1 | Alles bestens ist nie gut

Yana

Mein Blick schweifte über die Zelte, blieb an ein paar verschwommenen Menschen hängen. Während ich die Zahnbürste in meinem Mund bewegte, Schaum an meinen Lippen spürte, wurde mir klar, nach wem ich da Ausschau hielt. Irgendwo in mir war die dumme Hoffnung, Edina zu entdecken. Dabei war sie schon vor Corona nicht mehr hier gewesen, die Male davor auch nicht. Seit Jahren nicht.

Ich spuckte eine Ladung Spucke-Zahnpasta-Gemisch in das trockene Gras, während ich auf dem Weg eine Person mit dunklen Haaren entdeckte. Viel konnte ich nicht erkennen, meine Brille lag noch im Zelt, und doch fühlte sich irgendetwas an diesem Menschen so seltsam vertraut an.

Ich kniff die Augen zusammen.

War das Edina? War das möglich?

Mein Magen zog sich zusammen, während ich die restliche Zahnpasta herunterschluckte und ein paar Schritte zu meinem Zelt machte. Das war doch ein schlechter Scherz jetzt. Es konnte doch nicht sein, dass ich gerade noch über sie nachdachte und dann tauchte sie schon auf.

Ein wenig hektisch suchte ich nach meiner Brille. Wo auch immer ich das scheiß Ding letzte Nacht hingeschmissen hatte. Da, endlich. Meine Sicht wechselte von unscharf zu verschmiert. Ich erhob mich aus meinem Zelt und sah wieder in die Richtung, in der ich die Person mit den rosa Haaren eben gesehen hatte. Doch da war niemand mehr. Es war noch früh am Morgen, die Sonne schob sich gerade hinter den Bäumen hervor, die den Campingplatz umgaben. Dementsprechend war noch wenig los, bis auf ein paar Leute in Stühlen, die da hingen, als hätten sie sich die ganze Nacht nicht fortbewegt.

Wie auch immer, das eben war sowieso nicht Edina gewesen. Sondern irgendjemand anders. Eigentlich war es besser so. Auch wenn ich mich von Zeit zu Zeit fragte, was sie eigentlich machte, wie es ihr ging, mit manchen Sachen abzuschließen war besser.

Ich ließ mich auf meinem eigenen Campingstuhl nieder und begann zu drehen. Wasser wäre eine gute Idee, dann könnte ich vielleicht auch meine Kopfschmerzen loswerden. Aber die Motivation, meinen Kanister auffüllen zu gehen, war quasi nicht vorhanden. Während ich mit geschlossenen Augen rauchte, die Füße von mir gestreckt, machten die im Camp neben uns die Cantina-Band an. Nach und nach vernahm ich am zunehmenden Stimmengewirr, dass immer mehr Menschen aus ihren Zelten gekrochen kamen. Meine Kippe hatte ich mittlerweile in dem Taschen-Aschenbecher verstaut, den ich vor Jahren auf einem anderen Festival mal bekommen hatte.

»Guten Morgen.« Das war Niklas und durch den Windhauch neben mir nahm ich wahr, dass er sich ebenfalls in seinen Stuhl sinken ließ.

»Morgn.« Ich öffnete ein Auge zur Hälfte und sah meinen Kumpel, der in seinem Schoß eine Packung Brot, Margarine und veganen Käse liegen hatte, dazu ein Taschenmesser. »Du siehst viel zu fit aus.«

»Ich hab da ne ganz steile These.« Über sein Gesicht huschte ein Grinsen, während er eine Brotscheibe beschmierte.

»Hau raus.«

»Könnt am alkoholfreien Bier liegen.«

»Also das ist jetzt schon ziemlich gewagt. Wär ich vorsichtig mit. Nicht, dass du noch für einen Wissenschaftsleugner gehalten wirst.«

Niklas grinste, bot mir dann auch von seinem Brot an. »Essiggurken gibt's auch noch, falls du Bock hast.«

Während wir frühstückten, krochen langsam die anderen aus unserer Gruppe aus ihren Zelten. Melanie machte ihre fette Bluetooth-Box an und startete eine Playlist mit linkem Rap. Verschiedene Songs aus den anderen Camps überlagerten sich. Lachen, Punks und Zecken überall. Wie früher, wie vor Corona, bevölkerten einmal im Jahr bunte Haare und Piercings, abgeranzte Klamotten und Patches mit politisch nicen Statements unsere ländliche Gegend. Es tat gut. Das Gefühl, nicht allein zu sein; nicht den Faschos überlassen zu sein.

Ein paar Mal erwischte ich mich noch dabei, wie ich rosa/pinke/lila Haare sah und die Person näher musterte. Doch keiner der Menschen erinnerte mich an Edina. Bestimmt war sie das vorhin gar nicht gewesen. Damals hatte sie ihre rosa Haare so sehr geliebt und sich geschworen, nie eine andere Frisur zu tragen – das sah sie vielleicht noch immer so. Ich bewegte meine Finger im Takt der Musik. Hörte den anderen nicht wirklich zu. Sie lachten über etwas, das Ronja gerade erzählte.

»Alles gut, Yana?« Ich spürte den Blick, den Niklas mir zuwarf.

Ich sah auf. »Mhm. Wieso nicht?«

Er drehte den Deckel seiner freeway-Cola zu. »Du wirkst so. Beschäftigt.«

»Alles bestens.« Ich grinste ein wenig. War es ja auch. Die Person vorhin war bestimmt nicht Edina gewesen und ich hatte mir die Ähnlichkeiten sicher nur eingebildet.

»Wir kennen dich doch", warf Melanie ein, die ihre in Netzstrumpfhosen steckenden Beine auf Ronjas Schoß abgelegt hatte. In ihren mit zahlreichen Ringen bestückten Finger hielt sie eine Dose Cider. »Alles bestens ist nie gut.«

»Ach ... ich hab da vorhin nur so jemanden gesehen.«

Die Blicke meiner Freund*innen richteten sich fragend auf mich, bis auf Jeremys, der mit einem tief in den Gesicht gezogenen Fischerhut in seinem Campingstuhl hing.

»Dings ... wie hieß die nochmal? Die du letztes Jahr paar Mal mitgebracht hast. Mit dem fetten Tattoo am Oberschenkel«, mutmaßte Ronja. Ihre hellen Haare fielen in seichten Wellen auf ihre Schultern, die in einem dunklen Bandshirt steckten.

Ich schüttelte den Kopf. Nippte an meinem Dosenbier. »Edina. Falls ihr euch an sie erinnern könnt.«

Verwundert zog Niklas die feinen Augenbrauen hoch. »Edina. Natürlich erinnern wir uns.«

»Niemals.« Ronja schüttelte ungläubig den Kopf. Die runden Gläser ihrer Sonnenbrille verbargen ihre Augen. »Sie hat doch immer gesagt, dass sie ums Verrecken nicht zurückkommen will.«

»Um wen geht's?«, fragte Melanie nach. Sie war erst ein paar Jahre später zu unserer Gruppe dazugestoßen, nachdem wir uns beim Regale einräumen im Netto kennengelernt haben, da war Edina schon längst in die Stadt gezogen.

Ich sagte nichts dazu, drehte eine Kippe, die ich dann in mein Tabakpäckchen steckte. Das Teil hatte ich mal selbstgenäht, ein wenig krumm und schief, aus längst abgenutztem grauem Stoff mit kleinen Katzen drauf.

»Sie ist früher manchmal mit uns rumgehangen«, begann Ronja zu erzählen. »Juha-Zeiten und so.«

In dem Moment kam Bewegung in Jeremy. Er rutschte ein wenig von seinem Stuhl und zog fahrig den Fischerhut von seinem Kopf. »Jutn Morgen«, grinste er, wirkte noch bekifft.

»Oha, Leute, Jeremy lebt." Melanie lachte. »Ich glaubs ja nicht.«

Mit meinem Bier in der Hand und in der anderen meinen Tabakbeutel stand ich auf. Verstaute den Tabak in meiner Bauchtasche, die ich über meiner Schulter trug. »Kommt wer mit, 'ne Runde über den Camping-Platz spazieren?«

Niklas war dabei. Ich nahm noch schnell meine eigene Box aus dem Zelt, packte noch eine neue Dose ein, ehe wir uns über die Zeltschnüre hinweg zu dem Weg begaben. Das Campinggelände befand sich wie jedes Jahr in einem ehemaligen Waldstadion, sodass eine rote Tartanbahn den Weg zwischen den Zelten bildete. Wir waren schon mit sechzehn zu dem Festival gefahren, damals nur für die Konzerte und mit den Rädern oder Mopeds hin, weil es nicht weit von unseren Elternhäusern weg war. Hier zu sein, war seit Jahren unser gemeinsames Ding. Mal mit mehr, mal mit weniger Leuten, doch irgendwie kamen hier immer jene Menschen zusammen, die mir wichtig waren.

Früher auch noch Edina.

Wir liefen auf den Hauptweg und ich ließ meinen Blick über das Gelände schweifen. Sah da eine Pride-Flagge, dort eine mit einer weißen Sabotagekatze auf schwarzem Untergrund. Menschen, die sich unter Pavillons vor den Sonnenstrahlen schützten, andere die im Gras lagen und sie ohne Schutz genossen. Über die Box, die ich an meine Bauchtasche gebunden hatte, spielte ich Scheissediebullen ab. Ich genoss es, mit Niklas herumzulaufen, weil mit ihm auch Schweigen angenehm war. Mit ihm unterwegs zu sein, war nie mit dem unangenehmen Gefühl verbunden, unbedingt reden zu müssen, und das mochte ich.

Nach nicht allzu viel Strecke ließen wir den ersten Campingplatz hinter uns und kamen am Ticketstand vorbei zu einem Schotterweg, der in zwei Richtungen abbog. In die eine fanden sich weitere Zelte und ein weiter Blick über die ländliche Landschaft, ein paar Strommasten und das nächste Dorf, die andere Richtung führte tiefer in den Wald. Den Weg hinunter, dort wo sich das weitere Campinggelände fand, sah ich ein paar Menschen Flunkyball spielen. Mit einem zerdellten Einkaufswagen als Ball und einem Kanister, der die Flasche in der Mitte ersetzte.

»Hey, guck mal, das sieht spaßig aus." Grinsend stieß ich Niklas an. „Ich bin dafür, wir schließen uns da an.«

»Ihr seid herzlich eingeladen.« Ein großgewachsener Mensch aus der Gruppe mit aufgestelltem, giftgrünen Iro machte eine einladende Handbewegung. »Habt ihr noch Bier?«

»Ich spiel mit Cola mit.« Niklas grinste und hob die Flasche an, während ich eine neue Dose in die Hand gedrückt bekam. Wir teilten uns auf die zwei Teams auf. Schnell machte ich meine eigene Box aus, weil hier schon Musik lief, und öffnete meine Dose mit einem Zischen, ehe ich sie in Position stellte.

»Aber findet ihr nicht auch, unsere Getränke sind ein bisschen klein? Das steht doch in keinem Verhältnis zu unseren restlichen Utensilien.« Ich grinste und machte eine Handbewegung, die den kleinen Einkaufswagen und Kanister miteinschloss.

»Das merk ich mir als Verbesserungsvorschlag«, sagte die Person neben mir grinsend. Zahlreiche silberne Piercings glänzten in ihrem Gesicht, das von einem kurzen schwarzen Pony umrahmt war.

In diesem Moment flog der Einkaufswagen aus dem gegnerischen Team schon los, verfehlte den Kanister um ein ganzes Stück. Wir lachten. Am Wegesrand hatten sich ein paar Leute gesammelt, die uns anfeuerten. Ich rannte los und hob den Einkaufswagen hoch. Fuck, das Teil war schwerer als gedacht.

Ich machte einen Ausfallschritt nach hinten und warf ihn dann. Der Kanister geriet ins Straucheln und einen Moment lang sah es aus, als würde er nicht umfallen. Dann kippte er doch zur Seite und ich schnappte mir schnell mein Bier, um wie die anderen aus meinem Team so viel wie möglich zu trinken. Eine Person aus der anderen Gruppe brachte schnell den Einkaufswagen hinter die gegnerische Linie, er fiel um, weil das Teil schon so demoliert war, dass es nicht mehr gerade stand. Die Kohlensäure blubberte in meinen Magen und ich war froh, als der Kanister stand und ich das Bier absetzen konnte. Mit dem Handrücken wischte ich über meinen Mund, rülpste.

Etliche Runden später, als der Schweiß an meinem Rücken klebte und meine Arme vom ständigen Einkaufswagen-Hochheben schmerzten (das gute Stück war beinahe bis zur Unkenntlichkeit verformt), gingen Niklas und ich weiter. Von Richtung des Infields wummerte die Musik, die ersten Bands standen mittlerweile auf der Bühne. Unsere neugewonnenen Einkaufswagen-Freund*innen hatten mir eine Mische mit Fickenfanta überlassen, aus der ich immer wieder trank, während wir über den Schotterweg schlenderten.

»Yana, Niklas!«, rief da jemand. Melanie lachte und kam uns mit großen Schritten entgegengerannt, legte ihre beiden Arme um uns. Sie war genauso wenig nüchtern wie ich. »Was geht aaaab?«

»Wir haben gerade mit 'nem Einkaufswagen Flunky Ball gespielt. 10/10, klare Weiterempfehlung.« Ich lachte und atmete den Geruch ihrer kitzelnden Haare ein.

»Ich hab euch schon gesucht«, erklärte sie. Ihre Wimperntusche war verschmiert. »Wir wollen gleich aufs Gelände, seid ihr dabei?«

»Wer spielt denn jetzt?, fragte Niklas.

»Pascow

»Warte.« Ich hob meinen Zeigefinger und schwankte zurück. Melanie lachte und hielt mich, während ich umständlich meine Bauchtasche öffnete und zerknitterten Flyer hervorkramte, den wir gestern beim Einlass bekommen hatten.

»Ey, Yana, hasse nich gehört? Wir wollen zu Pascow, die spielen gleich«, grinste Melanie und stopfte meinen Flyer zurück in die Bauchtasche. Dann griff sie Niklas' und meine Hände, schwenkte sie hin und her, während wir zum Eingang des Festivalgeländes liefen. Wie so viele andere, die sich an der Sicherheitskontrolle anstellten. Hinter dem Pavillon konnte und der Umzäunung konnte man die beiden Bühnen und ein paar der Stände sehen. »Ich will euch sowas von im Pit sehen.«

»Nö. Hab während der Pandemie vergessen, wie das geht.« Niklas lachte und sprang gegen sie, woraufhin Melanie mich anrempelte. Ich taumelte zurück, sprang dann aber schwungvoll gegen die zwei. Lachte mit den beiden.

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