Bruchstücke Teil 1

Der Mann war nachts aufgetaucht. Veil kannte ihn nicht, hatte ihn noch nie in seinem Leben gesehen, doch seine Eltern begrüßten ihn wie einen alten Freund und gingen dann zu Veil um ihn aufzuwecken. So schnell und leise wie er konnte, schlich er sich den kalten Flur zurück in das Zimmer, das er sich mit seinen Geschwistern teilte, um sich in sein Bett zu legen und so zu tun als würde er schlafen. Ein paar gezwungen ruhige Atemzüge in der Dunkelheit später, legte sich die warme Hand seines Vaters auf seine Schulter und Veil machte ein leises verschlafenes Geräusch.

„Ruhig, weck nicht deine Geschwister. Da ist jemand der dich kennenlernen möchte." Die Stimme seines Vaters klang so ruhig wie sie immer war, doch Veil kannte ihn zu gut, als dass ihm das leichte aufgeregte Zittern darin entgehen konnte.

„Ich bin müde.", antwortete er so müde wie er konnte.

Der Griff der Hand an seiner Schulter wurde fester und sein Vater sagte mit leichter Strenge in der Stimme: „Es ist äußerst wichtig. Für dich und für die Familie."

Veil konnte nichts entgegnen.

„Zieh dir das hier an und komm dann in die Küche.", flüsterte sein Vater zufrieden, legte etwas neben Veils Kopf ab und ging aus dem Zimmer.

Ein paar Atemzüge blieb er liegen und starrte an die dunkle Zimmerdecke, bis eine seiner kleinen Schwestern piepste: „Was ist los?"

„Nichts.", antwortete er halblaut. „Schlaf weiter." Er wartete noch einen Moment, bis er glaubte zu hören, wie das Atmen um ihn herum wieder nach schlafenden Kindern klang und glitt dann leise aus seinem Bett. Er griff nach den Sachen die sein Vater dagelassen hatte und schlich zum mondbeschienenen Fenster um sich dort umzuziehen. Selbst in dem schwachen Licht konnte er erkennen, dass es die beste Kleidung war, die sie ihm Haus hatten. Irritiert zog er sie an. Sie war an den Armen zu lang, doch er wusste, dass es das Wertvollste war was sie besaßen.

So eingekleidet ging er in die Küche. Er musste sich anstrengen normal zu gehen und nicht zu schleichen, wie er es sonst immer tat, wenn er sich des nachts durch das alte Haus bewegte. Die Tür zur Küche war nur angelehnt und schwaches Kerzenlicht fiel in den Flur. Veil blieb davor stehen und lauschte, doch es gab auf der anderen Seite keine Unterhaltung, nur Schweigen. Bis eine fremde Stimme plötzlich sagte: „Warum kommt er denn nicht rein?"

Veil erschrak so sehr, dass er wie aus Reflex einen Schritt machte, die Tür aufstieß und in die Küche trat. Er versuchte sich die Verwirrung darüber, dass er seinen Körper für einen Moment nicht unter Kontrolle gehabt hatte, nicht anmerken zu lassen. „Guten Abend.", sagte er mit einem Lächeln. Sein Blick fiel zuerst auf das Gesicht seines Vaters, in dem für einen Augenblick Angst geschrieben stand. Seine Mutter sah dabei schon gefasster aus und sagte: „Da bist du ja."

Nun sah Veil zu dem fremden Mann, bei dem er sich mit einem Mal nicht mehr sicher war, ob es wirklich ein Mann war. Sicher, er war groß und sah stark aus, aber er war auch schön. Wunderschön und er lächelte Veil mit so viel Zutraulichkeit an, dass dessen Eltern wie zwei graue Flecken hinter dem Fremden verschwanden. „Hallo Veil.", sagte der Fremde. „Ich möchte mich erklären. Ich hatte in den letzten Wochen viel Kontakt zu deinen Eltern und wir sprachen viel über ihre Zukunft und vor allem über deine Zukunft. Was ich dir bieten möchte, ist die Gelegenheit aus dieser Gegend hier auszubrechen. Mein Herr wünscht sich ein Kind und du scheinst mir eine gute Wahl zu sein. Natürlich wird deine alte Familie entsprechend ausbezahlt, immerhin warst du ihr erstgeborener Sohn."

Veil war überwältigt. Von dem Fremden und von dem was er gesagt hatte, von dem er aufgrund seiner wachsenden Nervosität nur die Hälfte richtig aufgenommen hatte. Er starrte vor sich auf den Boden und schaffte es nicht irgendetwas von dem was ihm durch den Kopf schwirrte in Worte zu fassen. Schließlich war dort diese eine Sache: „Ich komme nicht mehr hierher zurück?", fragte er. Der kurze Blick auf seine Eltern verriet ihm, dass dies nicht das gewesen war, was sie sich von ihm zu hören erhofft hatten. Sie hatten Angst, auch wenn sie es hinter entschuldigenden Gesten zu verstecken versuchten.

Doch der Fremde zeigte keinerlei Anzeichen für eine Reaktion vor der man Angst haben sollten. Er ging in die Hocke, so dass er mit Veil auf einer Augenhöhe war und suchte dessen Blickkontakt. Dann sagte er: „Nein, niemals und du solltest dich glücklich schätzen."

Der Blick in diese warmen Augen, die eine ungewöhnliche goldene Farbe hatten, nahm Veil gefangen und überzeugte ihn von der Wahrheit der gesprochenen Worte. Was gab es hier schon, dass ihn halten konnte. Alles was er hier tat, war zu arbeiten, zu stehlen, zu hungern. Der betäubende und beflügelnde Gedanke traf ihn, dass seine Eltern nur das Beste für ihn wollten, auch wenn sie ihn dafür gehen lassen mussten.

Wie zur Bestätigung, nahm der schöne Fremde Veils Gesicht zwischen die Hände und meinte mit einem Lächeln: „Du solltest dankbar sein."

Wirklich?, dachte Veil. Doch als er den Mund aufmachte um seine Zweifel auszusprechen, waren sie plötzlich wie weggeweht und er sagte: „Ja." Und er dachte: Ja.

Und der Fremde nahm ihn mit. Ohne an Abschied zu denken, folgte Veil ihm. Sie verließen das alte, zerfallende Haus und gingen die schmale Gasse hinunter, die nach Feuchtigkeit und menschlichen Ausscheidungen roch. Etwas, dass Veil in dieser Nacht so bewusst wahrnahm wie noch nie und er badete sich in dem euphorisierenden Gedanken das alles hinter sich zu lassen. Am Ende ihres Weges, als sich die Gasse mit einer der größeren Straßen kreuzte, wartete eine Kutsche auf sie, die von einem Kirin gezogen wurde. Veil blieb erschrocken stehen, er war einem solchen Wesen noch nie so nahe gewesen. Noch dazu fiel ihm auf, dass es keinen Kutschbock gab und niemand der diese zu steuern schien. Seinem Begleiter entgingen Veils stumme Fragen nicht und mit einem sanften Lächeln, sah er zu ihm hinunter und sagte: „Kirin sind sehr intelligent, sie brauchen niemandem, der ihnen sagt in welche Richtung sie gehen müssen."

Das Geschöpf drehte ihnen seinen gehörnten Kopf zu und es bedachte Veil mit einem bedeutungsvollen Blick. Der Junge starrte perplex zurück.

„Steigen wir ein.", meinte sein Begleiter und öffnete die Tür zu der überdachten Kutsche. In diesem Moment, in dem er sich abwandte und Veil noch immer den Augenkontakt mit dem Kirin hielt, warf das Wesen plötzlich stumm seinen Kopf zur Seite. Einmal, Zweimal, als wollte es Veil dazu animieren sich von der Kutsche zu entfernen. „Komm, steig ein.", sagte der Fremde noch einmal und Veil folgte ihm in das Innere der Kutsche.

Bisher hatte er diese Gefährte immer nur von außen gesehen und schon gar nicht in der Nähe dieser Gegend. Zwar waren Verkehrsmittel die über Dampf liefen weit verbreitet, aber die Leute die es sich leisten konnten, fuhren immer noch mit Kutschen durch die reichen Teile der Stadt.

Das Innere der Kutsche bestand aus zwei gegenüberliegender Bänke, die mit rotem Stoff gepolstert war. Veil wurde die Bank in Fahrtrichtung zugewiesen, wofür er sehr dankbar war. Sein Begleiter setzte sich ihm gegenüber. Erst jetzt, als sie sich gesetzt hatten und die Kutsche sich wie auf Kommando in Bewegung setzte, bemerkte Veil, dass sich noch jemand hier befand. Es war ein Tier, ein Fuchs. Er saß auf der Bank neben Veils Begleiter und trug ein schmales goldenes Halsband. Der Fuchs hatte bis eben stillgehalten, so dass Veil ihn zunächst nicht bemerkt hatte, doch nun wandte das Tier sich dem Mann neben ihm zu und legte seinen Kopf auf dessen Oberschenkel. Der Mann streichelte ihm abwesend mit der Hand über den kleinen Kopf, während er seine Aufmerksamkeit Veil zuwandte und es anscheinend nicht für notwendig hielt, den Fuchs zu erwähnen. „Ich möchte mich vorstellen, da wir uns in nächste Zeit sehr häufig sehen werden. Mein Name ist Ankamna.", sagte Ankamna.

Veil runzelte leicht die Stirn. „Anka...mna?", sprach er den fremden Namen vorsichtig aus.

Ankamna nickte. „Es ist ein sehr alter Name und mag ungewöhnlich für dich klingen, aber du wirst dich daran gewöhnen, lass dir einfach Zeit. Aber bevor ich dich bei meinem Herrn vorstellen werde, müssen wir dich anders einkleiden." Er deutete vage in Veils Richtung.

Dieser sah in dem Licht der Kutsche an sich herab. Die Kleidung die er trug war leicht verstaubt und Lack blätterte von den Knöpfen ab. Außerdem saß sie nicht richtig und im Kontrast zu dem Stoff der Sitzbank auf der er sich befand und der Aufmachung von Ankamna, wirkte alles noch viel schlimmer. Doch dies war immerhin die Kleidung die er von seiner Familie bekommen hatte und der Gedanke an sie wog mit einem Mal schwer auf ihm, als würde er aus einer Benommenheit auftauchen. „Ich...ähm...", stotterte er.

Und Ankamna tat es wieder. Er beugte sich nach vorne und fasste Veil unters Kinn, um dessen Blick in seine Richtung zu wenden. Als ihre Augen sich trafen sprach er: „Es sind nur Kleider. Du willst doch schön aussehen, wenn du auf deine neue Familie triffst."

„Ja.", bestätigte Veil und dachte es auch.

Sie stiegen aus der Kutsche aus und gingen über die Straße hinein in eine kleine und edle Boutique. Die ausgehangenen Kleider und die glänzende Möblierung, steigerten Veils aufgezwungenes Gefühl, dass die Kleidung die er von seinem Vater bekommen hatte, nicht gut genug war. Dem abwertenden Blick des Verkäufers ausgesetzt, versuchte er sich so wenig wie möglich zu bewegen, hinter Ankamna zu bleiben und auf den Boden zu starren. Bis er schließlich den Umkleidebereich gewunken und neu eingekleidet wurde. Veil sah sich danach überrascht im Spiegel an, während sein Begleiter die Bezahlung tätigte.

„Sollen wir ihnen die alten Kleider einpacken?", fragte der Mann.

Ankamna schüttelte den Kopf: „Nein, sie können sie entsorgen."

Veils Blick wurde starr, als er die Worte mitbekam und sein Herz begann vor Aufregung schneller zu schlagen. „Entschuldigung.", sagte er. „Kann ich sie nicht behalten?"

„Es tut mir leid.", entgegnete Ankamna. „Aber sie sind schmutzig."

„Oh...", machte Veil und seine Stimme versagte. Noch mehr Widerworte wollte er nicht sprechen, obwohl er für einen Augenblick gewillt war zu sagen: Aber ich bin auch schmutzig. Doch er schluckte es hinunter und versuchte es bei seinen alten Kleidern zurückzulassen, als er mit seinem Begleiter zurück zu der Kutsche ging.

Während der restlichen Fahrt versuchte er herauszufinden, wo sie sich befanden. Der Laden in dem sie gewesen waren, war ihm nicht bekannt vorgekommen, doch draußen war es zu dunkel um etwas zu erkennen an dem er sich orientieren konnte. Irgendwann, als Veil schon fast dabei war einzunicken, sagte Ankamna: „Wir sind da." Und kurz darauf wurde die Kutsche langsamer und blieb stehen.

Ankamna öffnete die Tür und winkte Veil hinaus, der Fuchs folgte ihnen. Sie befanden sich dem weitläufigen Außenbereich eines Anwesens, dass selbst für reiche Bewohner dieser Stadt zu viel Platz bot. Veil sah sich irritiert um, sein Blick schweifte über den gepflasterten Weg, auf dem sie sich befanden, und über den malerischen Garten, der durch kleine Gaslaternen beleuchtet war. Er brauchte einen Moment, bis er erkannte, dass dies hier eigentlich nur ein Grundstück sein konnte. Ausschlaggebend waren die spitzen Türme des riesigen Gebäudes und die hohen Mauern, die mit rostigen Stacheln gekrönt waren. Mauern, die Veil nur von außen kannte. „Das hier ist der Palast des Regenten."

„Richtig. Mein Herr ist der Mann der über diese Stadt herrscht.", sagte Ankamna. „Und er wird dich bei sich aufnehmen."

Sie gingen den Weg zum Eingang des Palastes, der für Veil mit jedem Schritt besser zu sehen war, größer wurde und als sie angekommen waren, den ganzen Nachthimmel über ihm bedeckte. Der Junge blieb stehen. Aber nur für einen Moment. Lange genug um durchzuatmen, kurz genug, damit es Ankamna nicht negativ auffiel. Dann beeilte er sich ihm und dem Fuchs hinterherzukommen.

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Später saß er auf dem großen Bett in einem leer wirkenden Zimmer, das von nun an ihm allein gehören sollte. Der Herr war nett und freundlich und noch schöner als Ankamna und Veil hatte in seiner Anwesenheit all seine Sorgen vergessen. Es war nur eine kurze Zeit gewesen in der sie sich getroffen hatten, da es schon so spät war, doch Veil sollte ihn morgen wieder treffen. Wenn er nun versuchte sich an ihr Gespräch zu erinnern, schien sein Innerstes verschoben. Alles an das er sich erinnerte, war von einem Gefühl der Benommenheit und des Glücks überlagert. Selbst das was ihm nicht gefallen hatte. Oder was ihm nicht hätte gefallen dürfen.

Die schlechten Sachen.

Aber

da war doch gar nichts.

Er keuchte plötzlich vor Schmerz auf und zuckte zusammen. Ein Rinnsal von Blut lief an seiner Schulter hinunter. Unbewusst hatten sich die Fingernägel seiner rechten Hand in das Fleisch an der linken Schulter gegraben. Sie hatten rote Abdrücke und Blut hinterlassen. Er wischte es ab und zog das Oberteil seines Schlafanzuges an. Selbst dieses roch nach Blumen und frischer Sommerluft. Veil löschte das Licht und stand dann in der Stille und Dunkelheit seines Zimmers. Kein einziges Geräusch war zu hören und die Fenster ließen sich nicht öffnen. Niemand anderes war hier. Er konnte nicht das Atmen seiner Geschwister hören, dem er so viele Nächte hatte lauschen müssen. Es gab auch kein gedämpftes Gespräch seiner Eltern im Nebenzimmer. Es war einfach nur still.

Zuerst lachte er. Es war ein glückliches Lachen, doch dann grub sich seine Hand wieder in seine Schulter und erlaubte dem Schmerz ihn wieder zurückzuholen. Tränen liefen über sein Gesicht und Veil kroch in das große weiche Bett, das sterile Kälte ausstrahlte. Wenn er seinen Kopf richtig in der Bettdecke vergrub, hörte sich sein eigener Atem lauter an. Als würde dieser zu jemand anderem gehören, als wäre noch jemand hier.

Als wäre er wieder zuhause.

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