Die Domäne des Prinzen
Shin konnte ihn sofort sehen.
Roan stand auf dem gepflasterten Pfad, der von dem Gästeparkplatz zum Hauptweg zum Haus führte. Die Flügel hatte er über sich ausgestreckt und die Sonne spiegelte sich in den silbernen Schuppen.
Shin hatte noch nie an einem Kampf teilgenommen. Die Auseinandersetzungen an der Loup Parole waren immer nur von kurzer Dauer gewesen. Es waren kurze Angriffe, kleine Sticheleien und Gespräche die Kämpfe ersetzten. Doch Roan würde sicher versuchen ihn zu töten.Wenigstens hatte Shin einen Plan, auch wenn dieser angesichts der Situation nicht sehr rosig erschien.
Bevor die Eingangstür hinter ihm ins Schloss fallen konnte, wurde sie von jemandem festgehalten und Balgir kam heraus. Er stellte sich neben Shin und sagte: „Ich werde dir helfen."
Shin sah ihn irritiert an ohne etwas zu sagen.
„Nell ist verletzt und Cian kann nicht viel ausrichten.", redete der Dämon weiter.
Shin bemerkte jetzt etwas das ihm eigentlich schon vorher hätte seltsam vorkommen müssen und er fragte nach: „Kann Cian nicht zaubern? Warum benutzt er nur die Schwerter?"
Balgir schüttelte den Kopf und begann dann seine Arme zu dehnen. „Nicht seit er in die Hände von einem von euch... ähm einem von denen geraten ist."
Es gab so viel dazwischen das passiert sein musste. Wie hatten sie ihn wieder befreit und was hatten die Unsterblichen, wie alle sie nannten, mit Cian angestellt? Wenn sie nur ein wenig waren wie Aurun, dann muss es eine grausame Erfahrung gewesen sein. Auch wenn er Cian nicht mochte, und dieses Gefühl beruhte auf Gegenseitigkeit, spürte er die Last die mit dieser Information einherging. Alles an dieser neuen Situation ging ihm langsam auf die Nerven. Jetzt konnte er nicht einmal Cian hassen. „Gut.", Shin konzentrierte sich wieder auf das Hier und jetzt. „Ich will versuchen Roan mit dieser Magie einzufangen mit der ich mich vor dich bewegt habe und ihn damit einsperren. Wenn du mir helfen willst, musst du irgendwie seine Bewegung einschränken." Shin merkte noch während er sprach, dass er nicht nur schlecht im Kämpfen war, sondern anscheinend auch im Planen. „Vielleicht sich vor ihn stellen, auch wenn ihn das wahrscheinlich nicht aufhalten wird."
Balgir grinste plötzlich. „Du willst ihn mit Schwarzer Magie einfangen? Ich kann dir natürlich helfen ihn festzusetzen. Wie denkst du sind wir aus dem Keller gekommen, nachdem er dich verletzt hatte?"
Shin konnte plötzlich die Hitze neben sich spüren, als Balgir die Hände hob und blaue Flammen um seine Arme züngelten. Die Magie zog sich zusammen und wurde zu purer Energie, die sich in der Hitze der Flammen äußerte. Normalerweise ging Magie wenn sie gewirkt wurde den Umweg über den Körper, aber bei Balgir blieb sie außerhalb des Körpers und legte sich wie eine Schutzschicht um ihn herum. Ihm fiel wieder ein was Balgir und er unter dem Einfluss des Nektars einander erzählt hatten und der Name der gefallen war. Beliar. Einer der das Feuer beschwört.
Shin nickte Balgir zu und lief dann den Pfad entlang zu Roan.
Angst. Woher kam dieses Gefühl plötzlich? Shin spürte den Wind an der Wunde in seinem Gesicht und er sah Nell vor seinem inneren Auge. Nell der ihn hasserfüllt ansah und Nell der mit bleichem Gesicht auf dem Boden kniete, nachdem Roan ihn angegriffen hatte. Damit wollte er nicht noch einmal konfrontiert werden. Doch leider hatte er keine Ahnung warum die anderen (bis auf Balgir) ihn nicht kannten oder wie er es rückgängig machen konnte. Aber er konnte immerhin das andere Problem lösen und die Gefahr bannen. Er konnte Roan einfangen.
Jedenfalls glaubte er das.
Er konzentrierte sich und lenkte die Schwarze Magie hinter Roan. Es war war einfach eine Verbindung zu der Dimension zu erschaffen, die Shin aus seinen Träumen kannte. Er gab Balgir ein Zeichen und dieser griff an. Eine Wand aus konzentrierte Hitze, heißer als jede Flamme, schoss auf Roan zu. Roan machte Anstalten nach hinten auszuweichen und direkt in Shins Magie zu fallen, doch im letzten Moment lenkte er um und stieß sich mit seinen Flügeln hinauf in den Himmel.
Das ganz wiederholten sie, doch auch dieses Mal wich er im letzten Moment aus.
Er weiß es. Dachte Shin und Balgir musste das gleiche vermuten, denn der nächste Angriff von ihm kam von zwei Seiten. Doch anstatt auszuweichen, stürmte Roan darauf zu, schützte sich mit seinen Flügeln und war dann fast bei Balgir.
Shin erschrak. Warum sah alles was Roan machte so einfach und leichtfertig aus. So wie er Nell vorhin verletzt hatte und Cian weggestoßen hatte, als wären sie Puppen, Spielsachen. ... am Ende wird nichts in dieser Welt für dich eine Gefahr sein. Sie ist lediglich dein Spielplatz. Sie waren wirklich anders und Shin erkannte auch den Abstand zwischen sich und Roan. Er könnte niemals so sein, selbst wenn er von Aurun kontrolliert würde. Oder? Die plötzliche Unsicherheit ließ ihn erzittern. Er musste Roan aufhalten, nicht nur wegen Balgir oder ihm selbst, sondern auch weil er nicht wollte, dass dieses Wesen was ihm Fürsorge gezeigt hatte, tötete. Shin bewegte sich durch die Schwarze Magie wie durch ein Netz und anstatt Balgir aus dem Weg zu stoßen, blieb er direkt vor Roan stehen und öffnete den Durchgang zu seiner Dimension genau hinter sich. Roan wollte Shin zur Seite stoßen um zu Balgir zu gelangen, aber Shin hielt sich an Roans Arm fest, versuchte ihn so gut wie möglich abzulenken, damit er die Schwarze Magie nicht wieder bemerkte und auswich. Gemeinsam fielen sie hindurch und Shin schloss den Eingang.
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Sie fielen in den Küchentisch, der unter dem Gewicht nachgab und in sich zusammenkrachte. Geschirr rollte über den Boden und Shin kämpfte sich zwischen Roan und dem ruinierten Tisch hervor und stand so schnell wie er konnte auf um Abstand zu gewinnen. Er merkte wie ihm schwindlig wurde und sein Kopf pochte.
Roan war wie paralysiert. Er kniete auf der zerbrochenen Tischplatte und starrte vor sich auf den Boden und schien Shin gar nicht wahrzunehmen.
„Geht es dir gut?", fragte Shin nach einer angespannten Weile.
Roan sah endlich auf. Er wirkte gefasst, aber sein Blick war voller Müdigkeit. „Was hast du gemacht?", erkundigte er sich.
„Wir sind in diesem Raum oder so den ich geschaffen habe."
„Deiner Domäne?"
„Wenn das so heißt, ja. Ich dachte Aurun würde dich hier vielleicht nicht erreichen können.", erklärte Shin nicht ohne Stolz, da es anscheinend funktioniert hatte. Roan machte keine Anstalten mehr ihn anzugreifen.
Alles war wieder gut und er konnte Roan hierlassen und zu den anderen zurück. Doch Shins Beine bewegten sich nicht und er beschwor auch kein Portal um zurückzukehren. Stattdessen merkte er, dass er Angst hatte. Er wusste nicht, was er dort tun sollte. Nur noch Balgir kannte ihn und die anderen beiden waren zu Fremden geworden. Geschweige denn Nells gruselige Eltern bei denen Shin sich fragte, wie Nell überhaupt zu einer einigermaßen netten Person hatte werden können. Dort war nicht sein Platz. Aber was sollte er tun?
Während er nachdachte, stand Roan auf und sah sich in der kleinen Küche um. „Wirklich...", murmelte er. „Ich habe die schönsten Welten und Orte in Unseren Domänen gesehen, aber das hier ist wirklich seltsam. Warum wählst du so einen Ort?"
Von der Frage aus seinen Gedanken gerissen, brauchte Shin einen Moment um zu antworten. „Das ist mein Zuhause. Ich mag es hier."
Roan runzelte erst die Stirn als wolle er die Behaglichkeit eines solchen Zuhauses anzweifeln, doch dann schien er es sich anders zu überlegen und er nickte. „Ok. Ich schätze es kommt immer auf die Geschichte an. Was verbirgt sich hinter den Türen?" Und er ging in den Flur.
Shin lief ihm nervös hinterher und stellte dabei irritiert fest, dass die Wohnungstür verschwunden war. Bedeutete das, dass dieser Ort jetzt sicher war? Im Flur sah er auch, dass die Tür zum Zimmer seiner Mutter fehlte. Stattdessen gab es andere Türen, die ihm vage bekannt vorkamen und natürlich die Tür zu seinem eigenen Zimmer. Der Flur war außerdem viel länger als in seiner Erinnerung und es gab Bilder und Zeichnungen an den Wänden die er kannte, aber nicht wusste, dass sie jemals in seinem Besitz waren. Es waren Portraits, Gemälde, Landkarten, Fotografien von Landschaften und Gebäuden. Von Personen gab es seltsamerweise keine Fotos. Dafür aber Zeichnungen, darunter eine Zeichnung die Lucy einmal von ihm angefertigt hatte. Es war kein sehr gutes Bild, aber Shin hatte sofort erkannt, dass er selbst es war. Doch Lucy hatte ihm das Bild nur ein einziges Mal gezeigt und dann nie wieder darüber geredet. Jetzt war es hier, in einem gläsernen Rahmen. In der rechten Ecke stand in gedrungener Schrift, so dass es kaum zu lesen war ‚Lucy'. Er blieb davor stehen und betrachtete es eine eine Weile.
„Darf ich eine Tür öffnen?", fragte Roan und deutete auf eine große Tür mit zwei Flügeln.
„Ja.", antwortete Shin, denn er war selbst neugierig was sich alles an diesem Ort befand. Er riss sich von dem Bild los und ging zu Roan, der die Tür vorsichtig öffnete.
Dahinter befand sich die Bibliothek der Universität, die Shin besucht hatte, bevor er an die Loup Parole geschickt worden war. Er war einmal in der Woche hierher gekommen, aber da er erst ein halbes Semester studiert hatte, war es nicht sehr oft gewesen. Er sah zu den hohen Decken auf, den mächtigen Bücherregalen mit den Leitern und den unendlich vielen Büchern, alphabetisch nach Themen sortiert. Sein Unterbewusstsein hatte diesen Ort perfekt nachgebaut und in seine Domäne eingefügt. Shin erinnerte sich daran, wie er die Bibliothek zum ersten Mal betreten hatte. Er war noch in der Schule gewesen und hatte sich verschiedene Universitäten angesehen. Keine von ihnen war so schön und weitläufig gewesen und hatte eine so umfangreiche Bibliothek gehabt wie diese hier. Als wären hier alle Bücher der Welt. Aber... hier konnte das alles doch nicht echt sein. Er hatte vielleicht zwanzig Bücher aus der echten Bibliothek gelesen und ein paar mehr überflogen, also konnten das hier unmöglich echte Bücher sein. Er nahm ein zufälliges Buch aus dem Regal neben sich und schlug es auf, während Roan neben ihm die Flügel ausbreitete und ihm dann über die Schulter sah.
Shin schnappte überrascht nach Luft, als er sah, dass das Buch innen beschrieben war und die Worte Sinn ergaben. Er hatte mit leeren Seiten oder Wortsalat gerechnet. Stattdessen war es ein Schaubild über den Anstieg der Stadtflucht nach den Kriegen. Eine Grafik die er noch nie gesehen hatte, aber das Thema kam ihm bekannt vor. Also war es vielleicht nur Zufall. Er stellte das Buch zurück und nahm das nächste heraus, auf der Suche nach einem Fachgebiet in dem er sich nicht auskannte. Die Bibliothek hatte in der Mitte einen offenen Raum, von dem man in die obere Etage sehen konnte und mit Gemeinschaftstischen ausgestattet war. An der Ostseite begann die Abteilung der Kunstwissenschaft. Shin kannte sich mit Kunst nicht sonderlich gut aus, er mochte nur Bilder auf denen schöne Körper abgebildet waren. Er nahm ein Buch über Epochenlehre aus dem Regal und begann zu lesen. Nach drei Seiten stellte er es zurück und nahm den nächsten Band in die Hände. Dies wiederholte er ein paar Mal, bis er sich nachdenklich auf ein Sofa in der Leseecke sinken ließ. Alles was er gelesen hatte, war ihm neu gewesen. Lauter Informationen und Daten, die ihm rein gar nichts sagten, aber logisch genug erschienen. Wie konnte das sein? Was war das nur für ein Ort? Er hörte über sich ein Rascheln und sah, dass Roan sich in die Lüfte geschwungen hatte und nun auf seine Art die Bibliothek erkundete. Es war sicher praktisch keine Leiter oder Treppen benutzen zu müssen. Shin sah zu, wie der Geflügelte über den offenen Raum in das obere Stockwerk flog und sich dort auf das Geländer setzte und von dort den Raum im Auge behielt. Er sah dabei nicht aus wie ein menschliches Wesen. Es lag nicht nur an den Flügeln, Federn und Krallen. Es war die Art wie er sich bewegte und umsah. Es erinnerte Shin an ein Reptil, oder jemand der auf der Jagd war. Shin rang sich schließlich dazu durch wieder aufzustehen und sich seinen Problemen zu stellen. Das am naheliegendste Problem sah ihm sofort aufmerksam entgegen und ließ sich Geländer fallen. Roan landete vor ihm und Shin blieb erschrocken stehen.
„Du brauchst keine Angst zu haben.", versicherte Roan. „Aber ich sollte deine Domäne vermutlich vorerst nicht verlassen."
Shin schluckte und fragte dann: „Hat Aurun dich ... du weißt schon." Damit hob er die Hand und deutete auf seine Zunge, auf der sich die Stacheln befanden mit denen Wesen unter Kontrolle gebracht werden konnten.
Roan lächelte traurig. „Als wir uns kennengelernt haben wollte ich ihn umbringen. Davon hat er mich mit seinem Blut abgehalten. Irgendwann hat das aber nicht mehr gereicht." Er streifte mit den Fingern der rechten Hand über sein linkes Handgelenk, wodurch die Federn sich in die Haut zurückzogen und mehrere Narben zum Vorschein kamen, die Shin sofort wiedererkannte. Roan bemerkte Shins betroffenen Gesichtsausdruck und fügte hinzu: „Oh aber nur eine ist von Aurun. Der Rest ist von mir selbst. Ich dachte ich könnte die Kontrolle damit zurückbekommen. Leider hat es nicht funktioniert."
Shin trat einen Schritt zurück, während in seinem Kopf das Bild spukte, wie Roan sich selbst biss um Auruns Fesseln zu entkommen. Wie lange sie sich wohl schon kannten? „Es tut mir leid.", murmelte Shin. „Dass du dir wehgetan hast."
„Warum?", Roan klang überrascht. „Das ist wirklich nichts was irgendjemandem leidtun sollte. Ich habe genug Leben in so vielen Welten genommen, das sind die paar Narben wirklich nichts wert."
„Wie lange bist du schon an Auruns Seite?"
„Ein paar Jahrtausende oder mehr. Es ist schwierig zu sagen, weil es überall andere Arten gibt die Zeit zu vermessen."
Shin versuchte sich eine Vorstellung davon zu machen unsterblich zu sein. Roan lebte schon so lange und hatte nach eigenen Aussagen viel getötet. Es war zwar auf Anweisung von Aurun hin, trotzdem wirkte er nicht so, als würde es ihm leidtun. So wie er jetzt vor ihm stand, sah er aus als wäre es ihm egal. Lag es an seinem Alter? Aurun aus seinen Erinnerungen hatte immer gelangweilt gewirkt. Nach eigenen Aussagen tat er all die Dinge weil er Ablenkung suchte. Wurden einem die Dinge wie Tod und Leid irgendwann egal? Roans Situation tat ihm zwar Leid, gleichzeitig verspürte er eine innere Abneigung gegen ihn. Er war nicht wie die Monster die er von der Loup Parole kannte und auch nicht wie Aurun. Er zeigte keinerlei Emotionen gegenüber der Taten die er begangen hatte.
Shin bekam ein verkrampftes Lächeln zustande und sagte: „Du kannst hierbleiben. Dann wirst du nicht von Aurun kontrolliert."
„Es gibt auch andere Möglichkeiten.", entgegnete Roan.
Shin lief es kalt den Nacken runter. Wollte er damit tatsächlich implizieren, dass Shin ihm sein Blut geben, oder noch schlimmer, ihn beißen sollte? „Nein!", sagte er etwas lauter als beabsichtigt. „Es gibt keine andere Möglichkeit."
Roan nickte und sagte dann: „Falls du Hilfe brauchst, oder etwas wissen willst, tue ich mein möglichstes um dir zu helfen. Aber was hast du vor und wer genau bist du?"
„Das..." Shin hob eine Hand um Roan zu signalisieren, dass er kurz nachdenken musste. War es in Ordnung eine Antwort zu geben? Irgendwie zweifelte er an Roans Vertrauenswürdigkeit. „Ich muss selbst noch etwas herausfinden. Darum ... kannst du dich etwas gedulden und hier in meiner Dimension oder Domäne oder was auch immer auf mich warten?"
Roan zögerte zunächst, stimmte aber dann zu.
Und Shin ließ ihn erst einmal allein.
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