Challenge 2: Oneshot "Politik"
An Bäumen und Laternen hingen noch die nassen, abgerissenen Überreste der Wahlplakate, wie kleine, matschige Gespenster. Ein paar von ihnen grinsten ihr mit dem Lächeln von Ludo Abendstern zu und verfolgten sie mit ihrem Blick. Der neue Bürgermeister war überall, aufdringlich, unausweichlich.
Michiko wäre um ein Haar gestolpert, als sie den verwaschenen Blick verärgert erwiderte und sah wieder auf die Straße. In wenigen Minuten hätte die Kitsune genug Gelegenheit, Ludo missbilligend zu beobachten, und das auch noch in Person - und hoffentlich ohne zu stolpern. Sie hatte vor, einen tadellosen ersten Eindruck zu machen.
Sie konnte noch immer nicht ganz begreifen, wie ausgerechnet Ludo Abendstern die Mehrheit der Einwohner Rosdorfs für sich gewinnen konnte… Er war nicht nur so wortgewandt oder gar sozial wie ein Oger, er war tatsächlich eines dieser missgestalteten, menschenfressenden Wesen, was dem menschlichen Teil der Bevölkerung ohne Frage ein Dorn im Auge war. Doch ebendieser menschliche Teil der Bevölkerung hatte sich nie in Ortschaften wie Rosdorf angesiedelt und so war es nicht verwunderlich, dass das Rathaus nicht just in diesem Augenblick von besorgten Eltern und verschreckten Schülern gestürmt wurde.
Mit schnellen Schritten überquerte sie den Marktplatz und hielt auf das Rathaus, ein großes Backsteingebäude mit grünen Fensterläden zu. Auch die Tür war grün gestrichen, doch an einigen Stellen blätterte der Lack ab und gab die unzähligen Schichten an Farben preis, die Generationen von Bürgermeistern zurückgelassen hatte. Ein wahrhaft historischer Regenbogen. Wie würde Ludo die Tür wohl anstreichen? Braun? Würde er den Lack vielleicht sogar ganz entfernen? Das sähe ihm ähnlich, dem Ikonoklasten… dass jemand wie er nach dem St. Torje-Vorfall überhaupt noch zur Wahl zugelassen wurde, war ein Sakrileg für sich.
Beflügelt von diesem Gedanken stieß sie besagte Tür durchaus etwas schwungvoller auf, als wahrscheinlich angebracht war und erntete prompt ein empörtes… Grunzen? Michiko hatte rein gar keine Ahnung, wie sie dieses abartige Geräusch der Entrüstung einordnen sollte, dann jedoch fiel ihr Blick auf eine große, dunkle Gestalt, die sich den Rücken rieb, dort, wo die Tür sie getroffen hatte. Der Herr Bürgermeister… den guten ersten Eindruck konnte sie sich wohl an den Hut stecken.
Eigentlich befand sie sich nun in der Position, sich zu entschuldigen, doch sie brachte es nicht über sich. Hatte seine Spezies sich für das Blutbad von St. Torje entschuldigt?
Die Stimme von Ludo Abendstern riss sie aus ihren Gedanken.
"Entschuldigen Sie, mir war nicht bewusst, dass Sie die Tür öffnen wollten."
Selbst seine Stimme war grauenvoll. Stein, der über Stein schmirgelte, ein äußerst unangenehm Geräusch und außerdem -
Michiko blinzelte perplex.
Was hatte er da gerade gesagt?
Verwirrt sah sie ihn an. Er hatte seine hässliche grüne Fratze zu etwas verzogen, das wohl so etwas wie ein unbeholfenes, entschuldigendes Lächeln darstellen sollte, doch das wirkte bei Michiko nicht. Er war ein Oger, verflucht noch einmal.
Ihr lag bereits eine gehässige Bemerkung auf den Lippen, doch die Kitsune atmete einmal tief durch, setzte ein säuerliches Lächeln auf und drängte sich an ihm vorbei in den weitläufigen Flur. Am Ende des Mosaikbodens befand sich eine breite, dunkle Treppe aus Eichenholz und ein Stockwerk über ihr...
Hinter ihr hörte sie, wie Ludo Abendstern die Treppe hinaufschnaufte. Schwerfällig Wie ein Oger eben... Sie beschleunigte ihren Schritt ein wenig und schlug ihm beinahe die Tür vor der Nase zu, als sie den Saal betrat und sich an einen der Tische setzte, die kreisförmig aufgestellt worden waren.
Das bereitgestellte Wasser half ihr, sich innerlich zu sortieren, während der Bürgermeister am anderen Ende des Raumes Platz nahm. Was war seine Wahl-Kampagne noch gleich gewesen? Es kam ihr nicht in den Sinn... Sie hatte sich nicht so eingängig damit befasst, immerhin war sie nicht davon ausgegangen, sich längerfristig mit diesem, diesem... Biest auseinander setzen zu müssen.
Michiko erspähte Gellert Frostfang, Zara Liers und andere Ratsmitglieder, die sie nur vom Sehen kannte. Ein Klabautermann, eine Sphinx und sogar eine Lebkuchenhexe, aber kein weiterer Oger. Sie schnaubte leise. Mit etwas Glück würde Ludo Abendstern vollkommen untergehen.
Dieser wiederum räusperte sich, um sich Gehör zu verschaffen. Widerliches Geräusch, wirklich... Aber durchaus effektiv. Es wurde schlagartig still und selbst Michiko merkte, wie sie den Atem anhielt. Lächerlich. Das war doch lächerlich.
Als alle Aufmerksamkeit auf ihn gerichtet war, versuchte der Bürgermeister es erneut mit einem Lächeln und bedankte sich für ihr Erscheinen. Dann folgte das übliche Palaver zum Thema Dankbarkeit, Ehre und künftige Zusammenarbeit und Michiko merkte bereits, wie sie abschweifte. Wenn ihr Bruder hier wäre, um sich den Schwachsinn anzuhören... Doch er war es nicht. Und wer war schuld daran?
Sie fuhr zusammen, als das Wort 'Attentat' an ihre feinen Ohren drang und richtete sich auf, gerade noch rechtzeitig, um zu begreifen, worum es ging.
"...das Blutbad in St. Torje war und ist zweifelsohne eine Tragödie, bei der wir alle große Verluste erlitten. Daher werde ich in meiner Amtszeit alles daran setzen, dass Projekt 'St.Torje' möglichst bald und effizient in Kraft zu setzen, um weitere Vorfälle wie diesen zu vermeiden. Rosdorf soll sich wieder sicher fühlen."
Für eine Sekunde lang blieb es still, dann brauste Applaus auf. Es war ein ohrenbetäubender Lärm, doch Michiko war wie erstarrt. Sie konnte ihren Blick nicht von dem Bürgermeister abwenden, der sich fast schon verlegen auf seinen Stuhl fallen ließ, der glücklicherweise dazu konstruiert war, einen Oger zu halten.
Projekt St. Torje... Was bei allen Höllenhunden...?
Den Rest der Konferenz brachte Michiko wie in Trance hinter sich. Es war die erste Konferenz seit der Wahl des Bürgermeisters und war so mehr Smalltalk und Händeschütteln als alles andere. Ein Prospekt... Sie brauchte ein Prospekt! Sie konnte unmöglich zugeben, dass sie die Kampagne des Bürgermeisters nicht kannte...
Es fiel ihr erst am Ende, kurz bevor sie das Rathaus verließ in die Hände.
Michiko bemerkte kaum, wohin sie lief, so vertieft war sie darin.
Bei Projekt St.Torje handelte es sich um ein erstaunlich ausgeklügeltes Sicherheitssystem, konstruktive Maßnahmen und innovative Regelungen, die mehr Sicherheit versprachen und bei konsequenter Umsetzung sicherlich auch ihr Versprechen hielten. Es war...beeindruckend.
Wie erstarrt blieb Michiko stehen, den Blick fest auf die Straße gerichtet. Von unten grinste ihr Ludo Abendsterns Gesicht entgegen. Ein nasses, graues Gespenst auf den Pflastersteinen.
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