Das andere Monster

Hatte Lelio ihn schon an der Loup Parole so manipuliert? Die Art und Weise wie er mit ihm geredet hatte, hatte es ihm schwer gemacht einen klaren Gedanken zu fassen. Shin ärgerte sich darüber, dass es ihm nicht schon früher aufgefallen war. Der Stress und die Sticheleien hatten die schönen Momente hervorgehoben und ihn die Manipulation ignorieren lassen. Umso glücklicher war er, dass er Lelio hinter sich ließ und weiterging. Nicht ohne Stolz öffnete er ein Tor in seine Dimension und schritt hindurch, nur um dann auf der anderen Seite festzustellen, dass seine Einkäufe noch in Lelios Auto waren. Er konnte jetzt unmöglich zurückgehen. Zerknirscht und nicht mehr ganz so cool suchte er in seinen Jackentaschen nach irgendetwas das er Roan mitbringen konnte, den er ja eine Woche allein in seiner Dimension gelassen hatte. Alles was er fand war ein angebrochenes Päckchen Kaugummi. Da war es vielleicht doch besser mit leeren Händen aufzutauchen.

Shin sah sich in der Küche um, die wohl zu seinem Hauptzugang in seine Dimension geworden war. Ob das jetzt immer so blieb, oder konnte er sich noch etwas anderes ausdenken?

Da fiel ihm plötzlich auf: Warum konnte Lelio sich an ihn erinnern? Warum die anderen nicht? Wenn es nach Shin ginge, hätte Lelio ihn ruhig auch vergessen können. Er hätte das ganze eben im Auto sowieso viel lieber mit Nell gemacht. Aber auch wenn es mit Lelio gewesen war, fühlte Shin sich danach viel besser. So gesehen, hatte er den jungen Jäger doch benutzt. Doch statt einem Gefühl von Schuld zu empfinden, machte es ihm jetzt gar nichts mehr aus.

Shin stellte fest, dass Roan sich nicht in der Küche befand und er vermutete, dass er sich in der Bibliothek aufhielt. Jedenfalls war das der Ort zu dem Shin am ehesten selbst gehen würde. Bevor er sich jedoch auf den Weg dorthin machen konnte, erweckte etwas anderes seine Aufmerksamkeit. Sämtliche Putzmittel- und Desinfektionsmittelflaschen standen auf dem reparierten Esstisch und auf der Spüle. Ein Großteil war leer oder fast leer, jedoch sah es nicht so aus, als hätte jemand hier sauber gemacht. Es war noch genauso chaotisch und etwas – naja nicht gerade schmutzig, aber eben bewohnt – wie zuvor. Außerdem – und bei dieser Entdeckung bekam Shin etwas Gänsehaut – lagen die Küchenmesser fein säuberlich nebeneinander neben dem Spülbecken, als wären sie das Einzige hier, das gründlich gereinigt worden war. Was war los? Das konnte nur Roan gewesen sein. Warum traf er nie jemanden der sich normal verhielt?

Er verließ die Küche und ging den Flur entlang, um die Tür zur Bibliothek zu erreichen. Er öffnete sie vorsichtig und warf einen Blick hinein, konnte aber auf den ersten Blick nichts ungewöhnliches erkennen. Alles sah friedlich auf. Er betrat den Raum und war wie das erste Mal überwältigt von der Größe dieses Ortes. Die Regale ragten in die Höhe und schienen in unendlich weiten Gängen auszulaufen und... Shin erschrak plötzlich. Irgendwie.... Er sah sich um. Die Glaskuppel über ihm schien auf den ersten Blick unverändert, aber irgendwie weiter weg und größer, viel größer. Außerdem gingen die Regalreihen wirklich sehr weit, so dass er ihr Ende gar nicgt erkennen konnte. Das hier war nicht die Universitätsbibliothek die er vor einer Woche erschaffen hatte. Das hier war viel größer. Wie konnte das sein?

„Roan?", fragte er in den Raum hinein.

Wie zur Antwort hörte er über sich ein Rascheln und Roan blickte über das Geländer aus dem zweiten Stockwerk unter der Glaskuppel zu ihm hinunter. „Da bist du ja.", sagte er mit leiser Stimme.

„Warte!", rief Shin. „Ich komme zu dir hinauf." Er ging zur Treppe, die sich in einem großen Bogen unter der Glaskuppel nach oben schlängelte und neben der Funktion als Treppe auch sehr viel Dekoration war. Es war eine von den Treppen die man dramatisch und langsam hinunterschreiten konnte um Gäste zu empfangen. Oben angekommen fand er Roan auf einer ledernen Eckcouch, umgeben von Büchern. Sie begrüßten sich, indem sie sich kurz zunickten. Irgendwie war Roan eine der Personen, bei der es nicht unhöflich oder seltsam war, wenn man nicht viel redete. Shin setzte sich zu ihm und während er überlegte was er sagen sollte, griffen seine Hände wie automatisch nach einem der Bücher. Das Objekt in seinen Händen fühlte sich irgendwie befremdlich an. Shin schenkte ihm seine Aufmerksamkeit, blätterte hindurch und drehte es ein paar mal in seinen Händen hin und her. Es war eindeutig ein Buch und dann wiederum auch nicht. Es war in einer Schrift die Shin nicht kannte und außerdem hatte er, egal wie er es aufschlug, das Gefühl es falsch herum zu halten. „Was ist das?", fragte er schließlich irritiert.

„Ein Buch aus einer anderen Welt.", antwortete Roan. „Es ist in einer anderen Sprache geschrieben und ließt sich aus der Mitte heraus."

„Das klingt äußerst unpraktisch.", stellte Shin fest und schlug es in der Mitte auf, wurde aber immer noch nicht schlau daraus.

„Kannst du alle Sprachen deiner Welt sprechen?", fragte Roan.

„Nein.", antwortete Shin. Er konnte nicht einmal zwei Sprachen fließend sprechen.

Roan lächelte. „Niemand von uns konnte alle Sprachen der eigenen Welt. Aus meiner habe ich nur eine einzige beherrscht und der Rest ist verloren gegangen. Also habe ich in den anderen Welten Sprachen gelernt und Bücher gelesen, damit nichts vergessen wird. Aber letztlich war es ja nur in meinem Kopf und hat niemandem genützt. Jetzt sieh dich um." Er deutete um sich und meinte damit wohl die Bibliothek. „Aber nicht nur Bücher, sondern auch andere Medien mit denen Wissen vermittelt wurde. Sie befinden sich weiter hinten." Er deutete eine der langen Regalreihen hinunter, die scheinbar in der Unendlichkeit endete.

Shin sah von Roan zu dem Buch in seinen Händen und ließ seinen Blick durch das Büchermeer um sie herum streifen. „Hast du das alles erschaffen?", fragte er verwirrt. Sollte das nicht eigentlich seine Dimension sein?

Zu Shins Überraschung lachte Roan. Shin hätte nicht gedacht, dass ein solch unschuldiger und sympathischer Laut aus einer so bedrohlichen Person kommen könnte.

„Nein nein.", erklärte Roan immer noch grinsend. „Das warst du. Dieser Ort scheint das Wissen derer wiederzugeben, die sich hier aufhalten. Es scheint von Dauer zu sein, da ich hier auch Bücher gefunden habe, die ich nicht kenne." Er deutete auf Shins Lieblings-Romanreihe mit Emiliy Grau.

„Wie habe ich das gemacht?", fragte Shin, doch Roan zuckte nur mit den Schultern.

„Es gibt vieles was wir über die Domänen nicht verstehen, zum Beispiel warum du in der Lage bist mich von Auruns Einfluss abzugrenzen, oder warum die Gesetze in jeder Domäne anders zu sein scheinen."

„Hast du auch eine Domäne?", fragte Shin neugierig.

Roan zuckte mit den Schultern. „Ich weiß es nicht. Aurun hat mich aufgelesen, bevor ich etwas darüber erfahren konnte."

„Das tut mir Leid.", sagte Shin und starrte wieder das seltsame Buch an, weil er nicht wusste wie er darauf reagieren sollte.

Roan zuckte wieder mit den Schultern und wendete sich dann einem anderen Thema zu: „Sag mal, was hast du jetzt vor? Ich finde es zwar gut hier zu sein und von Aurun isoliert, aber was willst du tun?"

„Ich will..." Ja was? Shin hatte die letzte Woche immer wieder darüber gegrübelt und letztlich gab es nur die Möglichkeit sich Aurun irgendwie zu stellen. Er wusste, dass es möglich war. Bevor Aurun seine Zeichen und Narben an Veil hinterlassen hatte, hatte Veil eine Art Vertrag mit Abaddon geschlossen. Was wohl bedeutete, dass im Fall der Fälle Abaddons Anspruch den von Aurun überschreiben würde. Aber wie er das Umsetzen konnte... davon hatte Shin keine Vorstellung. Außerdem müsste er Aurun dann töten? „Sind die anderen Unsterblichen auch unter Auruns Einfluss, so wie du?", fragte er Roan.

„Ja. Er hat jeden von uns markiert. Niemand kann sich ihm widersetzen."

Shin spürte einen Stich. Sie alle also. Damit war klar, dass Aurun nur vernichtet werden konnte. Shin konzentrierte sich und fuhr mit der Hand vorsichtig über seinen Nacken. Er hatte sie schon einmal in seiner Domäne sichtbar machen können, schließlich hatte er sie selbst gesehen. Die Narben mussten mit seiner Seele verbunden sein. „Hat es funktioniert. Kann man sie sehen?", erkundigte er sich.

Roan beugte sich zu ihm, um sich mit fragendem Blick Shins Hals anzusehen. Als er erkannte was es war, sah er erschrocken auf. „Das sind Auruns Markierungen. Aber warum so viele?"

„Ich weiß es nicht. Aber ich weiß, dass die Narben an einem solchen Ort wie meiner Domäne entstanden sind." Shin spürte, dass seine Hände zitterten und er griff das Buch fester. Er erinnerte sich an das was Ankamna gesagt hatte, dass die Narben von solchen Orten Wesen bis zu dem eigenen Tod an einen binden würden. Das hieß selbst wenn Shin sterben sollte, würde er immer wieder zu Aurun zurückkehren. „Ich will Aurun töten." Seine Worte überraschten ihn selbst. Er hatte nicht gewusst, dass er zu einem solchen Entschluss fähig war. Auch wenn es die logische Konsequenz aus seinem Wunsch war, sich von Aurun zu lösen.

Roan hingegen schien weniger überrascht zu sein. „Da bist du nicht der Erste. Es hat genug von uns gegeben, die versucht haben ihn zu töten – mich eingeschlossen. Er ist zu stark und auch zu alt. Was denkst du hast du gegen ihn in der Hand?"

Shin wollte schon antworten, ihm von Abaddon und ihrem Abkommen erzählen, doch dann hielt er inne. Warum sollte er es erzählen, wenn er nicht wissen konnte, ob er Roan vertrauen konnte. Und selbst wenn er ihm vertrauen konnte, in dem Augenblick in dem Aurun wieder Kontrolle über ihn hatte, würde Roan alles erzählen. Stattdessen wich er auf eine andere Wahrheit aus. Etwas das wichtig klang, aber ihm mittlerweile nichts mehr bedeutete. „Aurun ist mein leiblicher Vater. Ich denke wenn jemand ihn zur Strecke bringen kann, dann sein eigenes Fleisch und Blut." Das klang etwas dramatischer als Shin es beabsichtigt hatte.

Doch Roan war weiterhin unbeeindruckt. Er stand in einer eleganten Bewegung von dem Sofa auf und kam auf Shin zu. Dieser brauchte einen Moment um zu verstehen, dass Roan sich nur die Zeit nahm um Shin zu mustern. Schließlich sagte er: „Es ist schon eine gewisse Ähnlichkeit da, aber er muss dir eine ganz schöne Lüge aufgetischt haben."

„Aber es stimmt.", sagte Shin und blickte unbeirrt zu dem skeptischen Roan auf, der immer noch vor ihm stand.

„Nein." Roan setzte sich wieder und erklärte dann: „Wir können keinen Nachwuchs zeugen. Es ist unmöglich. Wir können uns nur in unserer eigenen Welt fortpflanzen und die sind alle zerstört."

Oh.

So war das.

Aber.

„Es ist seine Welt.", sagte Shin. Er wusste es, Aurun hatte es Veil erzählt. Deswegen war Aurun hier. Er suchte nach etwas und er hatte gehofft es in seiner Welt zu finden.

Roan schien erneut mit Desinteresse zu reagieren, doch Shin erkannte den Kampf der hinter seinen Augen stattfand. Hass und Wut, aber auch Unverständnis. „Warum hat er ...", begann der Unsterbliche, brach dann jedoch ab und stand hastig auf. In einer einzigen fließenden Bewegung machte er einen Schritt auf das Geländer zu, hinter dem es hinunter ins Erdgeschoss ging, sprang darüber hinweg, breitete im Fall seine Flügel aus und verschwand irgendwo zwischen den unendlichen Bücherregalen.

Shin starrte ihm mit klopfendem Herzen hinterher. Er hatte überhaupt keine Chance gehabt darauf zu reagieren und für einen schrecklichen Augenblick hatte es so ausgesehen, als ob Roan ihn angreifen würde.

Aus der Richtung in die Roan verschwunden war, kam ein entferntes Krachen. Shin wusste wie dumm er gerade sein musste, trotzdem stand er auf und ging die Treppe hinunter um Roan zu folgen. Er musste mehrere hundert Meter zurückgelegt haben, bis er an eine Abzweigung kam. Er merkte, dass die Symbole an den Buchrücken sich geändert hatten und er jetzt wohl sozusagen in eine andere Welt kam. Er bog ab und erkannte Roan, der zusammengesunken neben ein paar Büchern lag, die so aussahen, als wären sie bis vor kurzem noch gelesen worden. Shin ging vorsichtig auf ihn zu und als keine Reaktion kam, trat er mutig näher. „Roan?", doch der rührte sich noch immer nicht. Jetzt entdeckte Shin das Blut, das neben Roans Hals eine kleine Pfütze bildete. Shin erschrak, kniete neben ihm nieder und packte Roan an der Schulter um ihn zu sich zu drehen. In seinem Hals steckte ein Brieföffner und Roan atmete schwach. Shin überlegte fieberhaft was er tun sollte. Was wenn die Halsschlagader getroffen war? Würde er dann nicht verbluten und sterben? Shin wollte gerade den Ärmel seines Oberteils abreißen um den Stoff gegen die offene Wunde zu drücken, während er den Brieföffner herauszog, als Roan ihm die Hand auf das Bein legte und murmelte: „Gib dir keine Mühe."

Er zog den Brieföffner selbst heraus, während Shin erschrocken dabei zusah wie das Blut herausfloss bis die Wunde sich von selbst schloss. „Das mit der Unsterblichkeit scheinst du noch nicht verstehen zu wollen."

„Wer hat das getan?", fragte Shin sofort. War noch jemand hier? War dieser Ort doch nicht so sicher wie Shin geglaubt hatte?

„Ich.", antwortete Roan und begann damit das Blut wegzuwischen.

„Ah...", Shin war verwirrt. Warum sollte Roan das tun? „Es... es tut mir leid. Ich hätte bei dir bleiben müssen und dich nicht eine Woche alleine lassen. Und die ganze Sache mit Aurun... ist, ist es wirklich... gibt es keine Möglichkeit etwas dagegen zu tun?"

Roan sah ihn irritiert an. „Du musst dich nicht entschuldigen. Vorhin habe ich noch überlegt dich umzubringen. Das ganze hier ist eine Art Angewohnheit." Er deutete auf das Blut und den Brieföffner.

„Warum?"

Roan überlegte und zuckte mit den Schultern. „Weil ich es kontrollieren kann."

Das war nicht in Ordnung. Ganz und gar nicht. All die Panik stieg in Shin an und eine andere Angst die er bisher nicht gekannt hatte machte sich in ihm breit. Was hielt die Zukunft bereit, was konnte er tun um sie zu retten? „Roan!", sagte er laut und griff beide Schultern von Roan, der jetzt gegen ein Bücherregal gelehnt vor ihm saß und ihn überrascht anblinzelte. „Bitte hilf mir Aurun umzubringen. Ich weiß du kannst hier nicht weg, aber du kannst mir alles beibringen und wenn es vorbei ist, bist du frei!"

Roan lächelte traurig und sagte dann: „Na gut, aber das ist das letzte Mal, dass ich das versuche."

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