatte. Er hatte also ein Problem mit Shin, dabei kannten sie sich gar nicht. Shin seufzte. „Na gut. Dann verschwinde ich mal." Mit klopfendem Herzen und auch etwas Hoffnung, drehte er sich zur Tür um.

Doch natürlich legte sich ihm sofort eine Klaue auf die Schulter. „Das glaube ich nicht.", flötete ihm Nell ins Ohr.

Shin biss die Zähne zusammen. Bis vor ein paar Tagen hatte die Welt nur einzig und allein zu seinem Vergnügen existiert. Seine Kindheit war zwar nicht die schönste gewesen, aber als er endlich verstanden hatte, wie er seine Magie als Inkubus benutzen konnte, war alles immer so gelaufen wie er es hatte haben wollen. Die Menschen waren nichts weiter als Schafe gewesen, mit denen hatte er machen können was er wollte. Ein Lächeln huschte über sein Gesicht. Natürlich, er war ein Wolf unter Schafen gewesen und jetzt war er nur noch einer unter vielen. Und gleich am ersten Tag hier begannen sie alle ihm Steine in den Weg zu legen. Na gut, dachte Shin und seine Miene verfinsterte sich. Dieses Spiel kann ich auch.

Er drehte sich zu Nell um, packte ihn am Nacken und zog ihn ein Stück zu sich. Überrascht davon, dachte Nell nicht daran sich auf irgendeine Weise zur Wehr zu setzten. Was sollte dieser Schwächling denn schon anstellen? Doch dann war er in der gleichen Höhe wie diese fesselnden goldenen Augen und sobald ihre Blicke sich trafen, spürte Nell wie sein Körper sich ihm komplett verweigerte. Er konnte keinen Muskel mehr rühren. Sogar seine Hand war auf halbem Weg zu Shins Kopf in der Luft erstarrt. Ein sehr unterentwickelter Instinkt, der irgendwo tief in Nells Innerstem begraben lag, meldete sich schüchtern zu Wort und machte den Vorschlag, dass es besser wäre jetzt Abzuhauen.

Doch ohne nur den geringsten Widerstand zuzulassen, zog Shin sein Opfer zu sich und küsste ihn auf den Mund.

Nell war verwirrt. Wenn er selbst die Oberhand hatte, würde er nie auf die Idee kommen, jemanden zu küssen. Doch die Lippen von Shin waren sehr weich und fühlten sich ... gut an. Zutiefst verwirrt ließ er es über sich ergehen und wollte dann etwas sagen, doch als er den Mund öffnete, zog Shin ihn noch einmal zu sich und seine Zunge drang vorsichtig in Nells Mund ein. Dieses Gefühl war neu. Wenn Nell es irgendwie beschreiben müsste, würde er es wohl feucht nennen. Dabei entwich ihm ein leises Knurren und in ihm wuchs das Verlangen nach mehr. Wieder fähig sich zu bewegen, packte er Shins Arm und der Kuss wurde intensiver.

Doch dann hörte es mit einem Schlag auf, als Shin sich plötzlich dem Griff entwand und mit einem Mal viel zu weit weg war. Mit einer beiläufigen Geste wischte er sich etwas Blut von der Unterlippe. Nell hatte ihn gebissen. „Das hat etwas wehgetan.", sagte er, als würde er sich für die Unterbrechung entschuldigen. „Kannst du mir jetzt sagen, wie ich zu den Schlafräumen komme?"

„Auf der anderen Seite vom Innenhof. Der Gebäudeteil der über dem Wasser liegt.", antwortete Nell, bevor er überhaupt merkte was er da sagte. Dann schluckte er, hatte immer noch Shins Geschmack im Mund. „Warte mal du kannst doch jetzt nicht einfach gehen!"

„Oh doch!" Shin nahm seine Sachen, heilfroh eine Gelegenheit zu haben hier endlich abzuhauen. Der Kuss war zwar nicht schlecht gewesen, aber er wusste nicht wie stark seine Magie auf Nell wirkte. Er ging zur Tür und ging langsam nach draußen. Als er den Raum der Botanik AG verlassen hatte, begann er zu rennen und er blieb erst, vollkommen außer Atem, stehen als er den Ostflügel erreicht hatte.

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Es war ein gemütlicher Sonntagvormittag gewesen. Ren hatte bis halb zehn geschlafen und sich dann an einem üppigen Frühstück erfreut. Als er auf diese Schule gekommen war, war er anfangs sehr skeptisch gewesen, besonders was die anderen Schüler anging. Aber es lief hier alles wie am Schnürchen. Niemand ging ihm auf die Nerven und niemand strahlte genug Autorität aus um ihn in herumkommandieren zu können. Sogar das Biest mit den schwarzen Krallen hatte er mit einem Fluch belegen können. Eigentlich sollte er kein Schüler sondern Aufseher werden, aber das waren nur so ein paar Nebengedanken. Und andererseits machte es ohne Verantwortung viel mehr Spaß. Niemand erwartete etwas von ihm. Am Ende war er nur hier, damit er nicht in der richtigen Welt war und ernsthaftes Chaos anrichtete. Dann war da noch die Angelegenheit mit dem Direktor. Ren hatte einmal sehr viele Versprechen gegeben und irgendwann gelernt sie zu bereuen. Jetzt durfte er immer wieder etwas erledigen. Zum Beispiel Nell. Den hatte er „erledigen" dürfen. Es war lästig gewesen, aber jetzt hatte er sein eigenes Monster im Gewächshaus.

Als Ren vom Mittagessen dorthin zurückkehrte, erwartete er fast ein kleines Blutbad zu sehen und war ein wenig enttäuscht, als er nur einen zertrümmerten Pflanztopf und einen verwirrten Nell vorfand. „Was ist passiert?", fragte Ren und dachte dabei an Typen den er hierher geschickt hatte. War Nell bei ihm etwa an seine Grenzen gekommen? Aber er sah nicht so aus als wäre er verletzt. Er sah eher deprimiert aus, was man sehr selten bei ihm sah und Ren machte sich fast ein wenig Sorgen.

Nell hob bei der Frage den Kopf. Er hatte eine sehr ungewöhnliche Haltung, zwei seiner Krallen ruhten auf seinem Mund und er gab keine Antwort, sondern sah nur zur Tür des Gewächshauses.

„Nell, geht es dir gut?", fragte Ren noch einmal, dieses Mal etwas genervt.

„Es ist etwas passiert. Jemand war hier.", murmelte Nell nach einer weiteren Pause und sah dann zur Abwechslung aus dem Fenster.

Ren war es nicht gewohnt, dass man sich so desinteressiert benahm und er hakte weiter nach: „Wer war hier?", obwohl er es eigentlich schon wusste. Er wollte nur endlich erfahren, was mit ihm angestellt worden war.

„Shin Balor..." etwas daran wie Nell diesen Namen aussprach war seltsam. Normalerweise interessierte er sich nicht im Geringsten für die Namen von anderen Leuten. Er hatte fast zwei Monate gebraucht, bis er sich „Ren" gemerkt hatte und dessen Nachnamen wusste er immer noch nicht. Jetzt jedoch klang es so, als würde seine Zunge an jeder einzelnen Silbe dieses einen Namens kleben.

Rens Augen verengten sich zu Schlitzen. „Nell, bist du vielleicht auf den Kopf gefallen?", fragte er frech und ging einen Schritt aus der direkten Reichweite der Krallen, doch Nell schien das Gesagte gar nicht richtig realisiert zu haben.

„Hm...was?", machte er und hob wieder den Kopf. „Ja mein Kopf. Ich fühl mich komisch. Ren!" und plötzlich stand er erschrocken auf. „Oh ich weiß es."

Ren ging sicherheitshalber noch einen guten Schritt zurück. Seltsame Gefühlsveränderungen sollte man nicht unterschätzen. „Was weißt du?"

„Was mit mir passiert ist! Ren, ich bin verliebt."

Einen Augenblick lang, dachte Ren er hätte sich verhört, jedoch kroch der Sinn dieser Worte langsam in sein Gehirn. Er betrachtete Nell mit einem prüfenden Blick und dann fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. Der Fluch, den er persönlich auf Nell gelegt hatte, der Fluch der ihn an diesen Ort binden und beschäftigt halten sollte, er war verschwunden. Er war von etwas anderem verdrängt worden. Ren packte Nell an den Schultern und drehte ihn zu sich. Prüfend starrte er in dessen Augen. Nell wehrte sich nicht, sondern starrte irritiert zurück, das war schon einmal ein sehr verdächtiges Verhalten. Dann entdeckte Ren wonach er eigentlich gesucht hatte: Es war an ganz leichter goldener Schimmer, kaum zu erkennen und im nächsten Augenblick schon wieder verschwunden. „Shin Balor? So heißt der Typ mit den gelben Augen?", vergewisserte er sich.

„Äh ja. Stimmt, du hast ihn ja auch getroffen!", Ein kleiner roter Schimmer erschien auf Nells Wangen. „Er ist schön, oder?"

Eigentlich sollte man froh darüber sein, dass von Nell plötzlich keine unkontrollierbare Gewalt mehr ausging, trotzdem fand Ren es einfach nur schrecklich. Vielleicht weil er doch angefangen hatte ein wenig Sympathie für den bösartigen Einzelgänger zu empfinden und jetzt tat er ihm ziemlich Leid. Was hatte Shin Balor nur mit ihm angestellt?

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