Das Eine


 „Du hast nicht einmal um mich geweint."

Shin dachte über diese Aussage nach und fand keinen Moment, in dem er wirklich aus diesem Grund hatte weinen müssen. „Nein, das habe ich wirklich nicht." Was brachte es denn schon hier zu lügen? Shin sah auf den Kopf Darios, der jetzt vor ihm auf dem Küchentisch lag und mit dem er sich unterhielt. Er hatte schon verstanden, dass es sich um einen Traum handelte, genau wie beim letzten Mal, doch er wollte hören was Dario zu sagen hatte. Er war das einzige was nicht hierher passen wollte, das Einzige in seinem Traum, das er nicht kontrollieren konnte. „Ich bin ein Dämon, ich werde wegen einem einzigen Toten doch nicht emotional.", sagte Shin knapp.

„Oh bitte", Dario schnalzte mit der Zunge. „Als ob Dämonen nicht emotional wären. Sie lassen sich von ihren Trieben und Gefühlen leiten und haben sich nicht halb so gut unter Kontrolle wie die Menschen. Natürlich seid ihr emotional."

„was weißt du denn schon?" Shin lehnte sich im Stuhl zurück und starrte an die kalte Decke. Genau wie zuhause, dachte er. „Es tut mir Leid, dass du sterben musstest, aber du hast Kaito umgebracht. Meinst du nicht du hättest es verdient?"

„Du weißt, dass es nicht meine Schuld war. Ich glaube du wurdest gerade rechtzeitig aus der normalen Welt geholt, bevor es noch mehr Tote gegeben hätte. Hast du überhaupt eine Vorstellung davon, was für einen Einfluss du auf die Menschen hast? Noch ist es nur wenn du es auch so willst, doch selbst dann kannst du es nicht kontrollieren. Bald ist es nicht nur sexuelles Verlangen das du aus deinen Opfern herauslockst. Shin, du wirst dich selbst noch zu Grunde richten. Du bist..."

Ein Klopfen ertönte.

Shin richtete sich auf, als er merkte, dass das Geräusch nicht von hier war. „Ich wache auf.", stellte er fest.

„Versteck mich wieder!", bat Dario ihn sofort. „Versteck mich bevor du aufwachst, lass mich nicht hier offen zurück. So werden sie mich finden und einsammeln."

„Jaja.", Shin stand auf, nahm Darios Kopf und verstaute ihn wieder sicher im Eisfach.

Das Klopfen erklang erneut.

Es riss Shin in die Welt zurück, gerade als er fragen wollte, vor wem er Dario verstecken sollte.

Shin lag mit offenen Augen in dem Bett seines neuen Zimmers. Er starrte an die dunkle Decke und es fühlte sich gar nicht wie ein zuhause an. Das Klopfen an der Tür wurde etwas eindringlicher und so stand er gähnend auf und taumelte zur Tür. Er stellte noch kurz sicher, dass er auch Hosen trug, dann öffnete er (Er trug Hosen, allerdings handelte es sich nur um Shorts, aber er war ja noch nie zimperlich gewesen).

Vor der Tür stand Amelia, von der Shin schon ganz vergessen hatte, dass sie überhaupt existierte. Lag wirklich erst eine einzige Nacht zwischen ihrer Begegnung? Die Zeit kam einem so lang vor wenn man erst verlassen und dann fast umgebracht wurde. Shin grummelte ihr ein: „Guten Morgen." Entgegen und bemerkte dann Cers hinter ihr. Das Zweigestaltige Wesen drängelte sich an der Aufseherin vorbei und kam wie ganz selbstverständlich in Shins Zimmer und setzte sich auf dessen Bett.

Amelia warf ebenfalls einen Blick in den chaotischen Raum. „Ist dein Mitbewohner nicht über Nacht aufgetaucht?", fragte sie und starrte so intensiv auf das leere Bett, als würde besagter Mitbewohner sich jeden Moment aus der Luft materialisieren.

„Nein.", sagte Shin und sah zu Cers. „Warum seit ihr beide hier?"

Cers, allem Anschein nach glücklich, dass es von Shin angesprochen worden war, warf alle vier Arme in die Luft und sagte: „Ich will wissen wie dein Wochenplan ist, damit wir uns regelmäßig treffen können!"

Shin sah es prüfend an. Irgendwie hatte Cers also auf eigene Faust beschlossen, dass sie jetzt Freunde waren. Shin dachte einen Augenblick über sexuelle Möglichkeiten mit Cers nach, aber die körperliche Situation dieses Wesens war einfach zu speziell, also hakte er Cers ebenfalls unter Freunde ab. Es konnte schließlich nicht schaden. „Das ist nett.", kommentierte Shin.

Von Amelia kam derweil ein verhaltenes Räuspern. „Es ist sehr schön, dass du schon einen Freund gefunden hast, aber ich bin hier um dir deinen Wochenplan zu geben. Es dürfte dich interessieren, dass du heute erst um neun Uhr Unterricht hast, jetzt ist es 7:46uhr." Sie sah auf kramte eine sehr alt aussehende Taschenuhr hervor, öffnete sie, sah darauf und nickte. „Noch genug Zeit um den Morgen angemessen zu starten. Übrigens treffen wir beide uns jeden Mittwoch um 16uhr, der Raum steht auf dem Plan.", die drückte ihm den Plan in die Hand und verließ das Zimmer.

„Sie ist nicht besonders gesprächig.", stellte Shin fest.

Cers zuckte mit den Schultern. „Ich glaube sie ist einfach nur ein wenig zurückhaltend, manchmal kann sie ganz cool sein." Es stand von dem Bett auf und sah sich den Plan in Shins Hand an. „Oh, du hast gleich den Aufbaukurs und Morgen haben wir zusammen Wirtschaft! Das ist toll. Wir sehen uns dann morgen, will dich nicht weiter stören." Es klopfte Shin auf die Schultern und ging in sein eigenes Zimmer.

Ganz im Ernst sah der Wochenplan wirklich aus wie ein Stundenplan. „Schule.", sagte Shin zu sich selbst. Das einzige was ihm ins Auge fiel, waren freie Blöcke zwischen den Unterrichtsstunden, die mit AG markiert waren und der einzige freie Tag in der Woche war der Sonntag. Alles andere war voll mit Kursen wie: „Aufbaukurs für angemessenes Verhalten in der neuen Welt", was er jetzt auch gleich besuchen musste. Shin fragte sich wofür dieses Fach gut sein sollte. Er hatte sein ganzes Leben außerhalb dieser Schulmauern verbracht und wusste sehr gut wie er sich zu verhalten hatte.

Als er schließlich angezogen mit Schreibsachen und einem Schulbuch in dem Unterricht erschien, verstand er schnell was das hier für ein Unterricht sein sollte. Der Lehrer nahm ihn vor Klassenbeginn zur Seite und redete auf ihn ein: „Ich habe mir sagen lassen, dass du vorher ganz gut unter den Menschen gelebt hast, aber das hier ist leider eine Pflichtveranstaltung, also pass einfach auf und besteh am Ende die Prüfung und du musst hier nicht mehr herkommen. Viele bleiben hier sitzen und müssen diesen Kurs jedes Jahr aufs Neue besuchen, aber ich glaube bei dir dürfte das nicht der Fall sein.", er zwinkerte Shin zu und schickte ihn dann auf seinen Platz. Am Anfang der Stunde ging der Lehrer die Anwesenheitsliste durch, bis er zu „Bellefleur.", kam „Ist er heute wieder nicht da?", fragte er ohne große Hoffnung und ging dann die Liste weiter durch.

Shin war derweil an seinem Platz festgefroren. Der Ausruf des Namens hatte ihm einen kleinen Schock verpasst und er sah sich unauffällig im Klassenzimmer um, ob sich Nell nicht doch irgendwo versteckte. Dabei kreuzte er den Blick eines ziemlich düster dreinblickenden Typens, der ihm vage bekannt vorkam. Doch woher wollte ihm einfach nicht einfallen. Dieser fing an zu grinsen und flüsterte seinem Sitznachbarn etwas zu. Beide fingen an zu lachen.

„He, ruhe!", rief der Lehrer. „Was ist da hinten los?"

Der Kerl der Shin angestarrt hatte, zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung, hab mich nur gefragt, warum hier ein Inkubus ist. Die stellen doch für niemanden eine Gefahr dar."

Der Lehrer ignorierte die Aussage und begann einfach mit dem Unterricht.

Shin aber spürte ab diesem Moment, wie die Blicke seiner Mitschüler auf ihm ruhten. Man konnte fast ihr stummes Geflüster hören: Meine Güte, ein Inkubus? Sind die nicht... oh man. Und sowas hier? Was hat der nur angestellt. Mit wem meint ihr hat er geschlafen?

Es war als wäre er wieder zurück in der Dämonenstadt. Es war diese Aufmerksamkeit von Leuten, die Ekel und Faszination in sich vereinte und sehr Dauerhaft sein konnte. Sukkubus und Inkubus waren Wesen, die schon immer als Abschaum der Dämonenart gegolten hatten. Allerdings war es anfangs nicht, weil sie sich von den sexuellen Begierden der Menschen nährten, sondern weil es häufig dazu kam, dass sie sich mit Menschen dadurch fortpflanzten und ihr Dämonenblut immer unreiner wurde. Doch dieser Grund geriet in Vergessenheit und die Ablehnung wurde auf die Sexualität reduziert. Bei den Menschen hatte fast niemand erkannt, dass Shin keiner von ihnen war. Natürlich, sollte man danach Ausschau halten, fand man sehr schnell die nicht-Menschen in der menschlichen Gesellschaft, doch es hatte nie jemanden gekümmert. Doch hier versuchten alle sofort herauszufinden was man war und dummerweise war es bei Shin schon jetzt passiert. Er war jedoch schon vorher entdeckt worden, dachte Shin, Cers hatte sofort erkannt was er war, doch hatte dieser sich nicht weiter daran gestört. Bei diesen Leuten hier war es anders und sie warfen ihm Blicke zu in denen nicht nur diese Vorurteile lagen, sondern auch ein unbestreitbares Interesse.

Shin versank ein Stück in seinem Stuhl und versuchte, den Unterricht über, sämtlichen Augenkontakt zu vermeiden und sich nur auf die Ausführungen des Lehrers zu konzentrieren. Es war sehr schwer dem Ganzen aufmerksam und interessiert zu folgen, denn heute ging die Lektion über die Grundgesetze und ihre richtige Auslegung. Etwas das jedem vernünftigen Menschen klar sein sollte. Mensch. Shin starrte auf seinen Schreibblock, in dem er sich bis auf das Datum noch gar nichts notiert hatte. Die hier waren ja alle keine Menschen.

Nach dem Unterricht, verließ Shin so schnell es ging das Klassenzimmer und musste sich erst einmal in einer der Toiletten am Waschbecken abkühlen. Das stumme Interesse seiner Mitschüler hatte ihn mehr aufgewühlt als er erwartet hätte. Er erschauderte und blickte sich im Spiegel an. Seine Augen sahen heller aus als sonst, aber das lag bestimmt an der Beleuchtung hier. Die Tür ging auf und er zuckte zusammen, als er durch das Spiegelbild sah, wer sich ihm da näherte. Es war der Kerl der ihn in der Klasse als Inkubus erkannt hatte.

„Hey, wie läuft das denn so?", fragte er als er direkt hinter Shin stand. „Schläfst du auch mit Männern?"

Shin hielt den Kopf gesenkt. „Ich steh nicht auf Kerle.", log er.

„Hm, das ist wirklich komisch. Ich dachte, weil du immer mit dem Sukkubus rumgehangen bist, hätte das auf dich abgefärbt."

Shin hob den Kopf und drehte sich erschrocken um. Jetzt erkannte er den Mann vor sich. Es war einer der Dämonen von früher und er merkte, wie er anfing zu zittern. „Nenn ihn nicht Sukkubus.", presste Shin wütend hervor.

„Sieht ganz danach aus als würdest du mich erkennen!", lachte er. Sein Name war Balgir und er war früher einer der Dämonen gewesen die sich mit aller Größter Vorliebe der Allgemeinheit anschließen, um dann auf den anderen rumzuhacken. Er hatte bei seiner Karriere an der Loup Parole wohl neue Möglichkeiten entdeckt und eine davon war, wie vorteilhaft es sein konnte selbst den Mob anzuführen. Jetzt beugte er sich zu Shin und amüsierte sich königlich. „Aber er war ein Sukkubus, hat nur mit Männern geschlafen. So nennt man das doch? Echt abartig und mit sowas bist du auch noch verwandt."

Shins Blick wurde etwas neblig. Er erinnerte sich nur ungern an die Situationen als sie auf dem Weg zu Tante und Onkel waren und sein Cousin immer einen Umweg gegangen war, damit sie nicht Balgirs Truppe über den Weg liefen. „Sukkubus.", wiederholte er.

„Häh, was?!", fragte Balgir und tat so, als hätte er nicht richtig verstanden. Um sein Spiel authentisch aussehen zu lassen, beugte er sich ein Stück weiter zu Shin.

Dieser handelte sofort, drückte Balgir einen Kuss auf den Mund und setzte alles an Magie ein um diesen zu verführen. Shin war etwas wütend, aber vor allem wollte er Balgir etwas von seiner eigenen Medizin geben. Der Dämon vor ihm sah nicht schlecht aus und Shin wollte ausprobieren wie gut seine Magie mittlerweile auf Dämonen wirkte.

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