Bestrafung
Erinnerst du dich an den schrecklichsten Schmerz den du jemals hattest? Bestimmt. Jeder erinnert sich an den Moment an dem man auf dem Boden liegt, die Hand so fest es geht darum geklammert, als könnte man den Schmerz mit diesem Druck irgendwie lindern. Doch es bohrt sich tief hinein in deinen Körper, bis in die Gedanken. Daran erinnern wir uns, doch der Schmerz selbst rückt in Vergessenheit.
Nell konnte sich an jeden einzelnen Stich, jedes Ziehen und jeden Schnitt erinnern. Es hatte den einfachen Grund, dass er zwar den Schmerz spüren konnte, aber dieser keinen Reaktionszyklus in seinem Körper auslöste. Deswegen kannte er den Schmerz selbst. Rein und unverzerrt. Genau damit hatte er es jetzt zu tun. Es störte ihn kaum, es war nur faszinierend auf welche Art es sich in seinem Körper verteilte. Langsam kroch es durch seine Adern wie eine Flüssigkeit, nein, wie etwas das wuchs. Das Einzige das wirklich ärgerlich war, war dass sein Körper schwach war. Es war etwas das in der Luft war, das Wachstum dieses Dings in ihm beschleunigte und seine Sinne in einen Watteschleier hüllte. Er musste sich anstrengen überhaupt wach zu bleiben, so sehr, dass er sich nicht dagegen hatte wehren können. Der Größere der beiden Gestalten war ohne Zögern auf ihn zugegangen, hatte ihm das Ding in den Mund gesteckt und er hatte es schlucken müssen. Jetzt wuchs es in ihm heran. Jeder Versuch es wieder auszuspucken war vergeblich gewesen.
„Es ist durchaus faszinieren.", kommentierte die zierlichere Gestalt. „Es spürt den Schmerz, aber es scheint sich mehr darüber zu ärgern, als zu leiden."
So etwas musste er sich nicht bieten lassen. Was sollte dieser abfällige Tonfall? Er war an einem fremden Ort aufgewacht, hatte eine wirklich unwürdige Behandlung bekommen und niemand schien es für notwendig zu halten ihm etwas zu erklären. Mit zitternden Gliedmaßen, schaffte er es sich zu erheben und einen Schritt auf die beiden fremden Gestalten zuzumachen.
„Ankamna.", sagte der zierlichere von beiden und sofort sprang der andere auf Nell zu und boxte ihm in den Bauch. „Nicht so grob.", riet die Stimme wieder.
Doch Ankamna hörte kaum darauf, als er Nell auf den Boden drückte und ihm beide Klauenhände festhielt. „Nur ein Laut und du wirst tot sein.", flüsterte er.
Nell verstand sofort. Dieser Mann war keiner dieser Idioten die, einmal an der Macht, damit herumwedelten und es allen zeigen wollten. Dieser Mann hier wusste was es bedeutete gar nichts zu haben und damit immer noch mehr zu erreichen als jemand der über alle Mittel verfügt. Er würde ohne zu Zögern töten. Nell biss die Zähne zusammen und nahm einen bekannten Geruch wahr. Nicht das Schimmern ihrer Augen erinnerte ihn nur im Entferntesten an das Gold von Shin. Ihre Augen waren kalt, die Augen des Inkubus waren glühend. Außerdem war es auch nicht der Geruch der ihn an Shin denken ließ, jemand anderes war es. Es klebte an dem Mann der ihn so einfach überwältigt hatte, wie eine Markierung. „Du riechst nach Fuchs.", sagte Nell und blickte Ankamna in die Augen, der für einen kurzen Moment überrascht wirkte, aber dann wieder zu seinem kalten Selbst zurückkehrte.
„Anstatt so zu tun als hättest du alles unter Kontrolle, könntest du Fragen stellen. Hast du keine Fragen?", die andere Gestalt kam näher und beugte sich ein Stück über den bewegungslosen Nell. „Wer seid ihr? Was habt ihr vor? Was ist das für ein Ort? Warum tut-", begann er, doch wurde jäh von Nell unterbrochen, als dieser stattdessen fragte:
„Was ist das in meinem Körper?"
Das hübsche Gesicht über ihm lächelte. „Du willst nichts über uns wissen?"
„Es interessiert mich nicht! Es hat mich noch nie interessiert wer die anderen sind. Das einzige was jetzt wichtig ist, ist was das in meinem Körper ist!", er schrie fast. Jedenfalls fühlte es sich für ihn so an. In Wahrheit war er schon so schwach, dass seine Stimme nur noch ein leises Krächzen war.
„An einer Person scheinst du jedoch ziemliches Interesse gefunden zu haben. Etwas zu viel des Guten wenn ich das so sagen kann.", ein Seufzen als er sich von Nell wegdrehte. „Mir scheint mein Kind hat dich in seinen Bann gezogen und wir haben dir etwas gegeben, das deinen Körper davon reinigt. Es wird also auch dir zugutekommen. Aber glaube nicht, dass es damit vorbei ist denn du hast einen von uns schwer verletzt. Du wirst deine Strafe erhalten, Abkömmling des stummen Chaos." Und plötzlich kniete er vor Nell. Die goldenen Augen bohrten sich in seinen Geist. Irgendwo in der Tiefe von Nells Bewusstsein regte sich eine Finsternis, versuchte sich gegen den Blick zu stemmen, doch wurde verdrängt und Nell spürte wie nach der Stärke seines Körper, ihn jetzt auch langsam sein Bewusstsein im Stich ließ.
Nell erwachte aus dem Schlaf. Sonnenstrahlen stahlen sich durch die Lücken im Rollladen und tränkten das Zimmer in mattes, unwirkliches Licht. Nell blinzelte und sah den Staubpartikeln zu, die träge in der Luft hingen, langsam in die Schatten des Raumes schwebten und dort verschwanden. Er blinzelte erneut. Er war eindeutig in seinem Zimmer, dabei war er gerade noch, ja, wo war er eigentlich gewesen. Hellwach setzte er sich in seinem Bett auf und dachte darüber nach. Es war ein seltsamer Ort gewesen. Prüfend lauschte er in seinen Körper und konnte nichts verdächtiges mehr spüren, das Ding darin war verschwunden. Erleichtert zog er seine Knie an und legte seinen Kopf darauf, während er über das andere Problem nachdachte: Nämlich Shin. Soweit er bemerkte, hatte sich nichts von seinen Gefühlen zu ihm verändert. Wahrscheinlich war die Begegnung mit den beiden Fremden doch nur ein nerviger Traum gewesen. Als er sich dessen vollkommen sicher war, stützte er sich mit dem Arm ab um aus dem Bett aufzustehen, doch irgendetwas war nicht in Ordnung. Er fand keinen Halt, rutschte von der Matratze ab und stolperte zu Boden. Verwirrt, weil ihm das noch nie passiert war, sah er sich in seinem Zimmer um und war froh, dass er allein war. Er hob eine Klaue um sich am Rand des Bettes abzustützen und erschauderte. Sein Blick fiel nicht auf eine schwarze Klauenhand, sondern auf die zarten Finger eines Menschen. Entgeistert zog er seine Hände zu sich und starrte darauf, es waren die fleischigen Finger eines Menschen, keine Krallen und Schuppen. An der Innenseite seiner Handgelenke waren rote Schriftzeichen angebracht die er nicht lesen konnte. Menschliche Hände. Schwache Hände. Nell schluckte seine Angst hinunter und stand auf, ohne seine unbekannten Hände zu benutzen, stattdessen hielt er sie von sich weg wie einen Fremdkörper. Sie waren viel zu schwach. Eigentlich hatte er immer aufpassen müssen nichts kaputt zu machen und wenn er jetzt den Druck damit ausübte, den er sich antrainiert hatte, konnte er nicht einmal richtig zugreifen. „Das ist nicht richtig.", flüsterte er zu sich selbst und setzte sich wieder auf sein Bett, die falschen Hände von sich gestreckt. Es fühlte sich auch falsch an, denn wenn er etwas berührte war es als wären seine Hände wund und offen und alles fühlte sich dadurch nach mehr an. Vorsichtig strich er mit den Fingern über die Matratze seines Bettes und tausende Sinneseindrücke strömten in ihn hinein. Aufregend und Beängstigend zugleich.
Irgendwann hielt er es nicht mehr aus und biss sich mit den Spitzen Zähnen das Handgelenk auf. Vielleicht hörte es endlich auf, wenn er diese Schriftzeichen kaputt machte. Dann könnte er seine Krallen zurück haben und müsste sich nicht mit diesem abartigen Tastsinn auseinandersetzen. Doch was er tat war ein schrecklicher Fehler, denn alles was er damit erreichte, war Blut das jetzt auf den Fußboden tropfte. Verzweifelt versuchte er die offene Wunde mit der unverletzten Hand zu bedecken, doch das Gefühl des dagegen drückenden Blutes und dem Pochen der Adern, ließ seine Hand fast sofort wieder in die Höhe schießen. Noch mehr Blut tropfte auf den Boden und Nell spürte wie seine Arme zitterten, war es normal? Verwirrt sprang er auf und rannte zu der Zimmertür. Er brauchte einen dieser Leute die sich um Verwundungen kümmern konnten. Er streckte die unverletzte Hand zum Türgriff aus, schaffte es aber nicht sie richtig darum zu schließen, sondern rutschte mit dem glitschigen Blut ab und knallte mit dem Kopf gegen die Tür. Dieses Mal versuchte er nicht sich sofort zu erheben, sondern blieb mit dem Kopf gegen die Tür gedrückt stehen und atmete langsam ein und aus. Er musste sich beruhigen. Es konnte nicht sein, dass eine solche Kleinigkeit wie seine Hände und ein Biss ihn so sehr aus dem Konzept brachten. Langsam aber sicher ging es ihm wieder besser und mit aller Konzentration die er aufbringen konnte, legte er die Hand an den Griff und öffnete die Tür. Benommen schlich er sich auf den Flur und sah sich misstrauisch um. Niemand war in Sichtweite, wahrscheinlich waren sie alle im Unterricht oder genossen das sonnige Wetter draußen im Hof. Also wo sollte er jetzt am besten hingehen? Amelia kam nicht in Frage, sie war ihm nicht mehr ganz geheuer und auf die Krankenstation konnte er auch nicht mehr gehen, denn vielleicht war da noch Shin und das konnte er jetzt gar nicht gebrauchen. Dann fiel es ihm ein: Das Gewächshaus! Dort könnte er dann auf Ren warten, der ihm die Wunde versorgen konnte.
Also schlich er sich durch die Schule zu dem Gewächshaus, stets darauf bedacht, keinem anderen Schüler der Loup Parole zu begegnen. Doch als er dann vor der Tür zum AG-Raum stand, hielt er plötzlich inne. Etwas fiel ihm ein. Es war Rens Geruch an diesem Ort, in seinem Traum. Das eine von diesen Wesen, hatte nach Ren gerochen. In Nell baute sich Zweifel auf, ob er Ren wirklich vertrauen konnte, was wenn er mit diesen Wesen in Verbindung stand? Aber was spielte es denn auch für eine Rolle? Nell rief sich selbst zur Vernunft. Es war einfach Ren zu kontrollieren, also würde er ihn auch einfach wieder dazu bringen zu tun, was er sagte. Entschlossen betrat er das Zimmer.
Wie zu erwarten, war niemand hier. Nell sah sich glücklich um und atmete die vertraute Luft. Ja, dieser Ort war richtig. Vorsichtig strich er mit den Fingern über die Blätter einer Pflanze, spürte wie das Gefühl bis in seine Knochen vordrang. Diese Hände hatten ihre Vorteile, aber er kam einfach nicht damit zurecht. Verzweifelt fragte er sich, wie größere Kreaturen es nur aushalten konnten, den ganzen Tag in menschlicher Gestalt herumzulaufen.
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