Kapitel 6 - Ein Werwolf in der Stadt
Kilians p.o.v.
Ich fühlte mich miserabel, sterbenskrank, lebensmüde, elendig,....es gäbe noch unendlich viele weitere Adjektive, um meinen derzeitigen Zustand zu beschreiben.
Aber wozu überhaupt die Mühe?
Es war egal, wie es mir ging.
Alles war jetzt egal.
Xenia wusste, was ich war. Das hatte ich in ihrem Blick gesehen, hatte es an ihrem Angstschweiß erkannt.
Sie hasste mich.
Hasste mich, bevor sie mir die Chance gegeben hatte, ihr zu zeigen, wer ich wirklich war.
Kein Werwolf. Kein halber Mensch und halber Wolf. Nein, sondern ich. Kilian.
Der Typ, der Sonnenuntergänge liebte und sich bei jedem einzelnen fragte, warum er überlebt hatte und seine Familie nicht.
Der Typ, dem alles gestohlen war, ohne Grund.
Der Typ, der sich früher jeden Abend in den Schlaf geweint hatte, weil er seine Familie, sein Rudel verloren hatte.
Der Junge, dessen Traurigkeit um seinen Verlust sich in bittere Wut verwandelt hatte.
Der Junge, der loyal war und treu, der alles für seine Lieben und Freunde tun würde.
Der Junge, der für einen verletzten herrenlosen Hund gesorgt hatte und ihn aufgepäppelt hatte, bis er wieder für sich selbst sorgen konnte.
Ich hatte so viel mehr Facetten. Ich war nicht nur ein Werwolf. Ich war so viel mehr.
Aber Xenia würde das nie mehr erfahren. Denn sie hatte mich bereits verlassen, bevor wir überhaupt zusammen waren.
Und das war das Schlimmste, was ich jemals gefühlt hatte, beinahe noch schlimmer, als der Verlust meines Rudels.
Sie würde nie erfahren, dass sie mich nicht zu fürchten brauchte.
Ich würde ihr nie etwas tun. Lieber würde ich sterben, als dass ich ihr schadete.
Aber auch das würde sie nie erfahren.
Weil sie mich von sich gestoßen hatte. Von sich gestoßen wie einen Fremden.
Ich musste mir vor Augen halten, dass ich für sie genau das war. Ein Fremder.
Noch dazu, ein fremder Werwolf.
Was musste sie von mir denken?
Die Hexen wollten uns ausrotten, obwohl wir niemanden etwas zu leide taten, und Xenia war nunmal eine Hexe. Ich durfte mir gar nicht vorstellen, was sie ihr erzählt hatten, was sie von mir dachte.
Aber bei einem war ich mir sicher: egal, was sie Xenia glauben machten, es war bestimmt nichts Gutes.
Ich hatte keine Ahnung, wie ich es nach Hause schaffte.
Mein sonst federleichter Gang war schlurfend, als hätte ich jeden Lebensmut verloren.
Und war es nicht genau so? Denn ich hatte sie verloren.
Meine Mate, Xenia. Und was war schon das Leben ohne die wahre Liebe?
Nur noch ein trister grauer Fleck.
Wie hatte ich es nur vorher geschafft, mich durchzubringen?
Alles war so trostlos ohne meine Mate.
So vollkommen trostlos.
Nun, irgendwann stand ich schließlich vor einem cremeweißen Haus.
Meine Füße mussten mich selbstständig hierher getragen haben, denn ich hatte nichts damit zu tun.
Zu sehr hingen meine Gedanken bei Xenia.
Es war schon ein Wunder, dass ich es bis hierher geschafft hatte.
Ein Wunder, aber ich war zu müde, um es zu bestaunen.
Nein, stattdessen stand ich vor diesem Haus und fragte mich, wie es jetzt weitergehen sollte.
Was sollte ich den anderen sagen?
Mir wurde keine Zeit vergönnt, darüber nachzudenken, denn schon ging die Tür auf und Sonja, die Luna und Frau des Alphas des Rudels stand vor mir.
"Kilian, mein Schatz, was ist denn los?", rief sie bei meinem Anblick erschrocken auf und rannte die paar Schritte zu mir.
Keine Sekunde später fand ich mich in einer starken, tröstlichen Umarmung wieder.
Automatisch legte ich die Arme um sie und ließ mich von ihrem Vanilleduft einhüllen.
"Ach Kilian.", seufzte Sonja und strich mir beruhigend über den Rücken.
"Alles wird gut, wirst schon sehen. Jetzt komm erst mal rein und lass dir von der guten alten Sonja einen Kakao machen. Denn was sag ich immer?"
Trotz meines Zustandes musste ich schwach lächeln.
"Schokolade löst alle Probleme.", zitierte ich ihren Lieblingsspruch.
"Genau!", erwiderte Sonja freudig.
Sie war wirklich ein Sonnenschein. Eine geborene Luna. Keine Minute in ihrer Gesellschaft und schon fühlte ich mich besser, auch wenn das Loch in mir nicht verschwunden war.
Ob es das jemals würde? So ganz ohne meine Mate?
"Komm, Kilian, mach nicht so ein Gesicht.", Sonja hatte sich ein wenig von mir gelöst, sodass sie mich betrachten konnte.
"Wie gut, dass ich gerade einen Schokokuchen gebacken habe. Kakao und Schokokuchen, was sagst du dazu? Danach sieht die Welt gleich viel besser aus!"
Und damit nahm sie mich am Arm und zog mich hinter sich her ins Haus.
Ich ließ mich bereitwillig von ihr mitziehen.
Obwohl ich bezweifelte, dass Schokokuchen und Kakao all meine Probleme lösen würden, so würden sie doch auch nicht schaden.
Und auch wenn Sonja nicht meine Mutter war, so war sie doch perfekt darin, andere aufzumuntern.
Ich hoffte nur, es würde ihr auch dieses Mal gelingen.
Aber ich hatte keine große Hoffnung.
Soeben hatte ich unwiderbringlich meine Mate verloren....da würde selbst eine sechsstöckige Schokotorte mit einer ganzen Kanne voll Kakao und Tausend Schokomuffins nicht reichen.
Xenias p.o.v.
Kilian hatte kein einziges Mal zurückgeschaut, als er gegangen war, wie ich es ihm befohlen hatte.
Deshalb hatte er nicht gesehen, wie ich ihm nachgeblickt hatte, selbst als er schon längst außer Sichtweite war.
Ich sagte mir, ich hatte das nur getan, um ganz sicher zu gehen, dass er nicht doch kehrtmachen würde, um mich zu fressen.
Aber ich hatte mich noch nie selbst belügen können.
Es dauerte, bis ich schließlich den Mut und die Kraft fand, selbst den Nachhauseweg anzutreten.
Ich hätte eigentlich sofort meinen Vater anrufen sollen, oder jemand anderes der Hexensippe.
Hätte ihnen sofort Bescheid geben sollen. Denn je länger ich es aufschob, desto größer war die Gefahr.
Aber....ich tat es nicht. Ich sagte mir, ich musste mich erst in Sicherheit bringen und während dem Laufen zu telefonieren, würde mich nur vor eventuellen Gefahren ablenken.
Aber wie gesagt....mich selbst anzulügen war noch nie meine Stärke gewesen.
So trottete ich nach Hause.
Erst nach einer halben Ewigkeit fiel mir auf, dass ich langsamer ging als sonst, gerade so, als wollte ich das Unvermeidliche hinauszögern.
Lächerlich.
Ich benahm mich vollkommen lächerlich.
Ich meine, ja, Kilian war heiß. Ja, er hatte einen symphatischen Eindruck gemacht. Ja, ich hatte ihn näher kennenlernen wollen.
Aber er war ein Werwolf!
Bösartig, mordlüstern, gefährlich.
Warum also wollte ich ihn nicht verraten? Warum also graute mir bei der Vorstellung, ihn dem Tod auszuliefern?
War ich seinem hübschen Gesicht wirklich so sehr verfallen?
Ich wusste doch, dass ein hübsches Gesicht gar nichts bedeutete, nach der Lektion mit Max war mir das mehr als klar.
Also warum sträubte sich alles in mir bei dem Gedanken, den anderen von ihm zu erzählen?
Gott, ich benahm mich sowas von dumm. Er war ein Werwolf. Er musste eliminiert werden, um keinen weiteren Schaden anzurichten.
Abrupt blieb ich stehen.
Verdammt, ich hörte mich bereits so an wie die Jäger unter uns Hexen.
Dabei war ich nie ein Fan dieser Morde gewesen.
Ja, Morde. Egal, wie die anderen es nannten, ob "ehrenhafter Dienst an der Gesellschaft", "Rettung der Menschheit", oder "Eliminierung des Bösen", letztendlich waren das doch nur bloße Euphemismen, Beschönigungen.
Am Ende blieb es Mord.
Mord an Lebewesen. Und obwohl ich es nie gänzlich gut geneißen hatte, war mir die Notwendigkeit doch klar gewesen.
Zu oft hatte ich die Werke der Werwölfe gesehen:
Zerstümmelte Leichen von Hexen.
Deren Fleisch schmeckte nämlich für sie besonders gut.
Kilian nicht zu verraten, würde bedeuten, meine Familie und all die anderen einer Gefahr auszusetzen.
Es würde bedeuten, dass ich für ihren Tod verantwortlich war, wenn ein Werwolf sie in die Fänge bekam.
Und nur weil ich nicht all meine Leute innig liebte, bedeutete das nicht, dass ich ihren Tod wünschte.
Kilian war ein bloßer Fremder, den ich heute kennengelernt hatte.
Ich liebte ihn nicht, fand ihn einfach nur attraktiv.
Es wäre dumm und kindisch, deswegen meine Familie zu verraten, meine Artgenossen.
Das war mir mehr als klar.
Also warum wollte ich dieses eine Mal dumm und kindisch sein?!
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