Kapitel 9 - Abschied
Kilians p.o.v.
Sonja war gegen meine Entscheidung. Die anderen waren davon zwar auch nicht ganz begeistert, aber Sonja wehrte sich am heftigsten.
Ich könne ja hierbleiben, meinte sie.
Wenn ich im Haus blieb, würden sie mich nicht finden und irgendwann würden sie dann aufgeben oder woanders nach mir suchen.
Dies und weiteres nannte sie, um mich von meinem Entschluss abzubringen.
Aber es war hoffnungslos.
Ich würde gehen, würde meine neue Familie nicht in Gefahr bringen.
Denn wenn ich blieb...wenn ich blieb, dann würde ich Xenia aufsuchen. Ich könnte mich nicht genug beherrschen, mich vollständig von ihr fernzuhalten.
Ich würde sie aufsuchen, würde versuchen, sie von mir zu überzeugen, mit ihr zu reden.
Denn dieser Drang, bei ihr zu sein, war so stark, war übermächtig.
Ein paar Tage, nein, wahrscheinlich sogar weniger, und ich würde es nicht mehr aushalten.
Und was wäre dann? Für sie war ich nur ein Werwolf. Ein Lebewesen, das vernichtet werden musste.
So sehr mich dieses Wissen auch schmerzte, ich durfte mir nichts anderes vormachen.
Denn wenn eins noch schlimmer war, als dieser Schmerz in meinem Herzen, dann war es Hoffnung. Hoffnung, die sowieso zerstört werden würde. Denn diese Pein....sie würde mich zerstören.
Und das konnte ich nicht zulassen.
Konnte es nicht, wenn nicht schon wegen mir, dann wegen der Leute, die sich auf mich verließen.
Wegen des Plans, den wir befolgten.
Also blieb mir nichts anderes übrig, als zu gehen.
Um mich selbst und meine Familie zu retten.
Auch wenn es mir alles abverlangte, den Rucksack in meinem Zimmer zu packen.
Wenn es mir alles abverlangte, nicht diese dumme Hoffnung in mein Herz zu lassen, die sich unschuldig anschlich.
Vielleicht liebt sie mich doch, dachte dieser hoffnungsvolle Teil in mir.
Vielleicht übertreibe ich hier ja. Vielleicht verrät sie mich nicht.
Aber so sehr ich das auch glauben wollte, so sehr sich alles in mir danach sehnte, dass es so war, so trügerisch konnte es auch sein.
Denn was, wenn ich mich zu sehr von diesen hoffnungsvollen Gedanken leiten ließ?
Ich könnte den Weg zu ihr finden.
Und dann? Dann würde mir die Wahrheit ins Gesicht geschleudert werden.
Sie würde mich wahrscheinlich gar nicht reden lassen.
Wahrscheinlich würde ich sie auch kaum zu Gesicht bekommen, bis Hexer mich mit einem Zauber belegten, mich töteten.
Wobei sie mich davor wahrscheinlich noch foltern würden, um den Standort meines Rudels herauszufinden.
Ich musste den Tatsachen in die Augen schauen, so sehr auch alles in mir davor scheute und sich knurrend sträubte.
Aber ich hatte nunmal keine Chance.
Und wenn ich nicht alles verlieren wollte - die Rache an der Hexensippe, mein neues Rudel - dann musste ich jetzt gehen.
Wen kümmerte es schon, dass ich meine Liebe aufgab?
Schließlich musste man im Leben Opfer bringen.
Und selbst wenn ich für sie kämpfen würde...ich würde es nicht schaffen.
Ich musste vor Liebe blind gewesen sein, dass ich das gedacht hatte. Aber jetzt hatte ihre Zurückweisung mir die Augen geöffnet.
Sie war eine Hexe. Und ich ein Werwolf.
Wir waren Feinde.
Und nicht füreinander geschaffen. Auch wenn mir jede Faser meines Selbst etwas anderes sagte.
Auch wenn mein Herz mich anschrie, sie nicht zu verlassen.
Aber ich musste Prioritäten setzen.
Ich hatte schon einmal selbstsüchtig gehandelt. Damals, als ich meine Familie mit unseren Freunden allein gelassen hatte.
Es wurde Zeit, dass ich selbstlos handelte. Auch wenn es mir das Herz herausreißen würde.
Lieber litt ich, lieber verzichtete ich auf mein Glück, als jemand anderen leiden zu sehen.
Und wenn ich mich auf Xenia einließ, war das schließlich unausweichlich.
Selbst wenn ich es irgendwie schaffen sollte, dass sie mir eine Chance gab - was wahrscheinlich ohnehin unmöglich war - würden ihre Hexenkumpels unsere Beziehung nicht zulassen.
Und ich konnte nicht verlangen, dass Xenia sich zwischen ihrer Familie und mir entscheiden musste.
Ich konnte das einfach nicht.
Genauso wenig konnte ich zulassen, dass ihre Hexenkumpels durch eine Beziehung auf mich und mein Rudel aufmerksam wurden.
Während Sonja noch immer auf mich einredete und ich in meinem Zimmer den Koffer packte, dachte ich darüber nach.
Lange und ausführlich.
Aber so sehr ich es mir auch wünschte, ich sah einfach keine Lösung.
Natürlich könnte ich nun auf die uns Werwölfen heilige Mondgöttin Luna vertrauen.
Darauf vertrauen, dass sie mir helfen würde.
Aber so gottesgläubig war ich nicht.
Besonders nicht, nachdem meine Familie ermordet wurde.
Ein frommer Mensch hätte vielleicht gesagt, dass sie nur mich retten konnte.
Dass eine Aufgabe auf mich wartete.
Aber wenn man wollte, konnte man schließlich alles so auslegen, dass es einem in den Kram passte, oder etwa nicht?
Nein, ich war nicht stark - oder dumm - genug, mein Leben in die Hände der Mondgöttin, des Schicksals oder gar der Hexen zu legen.
Ich hatte gelernt, nur mir selbst zu vertrauen.
Mir selbst und in einem gewissen Maße natürlich auch meinem Rudel.
Schwer schluckend zog ich den Reißverschluss des Rucksacks zu.
Dann richtete ich mich auf und blickte nach einer langen Zeit schließlich in Sonjas traurige Augen.
Sie hatte mich von Anfang an so freundlich willkommen geheißen im Rudel.
Sie war wie eine Mutter für mich.
Ich würde sie vermissen.
Ich würde sie alle vermissen.
Es würde schwer werden, wieder eine Familie zu verlieren.
Aber lieber so, als sie mit meiner Anwesenheit dem Tode preiszugeben.
Ohne Worte nahm ich Sonja schließlich fest in die Arme. Klammerte mich an sie, ließ mich von ihrem Vanillegeruch einhüllen, der mich immer an Geborgenheit, Liebe und Fürsorge erinnerte.
Und ich fragte mich, ob das das letzte Mal war, dass ich Sonja umarmte.
Irgendwann würde ich wieder zurückkehren.
Hoffentlich mit weiteren Werwölfen an meiner Seite.
Wir würden uns der Hexensippe entgegenstellen.
Aber was, wenn es bis dahin bereits zu spät war? Wenn sie mein Rudel hier auch ohne mich fanden und abschlachteten?
Und was, wenn Xenia an der Seite meiner Feinde kämpfen würde? Wenn ich gegen sie würde antreten müssen?
So viele Fragen und keine Antworten.
Aber wann hatte man die schon?
Ich musste wohl einfach das Beste tun.
Meine Familie schützen.
Und sei es, indem ich sie verließ.
Lange hielten Sonja und ich uns so fest. Irgendwann spürte ich etwas Nasses an meinem T-Shirt. Tränen. Sonja weinte.
Meine Kehle wurde eng. Und auch in meinen Augen sammelten sich Tränen.
Aber ich biss die Zähne zusammen und ließ sie nicht laufen.
Es würde sowieso nichts ändern.
Und ich musste stark bleiben.
Denn es war an der Zeit, mich auch von den anderen zu verabschieden und dann zu gehen.
Bald würde es dunkel werden.
Und ich musste unbemerkt verschwinden, sodass mich keiner der Hexen entdeckte.
Also löste ich mich sanft von Sonja, sah ihr tief in die Augen und sagte mit vor unterdrückten Tränen belegter Stimme:
"Danke. Danke für alles, was du für mich getan hast. Danke, dass du immer für mich da warst. Das werde ich dir nie vergessen."
Tränen strömten ihr weiterhin über die Wangen und hinterließen nasse Pfade.
"Du bist ein guter Junge.", schluchzte Sonja. "Pass auf dich auf."
Wieder drückte sie mich an sich und schluchzte leise an meinem Shirt.
Ich schluckte schwer und rieb ihr besänftigend den Rücken, während ich verbissen versuchte, die Tränen zurückzuhalten.
Nicht daran zu denken, was ich im Begriff war, zu tun.
Ich würde alles schrittweise tun.
Ich würde mich von den anderen verabschieden.
Würde aus der Tür gehen.
Und mich auf den Weg machen, weit fort von hier.
Allerdings ohne daran zu denken, was ich alles hinter mir ließ.
Mir war klar, dass ich Xenia nie vergessen würde.
Ich hatte sie nur einen Tag lang gesehen und schon hatte sie sich in mein Herz geschlichen.
Mit ihrem schönen Lächeln. Dem leuchtenden Braun ihrer Augen. Die pure Lebensfreude, die sie ausstrahlte. Dem feurigen Rot ihrer Haare, wie die Blätter im Herbst.
Sie war in mich reingestolpert und nur ein Blick in ihre erschrocken aufgerissenen Augen hatte genügt.
Manchmal passierte etwas so schnell, dass man es kaum merkte.
Erst später kam dann die Erkenntnis.
Ich hatte nicht erwartet, dass ich mich so schnell in sie verlieben würde.
Zwar erkannten wir Werwölfe unsere Seelengefährten auf den ersten Blick, auf den ersten Geruch.
Wir spürten die Verbindung.
Aber ich hatte immer gedacht, das Verlieben würde dauern. Würde Zeit in Anspruch nehmen.
Ich hatte keine Ahnung gehabt.
Ich war schon jetzt in Xenia verliebt.
Vielleicht bemerkte ich es so früh, weil ich wusste, ich würde sie verlassen.
Es war egal.
Ich liebte sie zwar noch nicht.
Das dauerte. Man musste Zeit miteinander verbringen, um sich wahrhaftig zu lieben.
Bei den Seelengefährten meines alten Rudels hatte ich mitbekommen, wie es ablief.
Man war zwar von Anfang an verrückt nach einander. Aber mit jedem Tag verschenkte man sein Herz mehr.
Bis man sich so sehr liebte, dass es einem vorkam, als müsste sein Herz explodieren von diesem unermesslichen Gefühl.
Wenn Xenia und mir das doch auch nur vergönnt gewesen wäre...
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top