Bruchstücke Teil 5
Mit fünfzehn Jahren hatte es bereits begonnen. Dan wusste nicht, was er mit seinem Leben anfangen sollte. Wie die meisten jungen Männer in seinem Alter ging er in die Stadt und fing an in der Fabrik zu arbeiten. Er verdiente genug Geld und das Mittagessen gab es aufs Haus. Ein halbes Jahr hielt er die Arbeit aus, bis er merkte, dass irgendwie die Luft draußen war. Als Kind hatte er sich immer als der Stärkste gefühlt und hatte vorgehabt irgendwann die Welt zu erobern. Doch jetzt sollte sein Leben wohl so aussehen: Zehn Stunden arbeiten und einen freien Sonntag in der Woche bis zu seinem Tod. Er starrte auf den schmutzigen Fluss in dessen Wellen sich das Mondlicht spiegelte und plötzlich war diese Aussicht viel besser als der Rest seines Lebens. Aber natürlich tat er nichts dergleichen. Doch wenn er nach einem halben Jahr schon darüber nachdachte, grauste ihm schon vor der nächsten Woche. In seinem Herzen fasste er daher den Entschluss, dass er sich ein Ziel suchen musste. Etwas auf das er sparen konnte und womit er dann der Stadt und ihren Fesseln entfliehen konnte. Gerade als er sich auf den Weg nachhause machen wollte, hörte er von unter der Brücke auf der er stand ein seltsames Platschen. Unregelmäßiger Wellengang erweckte seine Aufmerksamkeit. Da in ihm sowieso der Wunsch nach Abenteuer erwacht war, kletterte er die Böschung hinunter um nachzusehen, was der Fluss mitgebracht hatte. Unter dem Brückenbogen erkannte er im Mondlicht ein großes Bündel aus Stoff. Als er näher trat, sah er, dass es sich um einen Menschen handeln musste. Zuerst erwachte in ihm Widerwillen und Ekel. War etwas eine Leiche angeschwemmt worden? Doch die Neugierde siegte, er trat näher heran und drehte die Person auf den Rücken. Er rechnete mit allem, von verwesender Haut, bis zu von Maden zerfressenen Augenhöhlen. Doch was sich zeigte, war das Gesicht eines Mädchens. Sie war schön und unversehrt und konnte nicht älter als sechzehn sein. Jetzt erkannte er auch, dass ihre Kleider, wenn auch mitgenommen, nass und schmutzig, sehr hochwertig waren. Außerdem trug sie goldenen Schmuck. Dan fühlte ihre Puls und stellte betroffen fest, dass sie tot war. Sie war nicht die erste Tote die er sah. Er hatte drei seiner Geschwister im Heim tot aufgefunden. Doch hier an dieser Stelle und an diesem Abend, war es mit einem vollkommenen Gefühl der Verlorenheit verbunden. Damals war es nur überleben gewesen. Hier war es anders. Er setzte sich neben sie in das schmutzige Flussufer und starrte hinauf in die unendlich dunkle Unterseite der Brücke, auf der er bis eben noch gestanden und geträumt hatte.
Nach einer Weile hörte er neben sich plötzlich ein Husten. Erschrocken stand er auf und wich ein paar Schritte von der Toten weg. Sein Herz raste vor Angst und alle seine Sinne schrien danach wegzulaufen, doch blieb wo er war und sah dabei zu, wie das Mädchen sich langsam erhob. War es das, worauf er gewartet hatte?
Sie stand jetzt aufrecht vor ihm. Ihr Kleid klebte nass an ihrem Körper und ihr verfilztes Haar stand in alle Richtungen ab. Trotz allem, war sie von einer würdevollen Aura umgeben, als würde Dan vor einer sehr wichtigen Person stehen und nicht vor einem sehr dreckigen Mädchen. Sie musterte ihn eine Weile aus dunklen Augen.
Und dann stellte sie sich ihm vor.
Und stellte gleichzeitig seine Welt auf den Kopf.
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Amelia Rosamunde Tinwalker. Tochter von Reginald Tinwalker, amtierender König.
So hatte sie sich ihm vorgestellt.
Dan gab ihr den Spitznamen Lia und ließ sie bei sich wohnen. Sie schlich sich immer nachts zu ihm, weil Damenbesuch nicht erlaubt war. Die seltsame Lia, die nicht richtig im Kopf war, weil sie dachte sie wäre eine Prinzessin und redete wie eine Erwachsene. Lia, die Dan versichert hatte, dass es ok wäre, wenn sie miteinander schliefen, weil ihr Mann schon tot sei. Lia, die dann trotzdem sehr glücklich war, dass Dan kein Interesse an ihrem Körper hatte. „Magst du keine Frauen?", hatte sie gefragt.
„Vielleicht habe ich einfach kein Interesse an Witwen.", hatte er geantwortet, weil er noch nie mit jemandem darüber geredet hatte.
Sie hatte gelacht und irgendwann war er dann bereit darüber zu reden und sie verstand. Dan freundete sich mit diesem seltsamen Mädchen an.
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„Dan." Lia starrte den Fluss entlang in die dunkle Stadt in der vereinzelte Lichter brannten. „Das sollte ein Abschied sein. Aber wenn du dich mir anschließen willst, dann musst du verstehen, dass es danach kein zurück mehr gibt."
Er musste an die Nacht denken, in der er sie unten am Flussufer gefunden hatte, in der Hoffnung dass etwas sein Leben veränderte. Seitdem war zwar nur knapp ein Jahr vergangen, aber er hatte sich verändert. Jetzt ging es nicht mehr um ein Abenteuer und Veränderung. Er wollte ihr helfen und nicht sich verändern, sondern die Welt in der er lebte. „Ich komme mit.", sagte er.
Lia drehte sich zu ihm um und in diesem Moment sah sie wirklich aus wie in der Nacht in der sie sich kennengelernt hatten. Ihre Augen waren so dunkel wie der Abgrund selbst. „Dann musst du mir glauben."
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Dan wischte das Blut an der Innenseite seiner Jacke ab, während er durch die aufgebrachte Menge davonlief. Das Messer steckte er in die Tasche eines der Schaulustigen. „Er ist tot!", rief jemand und Panik machte sich breit. Er war niemandem aufgefallen. Er war einfach nur ein Teil der Menge, also wurde er langsamer, drehte sich zum Geschehen um und tat so, als würde er versuchen zu sehen was vorne geschah. Natürlich wusste er es: Der Botschafter der Stadthaltung war erstochen worden. Dan blieb noch ein wenig hier, bis er genug hatte. Genug von dem Lärm, genug von den Menschen, genug von dem Gefühl der Leere das sich immer mehr in ihm ausbreitete.
Mit jedem Schritt den er tat.
Zurück im Versteck wusch er seine Hände, obwohl er genaustens darauf geachtet hatte, dass kein Blut an sie kam. Seine Jacke warf er ins Feuer und nahm sich eine neue aus dem Schrank. Er musste das Blut beseitigen. Es war nicht das erste Mal, dass er jemanden auf offener Straße umgebracht hatte und doch zitterten seine Hände und er wurde die Angst nicht los. Selbst nach fünf Jahren verfolgte sie ihn noch. Sicher, es wurde einfacher, routinierter. Doch letztlich war die Angst noch da und die Erinnerung an den ersten Schock den er erlitten hatte, nachdem Lia ihm die richtige Welt gezeigt hatte. Die voller Betrug, Mord und Leid. Er klammerte sich daran fest. An das Gefühl von damals, doch er merkte wie es langsam verschwand und er härter wurde, unfreundlicher und skrupellos. Mit dem Erwachsenenalter war er größer und stärker als die meisten geworden und niemand konnte mehr die Angst in seinen Augen sehen. Er fühlte sie nur noch in seinem Herzen.
„Das war spitze!", Lia kam herein und zog ihre Kapuze aus dem Gesicht. Sie nahm ein Paket unter ihrem Mantel hervor und Dan erkannte, dass es sich um die Tasche handelte, die der Botschafter mit sich geführt hatte. „Damit kommen wir ein gutes Stück weiter."
Weiter wohin? Dan spürte eine Rastlosigkeit. Lia hatte ein klares Ziel vor Augen: Sie wollte den Stadthalter umbringen, der für den Tot ihrer Familie verantwortlich war. Doch in Dan formte sich immer mehr die Frage nach dem Danach. Danach würde es Chaos geben und unschuldige Opfer. Die Lage in der Stadt und ihrer Umgebung war zwar jetzt schon unerträglich, doch man könnte etwas tun. Etwas verändern. Doch Lia kämpfte nicht auf dieser Seite. Alles was sie wollte war Rache. Und Dan war schon zu lange hier. An seinen Händen klebte zu viel Blut das er nicht mehr abwaschen konnte. Also tat er was er an dieser Stelle am besten konnte und schluckte alle seine Zweifel hinunter.
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Dan trat hinaus und blinzelte in die Morgensonne. Er hatte sich noch nicht daran gewöhnt wieder auf dem Land zu sein. Heute Nacht war er aufgewacht weil es zu still gewesen war und er glaubte, dass etwas nicht stimmte. Doch alles war ruhig und friedlich. Sein Elternhaus war zwar ein heruntergekommen, weil über ein Jahrzehnt niemand mehr hier gelebt hatte, aber für die Zeit war es ausreichend. Als er sich umsah, merkte er, dass er nicht allein war. Veil saß auf der Bank neben der Eingangstür und hielt die Augen geschlossen.
„Guten Morgen.", grüßte Dan ihn und tat dann so, als müsste er sich die andere Seite des Hauses ansehen, damit er sich nicht mit Veil beschäftigen musste. Er wusste nicht wie er mit dem jungen Mann umgehen sollte. Die Dinge die geschehen waren, saßen noch zu tief und er konnte nicht in Worte fassen, was er zu Veil sagen wollte. Sollte er sich entschuldigen? Oder sollte er ganz normal weitermachen? Er war bei der Entführung nicht sehr nett zu Veil gewesen und hatte Dinge gesagt, auf die er nicht stolz war. Außerdem war er nur allzu bereit gewesen ihn umzubringen. Die Frage war auch, an wie viel Veil sich erinnern konnte.
„He.", sagte Veil plötzlich und Dan zuckte zusammen.
„Was ist?", fragte er und versuchte fürsorglich zu klingen.
„Sascha hat mir gestern erzählt, dass ich, wenn ich im Palast geblieben wäre, in den nächsten Monaten gestorben wäre. Jetzt habe ich vielleicht noch ein paar Jahre. Ich sollte euch dankbar sein." Jedoch klang er dabei nicht sehr dankbar.
Dan starrte ihn an. Veil hatte noch immer die Augen geschlossen und mit der blassen Haut sah er aus als stünde er an der Grenze zwischen Leben und Tod. „Warum haben die dir das eigentlich angetan?", fragte Dan und stellte sich jetzt neben ihn vor die halb geöffnete Haustür.
Veil zuckte mit den Schultern und sagte nur: „Spaß."
„Aber du wusstest davon.", stellte Dan fest.
Veil nickte.
„Warum bist du dann nicht einfach weggegangen? Warum hast du das Essen überhaupt zu dir genommen? Du hättest so viel tun können um-" Bevor Dan mit seiner Tirade weitermachen konnte, traf ihn etwas fest am Hinterkopf. Er wirbelte herum und sah, dass Sascha in der Tür stand.
„Komm runter, Dan. Es ist nicht seine Schuld.", sagte sie und schob ihn zur Seite um das Haus zu verlassen. „Ich kehre in die Stadt zurück. Kommst du mit oder willst du hierbleiben?"
„Was ist mit ihm?", fragte Dan und deutete auf Veil.
„Er wird nicht wieder gesund, aber er kann hierbleiben. Die Leute hier meinten sie können ihm Essen vorbeibringen."
Veil starrte auf seine Füße, als würde ihn das ganze nichts angehen.
„Ehrlich gesagt.", meinte Sascha jetzt etwas leiser. „Ist er noch nicht ganz bei sich, aber er wird für sich sorgen können."
„Ich bleibe hier.", sagte Dan. „Jedenfalls so lange, bis es ihm besser geht."
Sascha sah ihn mitleidig an. „Na dann. Du kannst dich jederzeit umentscheiden. Es dauert ja nur einen Tag um zu Fuß wieder in die Stadt zu kommen."
Sie entfernte sich und Dan sah ihr hinterher, bis sie am Horizont verschwand.
„Es tut mir Leid.", sagte Veil plötzlich.
Dan sah erschrocken zu ihm und erkannte, dass Veil weinte. Warum? Warum entschuldigte er sich? Dan kniete sich überfordert neben ihn und versuchte herauszufinden was los war. Waren es seine Worte gewesen?
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„Ich bringe den Kindern der Bauern lesen und schreiben bei, dafür bekommen wir mehr zu Essen von ihnen und nächstes Jahr kannst du die Felder um deinen Familienhof bestellen." Veils Augen glänzten, als er Dan die Neuigkeiten beim Abendessen erzählte.
„Das ist gut.", sagte Dan und freute sich, dass Veil lebendig war und eine Zukunft plante. Und dass Dan sich hatte entschuldigen können und langsam wieder lernte andere Menschen zu verstehen und Freundlichkeit zu leben.
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Lucy wachte mitten in der Nacht auf und merkte, dass sie geweint hatte. Sie hatte vom Tod geträumt. Nicht ihrem eigenen, sondern etwas dazwischen. Etwas von ihr war gestorben.
„Bist du wach?", fragte Shin plötzlich in die Dunkelheit hinein.
Erschrocken wischte sie sich die Tränen aus dem Gesicht. „Ja, soll ich Licht machen?"
„Neeee.", stoppte Shin sie. „Ist irgendwie besser so. Es ist lustiger nicht zu wissen wie viel Uhr es ist."
„Stimmt.", sagte Lucy und musste kichern.
Sie waren gerade zwölf Jahre alt und Shin übernachtete bei ihr. Sie durften das, obwohl Shin ein Junge war. Lucy mochte ihn, aber nicht auf diese Weise und Shin ging es genauso. Lucy hatte immer das Gefühl, dass sie bei ihm sein wollte und mehr nicht. Es war ein seltsames Verlangen, dass sie immer rastlos hatte werden lassen. Doch jetzt war alles gut. Sie hatte etwas zu erfüllen und würde ihrer Aufgabe gerecht werden.
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Bis sie starb.
Sie war zurück.
Sie erinnerte sich.
Sie war hierhergekommen, um Veil von den Toten zurückzuholen. Doch hatte sie nicht das Gefühl, irgendetwas erreicht zu haben. Weder als Dan, noch als Lucy hatte sie etwas beigetragen.
„Es war Entschlossenheit.", erklärte Tiamat, während sie Lucys Seele in Händen hielt. „Dein Tod wird Wellen schlagen und eine Entschlossenheit hervorrufen, dass Aurun sterben wird. Aber jetzt wirst du nicht mehr gebraucht."
„Dann Gib Sie Mir. Sie Wird Ein Gutes Geschenk Abgeben."
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Sie rannten.
Nell wusste nicht mehr wohin und er konnte sich auch kein Bild mehr davon machen. Er sah nur noch Schatten. Die Konturen verschwommen vor seinen Augen. Noch dazu fiel ihm das Laufen unglaublich schwer und er konnte seinen rechten Arm nicht mehr spüren.
„Da vorne!", hörte er eine bekannte Stimme.
Wer war es? War er doch in die Stadt zurückgekehrt? Oder hatte Ankamna sie wieder unter seine Kontrolle gebracht? War das die Strafe? Er merkte, dass er im Kopf Dinge durcheinanderbrachte bis nichts mehr einen Sinn ergab. Sein rechtes Bein gab nach, doch jemand war bei ihm, stützte ihn und gemeinsam rannten sie weiter.
Bis Nell blinzelte und wieder besser sehen konnte. Ohne dass er wusste, wann es passiert war, lag er plötzlich auf dem Boden. Shin hatte sich über ihn gebeugt und murmelte etwas vor sich hin. Nell hatte das Gefühl gerade etwas sehr wichtiges gelernt zu haben und er musste es Shin unbedingt sagen. Er hatte tausend Namen und Dinge im Kopf, doch nichts davon ergab Sinn und er war zu schwach um sie Shin alle mitzuteilen.
Shin merkte, dass Nell wach war und lächelte. Es war ein falsches Lächeln, eines dass Nell beruhigen sollte, obwohl es keinen Grund gab beruhigt zu sein.
Nell versuchte etwas zu sagen, aber sein Hals schmerzte.
„Der Bann ist gelöst, warum wird er nicht wieder normal?", fragte Shin und Nell hörte, wie Cian antwortete:
„Er hat das Schattenschwert in seiner menschlichen Gestalt beschworen, ich glaube nicht, dass das so einfach ist die Schäden rückgängig zu machen."
Shin wollte aufstehen, doch Nell schaffte es ihn am Arm zu packen. „Warte, ich bin hier.", sagte Nell und wusste selbst nicht genau was er damit meinte. Er sah in Shins besorgtes Gesicht, sah die Tränen in dessen Augen. Das war doch nichts. Er war schon zweimal gestorben und das hier fühlte sich nicht nach dem Tod an. Trotzdem musste er es sagen, bevor die Erinnerungen zerflossen waren. Also nahm er den Rest seiner Kraft zusammen und sagte: „Ich bin hier, Veil."
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