das Verschwinden

Sie ist doch, ganz ehrlich, selber dran schuld, wenn sie eine gescheuert bekommt. Da hätte sie mal früher drauf kommen sollen.", sagte eins der Mädchen mit üppigen, dunklen Haaren. "Aber sie kann man wohl auch gut verstehen. Oder findest du nicht?", kam es von der Jüngeren.
"Nein, wohl kaum. Es ist wie Vater es gesagt hat. Wir Frauen haben keine Rechte und nichts zu sagen, weder zu unserem Leben, noch zu unseren Wünschen."
"Hast du denn gar kein Mitleid für sie übrig?"
"Nein. Warum sollte ich? Sie hat sich da selber rein geritten. Dann soll sie es auch ausbaden."
"Aber sie gehört doch eigentlich gar nicht zu uns. Vater hat sie nie als eine von uns angesehen. Sie darf doch nur hier sein, weil Vater gut mit ihrem Vater befreundet war."
"Dann braucht sie erst recht nicht so ein Theater zu machen. Sie sollte sich lieber glücklich schätzen. Ohne ihn hätte sie jetzt nichts. Immer versucht sie sich in den Mittelpunkt zu rücken. Das ist so nervig. Denkt sie uns passt das? Ich würde auch lieber selbst entscheiden können. Nur wird das leider nie passieren."
"Dann versucht sie aber wenigstens für ihre Rechte zu kämpfen, im Gegensatz zu dir. Im Gegensatz zu allen von euch -uns", kam nun eine Stimme durch die Tür herein. Alle verstummten und sahen erschrocken zur Tür. Charlotte stand darin und sah sie alle mit ernstem, sogar leicht wütendem Gesicht an. Alle waren in unterscheidliche Zimmer eingeteilt. Immer je zwei Mädchen in einem Zimmer. Diesmal waren die meisten im Zimmer der Ältesten. Johanna hatte ihr eigenes, das sie bald heiraten würde. Sie war nicht darunter. Charlotte ging ins Nebenzimmer. Es war von ihr und mir. Sie sah mich im Bett liegen, mit dem Gesicht zur Wand. Eine Decke lag über mir bis über die Ohren gezogen. "Alles gut bei dir?" fragte Charlotte und schloss die Tür hinter sich. "Ich kann sie reden hören." Charlotte ging zu mir. Besorgnis in ihrem Gesicht. Sie drehte mich leicht zu sich. Meine Hände lagen an meinem Kopf. Beim umdrehen kullerte eine Träne die geröteten Wangen hinab zum Ohr. Charlotte umarmte mich. "Weine nicht, bitte. Das macht mich traurig. Ich sehe dich lieber glücklich.", sagte Charlotte und wischte mir die nächste fallende Träne vom Gesicht. Ich setzte mich auf und wischte mit über mein Gesicht, mit dem Ärmel meines Kleides. Mittlerweile hatte ich schon ein neues angezogen. "Und mir wäre es lieber, wenn sie nicht so über mich reden würden."
"Aber du weißt doch ganz genau, warum sie das tun. Du gehst halt immer zu weit. Du bist eben nur ein Mädchen", sagte Charlotte. Ich sprang auf. "Soll ich etwa nur stumm da sitzen und mir alles einfach so gefallen lassen?", schrie ich. Charlotte sah zur Seite und antwortete nicht. Dann zuckte sie mit den Schultern, zupfte an meiner Decke und sagte, ohne mich dabei an zusehen: "Naja ... Wir machen es ja auch nicht anders. Wir sind dazu bestimmt-"
"Und genau deswegen wird sich auch nie etwas ändern, weil ihr nicht für eure Rechte kämpft!", schrie ich erneut, dass unserer Schwestern im Nebenzimmer zusammen zuckten. Die meisten von ihnen hatten seit dem ersten Schrei an der Wand gelauscht. Ich schnappte mir meine Schuhe und stapfte wütend hinaus. Unsere Schwestern gingen schnell zur Tür und sahen raus. Sowie Charlotte, die mir hinterher rannte und versuchte mich zurück zu halten. "Ev. Ev! Warte doch."
"Nein."
"Bitte warte doch."
"Ich sagte bereits nein und jetzt lass mich in Ruhe!", sagte ich bevor ich um die nächste Ecke zur Treppe nach unten rannte und durch die Hintertür verschwand. Charlotte, die sich am Treppengerüst festhielt, konnte nur besorgt hinterher sehen. Ihre Schwestern kamen hinter sie und sahen ebenfalls den Weg lang. "Ist sie jetzt weg?", fragte eine der jüngeren. Charlotte war immer noch nicht ganz bei sich und konnte nur leicht nicken."Wenn das Vater erfährt ...", sagte eine der Älteren. Das war der Moment, in dem Charlotte aus ihrer Trance gerissen wurde. Diese Worte hatten etwas bei ihr ausgelöst. Sie ging auf ihre Schwester zu, die sofort zurück wich, Angst in ihren Augen, Schweiß auf ihrer Haut. Die anderen traten zur Seite. Charlotte zeigte mit dem Finger auf ihre verängstigte Schwester, die schon mit dem Rücken an der Wand stand. "Wehe dir du sagst ihm auch nur ein Wort!", zischte Charlotte. Da kam auch schon die Hausherrin und sah den ganzen Haufen, der die beiden Mädchen anstarrte, unsicher, was sie tun sollten. "Was ist denn hier los?", fragte die Hausherrin schockiert. "Maria ...", sagten ein paar der Schwestern. Charlotte ließ sofort von ihrer Schwester ab. Sie sah zu Boden und murmelte nun ebenfalls ihren Namen. Sie spielte verunsichert mit ihren Fingern. Ihre Schwester wich ebenfalls zurück. Sie versuchte sich klein zu machen und hinter ihren Schwestern zu verstecken. Nun meldete sich Johanna, die älteste von ihnen, trotz warnenden Blick von Charlotte. Sie sprach zögerlich, ignorierte aber den Blick ihrer Schwester. "Everilda, sie ... Naja, also ... Wir hatten über sie gesprochen ... Und Charlotte hat sich mit ihr gestritten ... Und Everilda sie ist ... Sie ..."
Maria wurde langsam ungeduldig. "Nun spuck es schon aus", sagte sie gereizt. Sie war eigentlich eine Herzens gute, alte Frau. Jedoch konnte sie in seltenen Fällen wütend werden. Wie, wenn etwas nicht stimmte, wie in diesem Fall. Sie merkte es sofort, wenn etwas nicht stimmte, selbst, wenn es nicht so offensichtlich, wie in diesem Moment war. Johanna stammelte weiter, ohne zu sagen, was mit mir war. Das reichte Maria, sie Klopfte mit dem Fuß auf den Boden und mit ihrem Finger auf den gekreuzten Arm, was Johanna noch nervöser machte. "Jetzt spuck es schon aus, es ist mitten in der Nacht! Ich würde gerne heute noch schlafen gehen und wissen, warum ihr das nicht schon längst tut."
"Also gut", fing Johanna von vorne an. "Sie ist raus gerannt. Wir wissen nicht, wo sie hin will." Maria sah alle erschrocken an. Die Ungeduld und Wut wich ihr von allen Gliedern. "Es ist mitten in der Nacht. Dunkeln. Es ist zwar Sommer, die Nächte sind dennoch nicht die wärmsten. Und dann euer Vater, wenn er das erfährt ...", sagte sie schockiert und besorgt. Sie sah nun alle ernst an, raus gerissen aus ihren Gedanken. "Kein Mucks davon. Wehe auch nur eine von euch sagt etwas eurem Vater", sagte sie bedrohlich. Alle nickten. Keiner sagte etwas. Jeder war angespannt, denn alle machten sich Sorgen, auch die, die ihre Adoptivschwester nicht so leiden konnten. Sie wussten, dass sie Schuld an meinem Verschwinden hatten. "Und jetzt geht alle auf euer Zimmer und schlaft. Es ist schon spät. Wir müssen die Nacht wohl abwarten. Beim schlafen geht die Nacht schneller rum", waren die letzten an die Mädchen gerichteten Worte, bevor Maria in ihr eigenes Bett zum schlafen ging. Alle gingen in ihr eigenes Zimmer, in ihr Bett, aber niemand konnte schlafen. Zu große Sorgen machten sich alle. Besonders Charlotte. Sie schlief nicht in ihrem eigenen Bett, sondern in meinem -wobei man kaum von schlafen sprechen konnte. Sie lag die ganze Nacht da, starrte die Wand an, dachte daran, was geschehen war, überdachte alles nochmal und was am wichtigsten war, sie machte sich Sorgen, mehr als alle anderen, wo ich nur sein könnte und wie es mur wohl gehen mochte in diesen Moment. Der Mond schien leicht durchs Fenster, aber wie Charlottes Gedanken, verdunkelte auch er sich bald. Maria ging es nicht anders. Sie hatte um mich geweint. Ihre sonst so ordentlich zu einem festen Dutt geflochtenen Haare lagen wirr auf dem Kissen verteilt. Nur sah es bei ihr trostloser aus, als bei Charlotte. Die Sorge war groß, denn keiner hatte das je erlebt. Zumindest nicht in diesem Ausmaß. Keiner wusste wo ich war. Keiner wusste, wann ich wieder kommen würde oder ob ich überhaupt wieder kommen würde. Ich war sehr stur. Wenn ich mir etwas in den Kopf gesetzt hatte, dann würde ich es auch durchziehen. Aber was genau hatte ich mir in den Kopf gesetzt? Sie konnten nur hoffen, dass ich am nächsten Tag wieder heil und gesund vor der Tür stehen würde.

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