Also sprach Lelio

Als Shin wieder aus der Krankenstation entlassen wurde und in den Schulalltag zurückkehrte, kam es ihm so vor als wäre er schon Ewigkeiten an der Loup Parole. Alles wirkte vertraut und er ließ sich glücklich auf sein eigenes Bett fallen. Überrascht stellte er fest, dass das Zimmer ordentlich war. Auf dem Boden lagen keine Gegenstände mehr herum und es sah aber auch nicht danach aus, als wäre Ren ausgezogen. Er hatte einfach nur aufgeräumt. Ob er das öfters macht, oder ob es daran lag, dass er jetzt einen Mitbewohner hat, fragte sich Shin. Aber wie immer, war Ren nicht hier um danach gefragt zu werden. Shin zuckte nur mit den Schultern, ihm war die Privatsphäre nur recht. Eine Woche auf einem Krankenzimmer, in dem einmal in der Stunde jemand nach einem sah, hatte ihn ziemlich angestrengt. Wie sollte man sich als Inkubus entspannen, wenn man nicht einmal an sich selbst Hand anlegen konnte? Es war schon schrecklich wenn man ein paar Tage niemanden hatte mit dem man eine intime körperliche Nähe genießen konnte. Man brauchte es einfach und Shin stellte mit einem Schaudern fest, dass er an dieser Schule noch mit niemandem Sex gehabt hatte. Im Kopf stellte er sich eine Liste auf wen er bis jetzt am attraktivsten fand. Ankamna rutschte aufgrund anatomischer Schwierigkeiten auf den letzten Platz. Nell wurde zögernd auf Platz zwei gesetzt (er hatte zwar versucht ihn umzubringen, war aber immer noch attraktiv). Balgir wurde zu Nummer Drei. Überraschender Weise war der einzige Kandidat für den ersten Platz Ren. Shin dachte kurz darüber nach und bestätigte es innerlich. Es hatte zwar noch keine erotischen Momente mit ihm gegeben, wenn man die Ohrfeige nicht dazu zählte, aber eigentlich sah Ren ziemlich gut aus und war sogar etwas kleiner als er selbst. Shin lag jetzt mit dem Rücken auf seinem Bett und gestikulierte auf dramatische Weise zur Zimmerdecke und sagte im ernsten Ton: „Wenn ich mir meinen eigenen Harem anlege, darfst du meine erste Frau sein."

„Das ist nett.", antwortete Ren, der in diesem Moment das Zimmer betrat. „Es geht dir wieder gut.", stellte er fest, ohne weiter auf das Gesagte einzugehen.

Shin sah ihn misstrauisch an, bevor er meinte. „Ja... wer hat gesagt, dass ich eben dich gemeint hab."

Sein Mitbewohner lächelte. „Ich dachte es wäre ein gelungener Fortschritt in unserer Beziehung, aber ich hab mich wohl getäuscht."

„Du redest komische Sachen."

„Du hast angefangen."

„Na gut." Shin kniff die Augen zusammen. „Wer ist attraktiver: Eine männliche Version von Amelia, oder Balgir?"

Überraschender Weise schien Ren ernsthaft darüber nachzudenken. „Hm.", machte er schließlich. „Eindeutig Amelia als Mann."

„Findest du?", Shin setzte sich auf.

„Hör mal.", Ren wirkte mit einem Mal nervös. „Es tut mir Leid was passiert ist. Wenn ich nur früher da gewesen wäre, wäre es nicht passiert. Ich dachte erst du würdest es nicht überleben. Ich kann mir gar nicht vorstellen was wir ohne Cers gemacht hätten."

Shin zuckte mit den Schultern. „Ist egal."

„Aber du bist..."

„Wirklich.", Shin lächelte. „Ich glaube jetzt ist alles wieder in Ordnung. Ich bin auch nicht wütend auf dich. Glaub mir, ich würde es gerne sein, aber es klappt einfach nicht. Macht ja sowieso keinen Sinn."

Ren wurde misstrauisch. „Bist du sicher, dass mit dir alles in Ordnung ist?"

„Mhm." Er merkte wie seine Hand leicht anfing zu zittern, legte sich schnell wieder hin und drehte den Rücken zu Ren. „Ich schlaf noch ein wenig, bin noch vom Unterricht freigestellt."

Ein schlechtes Gewissen regte sich in Ren. Es war ein ungewohntes Gefühl und er verstand nicht damit umzugehen, doch es verleitete ihn dazu, Shin zu sagen: „Ähm, wenn etwas ist kannst du gerne mit mir darüber reden. Wir sind immerhin Mitbewohner."

„Hm.", machte Shin.

„Ich muss jetzt zur AG. Nell ist übrigens unter Arrest gestellt, hab ihn seit dem Tag nicht mehr gesehen."

„Hmpf.", grummelte Shin. „Was ist mit Cers?"

„Ist verschwunden.", erwiderte Ren, während er ein paar Sachen zusammenpackte. „Vielleicht kommt er wieder zurück, wenn er die menschliche Gestalt angenommen hat. Es fällt ihm sehr schwer. Ich bin dann weg." Und damit zog er die Tür hinter sich zu.

Ich hab ihn gar nicht die wichtigen Sachen gefragt. Ich wollte doch wissen was ich bin und warum mein Blut keine Wirkung auf Ren gehabt hat.

Shin seufzte und rollte sich wie eine Katze zusammen. Er konnte so nicht richtig denken. Wenn er zu lange ohne Körperkontakt war, fühlte sich die Welt viel zu groß an. Bevor er als Teenager angefangen hatte sein Sexualleben zu erkunden, war es einer der Mitgründe gewesen, warum er sich immer so zurückgezogen hatte. Draußen wurde die Welt seltsam. Er fing langsam an zu versinken und sehnte sich nach etwas an dem er sich festklammern konnte. Er hatte einmal mit seinem Cousin über dieses Gefühl reden wollen, aber er hatte gemeint bei ihm wäre es anders, mehr wie Hunger. Immerhin ernährten Inkubus und Sukkubus sich von sexueller Energie. Vielleicht hatte er schon damals gemerkt, dass etwas an all dem nicht stimmen konnte. Er schien es nur immer wieder zu vergessen, wurde nur daran erinnert, wenn das Gefühl wieder einsetzte. Er wollte herausfinden was es war, aber immer wenn er es aushielt und es ergründen wollte, bekam er es früher oder später mit der Angst zu tun.


„Also!", sprach Lelio, als er sich sicher war, dass alle wichtigen Personen eingetroffen waren. Trotzdem fragte er noch einmal nach: „Sind alle wichtigen Personen eingetroffen?"

Seine beiden einzigen Zuhörer nickten und Lelio konnte ganz genau sehen, wie Balgir die Augen verdrehte und Ren seine Augen nicht einmal von seinem Buch abwandte.

„Leute, das hier ist wichtig!", rief er theatralisch, wandte sich von seinen Mitschülern ab und fing stattdessen an mit einer der vielen Topfpflanzen zu reden. „Lange mussten wir fliehen, uns verstecken und die die nicht schnell genug waren, hatten unter der grausamen Hand des Tyrannen zu leiden. Man denke nur an unseren lieblichen Gefährten, den jungen Ren den wir hier zurücklassen mussten. Viele Monate musste er den Sklaven des schrecklichen Bellefleurs abgeben und nun..."

Ren unterbrach ihn, indem er sein Buch laut zuklappte und es nach Lelio warf. Dieser fing es jedoch in der Luft auf und sah auf das Cover. „Die Chroniken der Düsterwelt: Schmutziges Verlangen. Der Erotik-Bestseller! Die Abgründe der Emily Grau.", las er vor, hob die Augenbrauen und warf einen Blick in das Innere der literarisch wertvollen Lektüre: „...beugte sie sich über seinen müden Körper. Ihre sinnlichen Lippen öffneten sich und tasteten sich langsam über die raue Haut. Er schmeckte nach Schweiß und Männlichkeit. Als er ihre Berührung spürte, durchfuhr eine wohlige Aufregung seinen ganzen Körper. Er streckte die Hand aus und strich mit seinen Fingern durch ihre seidigen Haare. Er konnte ein Stöhnen nicht unterdrücken, verlangte nach mehr, zog sie zu sich und..."

„Ren warum hast du ihm das gegeben? Jetzt liest er das ganze verdammte Buch vor und warum hast du so was überhaupt!?", beschwerte sich Balgir laut.

Ren wirkte etwas betroffen. „Das... ähm, kam unerwartet. Ich hab es zufällig zwischen den Sachen von meinem Mitbewohner gefunden, ist wirklich nicht meins."

„Oh bei Lucifer. Mach das er aufhört.", Balgir vergrub das Gesicht in den Händen und wurde rot. „Ich hab fürs erste genug von erotischen Anwandlungen."

Ren verstand schon, woher der Wind wehte, doch konnte er Balgir nicht darauf ansprechen, denn sonst müsste er ihm verraten, dass er sich in Nell verwandelt hatte. Lelio war derweil zu der Szene seines Akts gekommen, in der sehr viele beschreibende Umschreibungen wie „Härte", „feucht" und „eindringen" eine wichtige Rolle spielten, doch Ren unterbrach ihn, indem er eine Hand hob und aufzeigte. „Ren, du möchtest etwas dazu beitragen?", nahm Lelio ihn sofort dran.

„Worüber haben wir vorhin geredet? Bevor du angefangen hast alleine ein pornographisches Theaterstück aufzuführen.", erkundigte er sich.

„Ach ja!", Lelio legte das Buch zur Seite, streckte eine Hand aus und strich mit den Fingern durch sein seidiges Haar. „Ich kündige hiermit ein neues Zeitalter der Botanik-AG an. Der Tyrann ist abgetreten. Die offizielle Einteilung unserer Zeitalter lautet: Das Zeitalter vor Nell, dann das Zeitalter unter Nell und schließlich: Das Zeitalter unter der Gnade, das Nell unter Arrest verbringt und uns nicht mehr terrorisieren kann. Derzeit sind nur wir drei hierher zurückgekehrt. Also berichte, junger Fuchs. Wie war es, das große Zeitalter unter Nell?"

Ren zuckte mit den Schultern. „War ok. War ganz nett, weil immer weniger Leute kamen. Ich glaube die sind auch alle offiziell ausgetreten. Was ist eigentlich mit euch beiden?"

„Ich brauch die Punkte.", sagte Balgir.

„Ich auch.", gab Lelio zu. „Aber das heißt nicht, dass wir hierbei keinen Spaß haben können!"

„Spaß...", wiederholte Balgir mit einem Blick, der vor allem der Klinge einer Heckenschere galt. Dann sah er nachdenklich zu Ren. „Seit wann hast du eigentlich einen Mitbewohner?"

„Seit ein fast zwei Wochen. Er ist der, der fast von Nell umgebracht wurde, ist ein Inkubus." Ren lächelte, als er sah wie das Gesicht des jungen Dämons noch mehr einfror. Natürlich konnte es sich nur um diesen einen Inkubus handeln. Balgir kratzte sich Geistesabwesend an einem seiner Hörner und merkte nicht wie die Nachricht nach einem Inkubus Lelio zu begeistern schien.

Er beugte sich über den kleinen Arbeitstisch und gab Ren in einem das Buch zurück. „Ein echter Inkubus? Kein Wunder, dass er solche gehobenen Werke schmökert. Aber wie landet jemand wie er an der Loup Parole?", Lelios Blick veränderte sich.

Ren beobachtete das beunruhigende Glitzern in seinen Augen mit wachsendem Misstrauen. „Ich hatte noch keine Gelegenheit ihn danach zu fragen.", meinte er vorsichtig.

„Du musst ihn mir unbedingt vorstellen."

„Nein das glaube ich nicht.", entgegnete er. „Ich stelle ihn lieber nicht mehr gefährlichen Personen vor. Nell war vorerst genug für ihn."

Sie starrten sich einige Sekunden an, bis Lelio schließlich sagte: „Wie du meinst.", sich abwandte und die Botanik-AG wieder ihren Pflichten nachging.

Wer bei diesen Pflichten an etwas dachte, das mit Pflanzen zu tun hat, lag ziemlich falsch. Zwar das ganze Gewächshaus mit Pflanzen zugestellt, aber sich tatsächlich um diese zu kümmern, beanspruchte für drei Leute nicht einmal eine halbe Stunde ihrer Zeit. Die restlichen zwei Stunden verbrachten sie damit herumzuhängen und so zu tun als wären sie eine effektive Arbeitsgemeinschaft. Lelio und Ren versuchten sich gegenseitig beim Kartenspiel über den Tisch zu ziehen und Balgir hatte angefangen die Chroniken der Düsterwelt zu lesen.

Als Ren später am Tag in sein Zimmer zurückkam, musste er feststellen, dass Shin sich nicht mehr darin aufhielt. Vielleicht war er duschen gegangen. Ohne sich weiter damit zu beschäftigen, begann Ren damit sich auszuziehen. Es war sehr anstrengend den ganzen Tag unter einem Schleier von Magie zu verbringen und Ren nutzte die Gelegenheit mal allein zu sein und löste den Zauber den er über sich selbst gelegt hatte. Er fuhr sich mit der Hand über den Nacken und spürte die Unebenheit seiner vernarbten Haut. Bestimmt kein schöner Anblick, überlegte Ren, der es seit langem vermied es sich im Spiegel anzusehen. Plötzlich hörte er, wie jemand nach Luft schnappte. Sofort stabilisierte Ren den Zauber wieder und sah sich hektisch in dem Zimmer um. Doch niemand war hier. Nein. Ren gab ein bedrohliches Knurren von sich, als sein Blick prüfend über jeden Kubikzentimeter des Raumes glitt. Niemand schien hier zu sein...

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top