Kapitel 58 - Schmerzen

Xenias p.o.v.

Angetrieben von dem drängenden Gefühl, dass Kilian in Gefahr war, rannte ich durch den Wald. Ich holte alles aus mir heraus, in der panischen Hoffnung, es wäre noch nicht zu spät. Keine Sekunde hatte ich gezögert, als mich die Vision überkam. Kilian und ich mochten uns gestritten und dann getrennt haben, und doch liebte ich ihn immer noch. Ich konnte ihn nicht sterben lassen. Ich konnte nicht.

Keuchend brach ich endlich aus dem Wald und blieb schlitternd stehen, angesichts der Szenerie, die sich mir bot. Kilian lag als Wolf mit zuckenden Gliedern auf dem Boden, das Maul zu einem stummen Heulen aufgerissen. In seinen Körper schlugen rote Blitze ein. Dunkle Magie. Und nur wenige Meter entfernt wandte Anton sie an, mit einem sadistischen Lächeln auf den Lippen.
Hinter ihm standen mehrere Hexer, die tatenlos zusahen, wie Kilian gefoltert wurde. Ich schenkte ihnen kaum einen Blick. 

Ich dachte nicht nach. Der heftige Streit mit Kilian war wie vergessen. Es interessierte mich in diesem Moment nicht, dass er meiner Art schaden wollte. Alles, was ich fühlte, war heilloses Entsetzen beim Anblick seines gefolterten Körpers, beim Anblick dieser roten Blitze, die erbarmungslos in ihn einschlugen und ihn quälten. So rot wie Blut leuchteten sie auf, schienen mich geradezu schadenfroh anzugrinsen.
Denn sie würden Kilian umbringen und sie wussten, dass ich mir das klar war. Kilian würde sterben.

Und trotz aller Meinungsverschiedenheiten, trotz allem, was zwischen uns lag, könnte ich das nie zulassen.
Mein Verstand war ausgeschaltet, wie paralysiert von dieser grausamen Szenerie, die sich in mein Gedächtnis einbrannte wie ein glühend heißer Schürhaken in Fleisch.
Doch mein Herz war nicht erstarrt, sondern pumpte kräftig und stark, voller Panik und Verzweiflung. Dennoch war es mein Instinkt, ein Instinkt, von dem ich gar nicht wusste, dass er existierte, der mich handeln ließ.

Ich stürzte vorwärts, ließ den Wind mich schneller vorantreiben und warf mich über Kilians gequälten Körper.
Fast augenblicklich kam der Schmerz. Glühend heißes Feuer walzte durch mich hindurch, verbrannte alles auf seinem Weg und ließ nur glühend heiße Asche zurück. Alle meine Zellen schrien gequält auf, als die Blitze durch meinen Körper zischten. Ich meinte fast zu hören, wie mein Blut dampfend zischte und meine Organe, mein Fleisch im Tosen des Feuers unterging. Es kam mir vor, als wäre ich in der Hölle selbst gefangen.
Ich bekam kaum mehr mit, was außerhalb von mir geschah. Sah nicht die entsetzten Mienen meiner Eltern und von Aramis. Hörte nicht den Schrei meiner Mutter:
"Das ist Xenia! Meine Tochter!" Hörte nicht die wütende und grausame Antwort Antons:
"Sie hat ihre Seite gewählt. Und damit ihr Schicksal besiegelt."
Hörte nicht, wie unter den Hexern ein Kampf ausbrach, als eine Mutter für das Wohl ihres Kindes kämpfte. Nein, in meinen Ohren dröhnte allein mein Herzschlag, so laut und doch so leise, so schwach. Jeden Moment würde er stoppen, würde aufhören und damit dem Feuer keinen Stoff mehr zum Zerstören geben. Ich sehnte das Ende geradezu herbei.

Und dann ...hörte es tatsächlich auf. Schlagartig. Aber der Schmerz war trotzdem noch da, wenn auch nur noch pochend und nicht so tosend und drohend wie zuvor.
War ich tot? Aber warum schmerzte dann alles noch so sehr? Mein Hirn begriff nicht. Es lieferte die Informationen, aber es begriff sie nicht.
Langsam begann ich wieder, etwas zu hören. Zuerst meinen schweren, rasselnden Atem. Dann laute streitende Stimmen. Und schließlich eine kühle, alte und doch auch junge Stimme, die sprach. Obwohl sie nicht laut war, hielt der Streit dennoch sofort inne. Erst nach einem Moment erkannte ich die Stimme als Deryas.

"Ihr werdet diese beiden hier in Ruhe lassen."

Obwohl sie ihre Stimme nicht erhob, lag eine majestätische Befehlsgewalt in ihrem Tonfall. Es war die Stimme einer Frau, der man besser nicht widersprach. So hatte ich sie noch nie sprechen hören.

"Sonst was?", fragte Anton voller Spott. Ich wollte meine Augen öffnen, wollte sehen, was hier vor sich ging, aber alles fühlte sich so schwer an, alles schmerzte so sehr. Es war bereits schwierig genug, den Stimmen zu folgen, die Worte zu verstehen. Sie waren so leise, wie durch Watte gedämpft.

"Falls ihr es nicht sehen könnt: wir sind hier eindeutig in der Überzahl. Falls ihr nicht sofort verschwindet und uns in Ruhe lasst, sondern etwas so Unüberlegtes tut wie anzugreifen, werden wir uns gezwungen sehen, das Feuer zu erwidern, wie man so schön sagt."

Stille. Nur dieser pochende Schmerz, die Zuckungen, die ich nicht kontrollieren konnte, und dieses Feuer in mir. Nichts anderes spürte ich als den Schmerz. Nicht einmal Kilian unter mir oder die Kälte. Ganz so als existiere nichts anderes mehr als der Schmerz, immer nur dieser quälende Schmerz.
Und dann…. plötzlich leise murmelnde Worte und….der Schmerz nahm ab. Nicht viel, sondern eher so, als würde man die Spitze eines Eisbergs abtragen und doch war es bereits eine Wohltat.

"Wir können euch nicht einfach gehen lassen", grollte Anton mit gefährlichem Unterton. Doch sogleich schalteten sich andere Stimmen ein, zu viele, als dass ich sie hätte auseinanderhalten können. Alles, was ich verstand, war, dass diese Stimmen auf Anton einredeten. Zu welchem Ergebnis sie kamen, erfuhr ich nicht mehr. Denn am Rande meines Bewusstseins lockte mich endlich angenehme Dunkelheit, ein süßes Versprechen in Aussicht stellend. Ich wusste mit plötzlicher Gewissheit, ich konnte in sie eintauchen wie in einen Pool und all den Schmerz vergessen. Er wäre nicht mehr existent. Ich sehnte mich danach. Alles andere war mir egal. Ich wollte einfach nur noch vergessen. Und dann kam auch schon die Dunkelheit wie eine sanfte Welle herangerollt und verschluckte mich.

Als ich das nächste Mal aufwachte, war das erste, was ich bemerkte, dass mein Körper kaum noch schmerzte. Zwar fühlte ich noch leichte Nachwehen, aber die waren nichts im Vergleich zu dem brausenden Inferno, das mich zuvor verschlungen hatte. Das nächste, was mir auffiel, war der Geruch nach Wald und Natur um mich herum. Außerdem hörte ich leise, weit entfernte Stimmen. Vorsichtig versuchte ich, die Augen zu öffnen. Bei dem Anblick, der sich mir bot, blinzelte ich. Ich lag auf einer weichen Oberfläche, über mir ein Dach aus...Blumen? Wie die Gänseblümchen-Ketten, die manche Kinder machten, waren sie ineinander verwebt und hingen einfach so in der Luft. Auch eine Wand aus Gras und Blumen stand dort. Sie waren nicht eng miteinander verwebt, sodass genügend Licht hindurchfiel. Aber dass sie ohne Hilfsmittel dort hingen...das war eindeutig Magie.

"Endlich bist du wach", sagte da plötzlich eine männliche Stimme neben mir. Erschrocken wandte ich den Kopf nach rechts, was meinen Nackenmuskel schmerzend aufjaulen ließ. Ich zuckte zusammen. Okay. Vielleicht war doch nicht alles so gut verheilt wie gedacht.
Neben mir saß in einem Stuhl aus...Gras? ein Junge um die zwanzig mit verwuscheltem blondem Haar und leichtem Bartschatten. Seine grauen Augen blitzten mir schalkhaft entgegen.

"Ich hab schon befürchtet, du würdest wie Dornröschen erst aufwachen, wenn jemand kommt und dich wach küsst."

Das brachte mir ein schwaches Lächeln auf die Lippen und selbst das schmerzte. Doch dann fiel mir siedend heiß etwas ein.

"Kilian", sagte ich - nein, krächzte traf es vielmehr, denn meine Kehle war so trocken wie die Sahara. Wortlos reichte mir Blondie ein Glas mit Wasser, das auf einem...Tisch aus Erde neben dem Bett stand. Dankbar wollte ich es entgegennehmen, aber bereits als ich meine Armmuskeln auch nur leicht anspannte, durchzuckte mich ein scharfer Schmerz. Zischend atmete ich ein.

"Komm, ich helf dir", meinte Blondie besorgt, stand auf - er musste bestimmt über 1,80 groß sein - und stützte meinen Kopf, während er mir das Glas Wasser an die Lippen hielt. Mit seiner Hilfe trank ich gierig und währenddessen erklärte er möglichst sachlich:

"Kilian lebt. Sein Zustand ist den Umständen entsprechend...aber stabil. Wir sind hier an einer Stelle im Wald, mit genügend Schutzzaubern umschirmt, dass man uns nicht auffinden kann. Da es ziemlich auffällig wäre, jemanden loszuschicken und Materialien einzukaufen, ist hier alles mit Magie eingerichtet. Du bist jetzt seit vier Tagen bewusstlos und in der Zeit…"

Ich verschluckte mich und musste husten. Dabei schmerzte mir der ganze Brustkorb, die Lunge, die Kehle...als wütete ein Feuer darin. Blondie meinte es nur gut und klopfte mir auf den Rücken, doch sandte so nur noch mehr Schmerz von dieser Stelle aus. Endlich versiegte der Hustenanfall.

"Vier Tage?", fragte ich mit rauer Stimme.
Blondie fuhr sich schwer ausatmend durchs Haar.

"Ja. Deine Verletzungen waren echt nicht ohne. Das wieder in Ordnung zu bringen, war ein ganzes Stück Arbeit. Wir…"

Dabei war ich diesem Schmerz nicht lange ausgesetzt gewesen. Wie lange hatte Kilian das ertragen müssen? Sein Zustand war stabil, hatte Blondie gesagt. Aber was bedeutete das schon? Sorge machte sich beklemmend in meinem Herzen breit.

"Kilian", hauchte ich wieder und sah Blondie voller panischer Sorge an.
"Wie geht es ihm?"
Sein Kiefermuskel zuckte.
"Er war der schwarzen Magie ziemlich lange ausgesetzt. Nur dank der Selbstheilungskräfte, die jeder Werwolf hat, ist er dabei nicht gestorben."

Oh Gott. Ich hätte ihn verlieren können. Einfach so. Und das nach diesem fürchterlichen Streit.

"Wäre es ein natürlicher Blitzschlag gewesen, wäre es nicht so schlimm für einen Werwolf gewesen. Aber schwarze Magie...die hat ihn auch von innen angegriffen. Wir sind froh, dass wir ihn retten konnten. Jetzt müssen wir abwarten. Er muss zwar noch weiter behandelt werden, aber nicht mehr rund um die Uhr."

Je mehr ich hörte, desto banger wurde mir ums Herz. Mein Atem beschleunigte sich bei jedem weiteren Wort mehr. Bilder entstanden vor meinem inneren Auge: wie er auf der Lichtung lag und die roten Blitze in ihn einschlugen. Er wäre tot, wenn er kein Werwolf wäre. Ich hätte ihn verloren.

"Hey."

Plötzlich schob sich Blondies Gesicht dicht vor meines und sanft umfasste er meine Wangen. Trotz der warmen und harmlosen Berührung zuckte ich zurück, was mir aber nur noch mehr Schmerzen einbrachte. Ich zuckte zusammen.

"Hey, sieh mich an", forderte Blondie mit fordernder, aber zugleich sanfter Stimme. Flackernd traf mein Blick wieder auf seinen.

"Du wirst mir jetzt keine Panikattacke bekommen, okay? Du guckst mir jetzt in die Augen. Konzentriere dich ganz auf meine Augen. Auf ihre Farbe. Ihre Beständigkeit. Alles ist gut. Lass deinen Puls wieder langsamer werden. Atme tief ein und aus. Ein" er atmete ein " und aus."

Er atmete wieder aus. Seine beruhigende Stimme war wie eine Rettungsleine, an der ich mich fest hielt. Sie war das Einzige, was mich davor bewahrte, im Meer der Panik fortgerissen zu werden. Und nach einer Weile hatte ich mich wieder beruhigt.

"Danke", flüsterte ich mit gesenktem Blick.
"Kein Problem", meinte Blondie nur und setzte sich wieder auf seinen Grasstuhl.
Eine Weile war es still, da waren nur die singenden Vögel von draußen sowie die Stimmen von Leuten außerhalb dieses Graszeltes. Da endlich nahm ich diese Stimmen nicht nur beiläufig, sondern richtig wahr.
Ich runzelte die Stirn.

"Wer sind all die Leute dort draußen?", fragte ich Blondie. Ich blinzelte. "Wer bist du?"

Bei der letzten Frage zuckte amüsiert sein Mundwinkel.
"Wer ich bin? Gott, offensichtlich ein Typ, der seine Manieren vergessen hat", meinte er über sich selbst den Kopf schüttelnd. Dann sah er mich wieder freundlich lächelnd an.
"Ich bin Ryan. Ein Mischling, wenn du so willst. Zur Hälfte Werwolf, zur Hälfte Hexer. Wobei ich als Hexer echt keine Granate bin. Ich kriege nur die einfachsten Zauber zustande."

Trotz seiner Worte schien er deswegen keineswegs verlegen sein, er zuckte nur wegwerfend mit den Schultern.

"Bin aber auch selber schuld, um ehrlich zu sein. Statt zu üben, renne ich nämlich lieber als Wolf durch die Wälder."
Er nickte mit dem Kopf zur Zeltwand.
"Und die ganzen Leute dort draußen? Manche sind wie ich, andere vollblütige Werwölfe und Hexer, wieder andere nur zu einem Viertel oder Achtel oder frag mich was...na ja, jedenfalls sind wir alle hier, um endlich Frieden zu schaffen zwischen unseren beiden Völkern. Auf Geheiß der Mondgöttin sozusagen. Zumindest haben die Vates das behauptet. Und da jeder ihren Trick mit diesen glühenden Augen so gruselig findet, hören wir lieber mal auf sie, wer weiß, was sie sonst noch so für Tricks aus der Tasche ziehen."

Scherzend zwinkerte er mir zu. Zu einem anderen Zeitpunkt hätte ich vermutlich gelacht. Aber ich war zu verblüfft über seine Worte und außerdem würde Lachen vermutlich nicht weniger wehtun als das einfache Anspannen von Muskeln.

"Das...das kommt unerwartet", brachte ich schließlich stammelnd heraus. Darüber musste Ryan lachen.

"Du hättest Mal unsere Gesichter sehen sollen", meinte er amüsiert. Ich lächelte schwach. Dann holte ich tief Luft - was ich sogleich bereute - und wandte mich entschlossen an Ryan:
"Ich muss Kilian sehen."
Der seufzte nur schwer.

"Ich schlage dir ja nur ungern einen Wunsch ab, Rotkäppchen, aber ich glaube nicht, dass das eine gute Idee ist. Außerdem habe ich den Auftrag, darauf zu achten, dass du das Bett nicht verlässt."
Ich ignorierte den Spitznamen und sagte entschlossen:
"Wenn du mir nicht hilfst, muss ich es eben alleine tun."

Ich musste Kilian einfach sehen. Musste mich mit eigenen Augen davon überzeugen, dass er noch lebte. Dass es ihm gut ging. Was waren dafür schon ein paar Schmerzen? Also holte ich tief Luft und spannte meinen Arm an, um die Grasdecke über meinem Körper beiseite zu schieben. Sofort jagten Schmerzen meine Nerven hinauf, aber ich biss die Zähne zusammen und versuchte es weiter.
Neben mir hörte ich Ryan leise etwas auf Englisch fluchen, dann war er schon da und half mir, die Decke wegzuziehen.

"So schaffst du das nicht", brummte er, "komm, ich helfe dir."
Und schon legte er so vorsichtig wie möglich den Arm unter meinen Rücken und den anderen unter meine Kniekehlen. Dann hob er mich langsam und behutsam hoch. Obwohl er so vorsichtig es ging handelte, durchzuckte mich dennoch der Schmerz. Aber ich hielt durch, biss die Zähne zusammen und hielt mir vor Augen, dass das der einzige Weg zu Kilian war. Ryan hielt mich sicher und doch mit sanftem Griff und fing an zu laufen. Die Arme hatte ich auf meinem Körper abgelegt, denn niemals würde ich es in diesem Zustand schaffen, sie um Ryans Hals zu legen.

"Ist wohl so ein Soul Mate Ding, hm?", fragte Ryan, während er mich aus dem natürlichen Zelt trug. Draußen war es nur unbedeutend heller, da die Sonne vom Blätterdach gedämpft wurde.

"Was meinst du?", fragte ich durch wegen des Schmerzes zusammengebissene Zähne.
"Dass du gleich zu deinem Kilian musst, trotz der Schmerzen natürlich. Dass du dich für ihn dieser Blitz-Tortur unterzogen hast."

Die Erinnerung an dieses höllische Schmerzeninferno ließ mich zittern.
"Würde das nicht jeder tun, wenn er jemanden wirklich liebt?"
"Vermutlich ja", erwiderte Ryan nachdenklich. "Dann liebst du ihn also?"

"Natürlich", murmelte ich. Ich wusste es, Kilian wusste es, warum es verheimlichen?
"Dann verzeih mir diese persönliche Frage, aber warum hat er dich noch nicht markiert?", fragte Ryan neugierig.
"Ich hab zumindest noch keinen Werwolf getroffen, der das nicht tun wollte. Also glaube ich, es geht von dir aus. Nur warum?"
Unwillkürlich spannte ich mich an. Keine gute Idee. Gar keine gute Idee. Ich schloss die Augen, um die Tränen zu verstecken, die mir vor Schmerz gekommen waren.

"Das ist eine lange Geschichte", meinte ich schließlich leise, während ich mich auf meine Atemzüge konzentrierte.

"Du musst es mir nicht erzählen. Sorry, ich besitze oft kein Taktgefühl", meinte Ryan sofort entschuldigend.

Ich musste es ihm nicht erzählen, nein. Aber ich sollte darüber reden. Musste mit jemandem über alles reden. Die ganze Zeit hatte ich alles mit mir selber ausgemacht, hatte Kilian vor jedem versteckt, na ja, außer vor Derya. Aber ich hatte nicht wirklich über meinen Freund sprechen können. Und gerade jetzt, nach dieser Sache...da brauchte ich jemanden zum Reden. Musste mir selbst darüber klar werden, wie es jetzt weitergehen sollte. Ich liebte Kilian. Ich wäre für ihn gestorben. Aber das bedeutete nicht, dass ich ihm verziehen hatte. Er hatte gegen meine Art vorgehen wollen. Hatte verlangt, ich sollte mich auf seine Seite stellen. Und als ich es nicht getan hatte, hatte er mich zurückgestoßen. Konnte ich wirklich mit so jemandem zusammen sein? Die Frage schmerzte, ganz anders als die blitzartigen physischen Schmerzen. Nein, dieser emotionale Schmerz war eher wie ein Brennen. Als würde mir mein Herz gewürgt.
Schließlich sagte ich zu Ryan:

"Ich will schon darüber reden...nur... nicht jetzt. Später."
"Natürlich", sagte er sofort, "egal, was ist, du kannst immer mit mir reden."
"Danke", flüsterte ich ganz leise. Er schien es dennoch gehört zu haben, denn mit dem Daumen strich er kurz und sanft über meinen Rücken.
Dann blieb er plötzlich stehen. "Ryan, was machst du denn da?", fragte eine Frauenstimme empört. "Sie sollte das Bett nicht verlassen!"

"Sie musste ihn sehen, Anita. Sie sind Seelengefährten. Lass ihr doch den Wunsch", sagte Ryan freundlich, aber mit Nachdruck. Das schien die andere zwar nicht zu begeistern, aber sie beugte sich dem und murmelte nur etwas von:
"Aber nicht lange, sie braucht ihre Ruhe", bevor ich ihre Schritte an uns vorbeigehen hörte. Noch immer hielt ich meine Augen geschlossen. Denn so sehr ich Kilian sehen musste, so sehr fürchtete ich mich auch davor. Welcher Anblick würde sich mir bieten?

"Du kannst jetzt die Augen öffnen", meinte Ryan sanft. Dennoch dauerte es einige Augenblicke, bis ich meine Angst überwinden konnte und sie endlich aufschlug. Ryan setzte sich auf den Stuhl neben Kilians Bett, damit ich mir den Kopf nicht so sehr verrenken musste. Und als ich dann hinübersah…

"Bei Mutter Natur", brach es erschüttert aus mir heraus.
Mir bot sich ein grauenvoller Anblick: überall wo nackte Haut zu sehen war, an Kilians Armen, Hals und Gesicht, traten die Adern schwarz hervor und überall waren blaue, grüne und gelbe Flecken. Manche Hautstellen sahen sogar aus, als seien sie geschmolzen. Und seine Finger…

"Sind die etwa gebrochen?", fragte ich entsetzt.
"Schwarze Magie", antwortete Ryan bitter. Dann holte er tief Luft.
"Aber es sieht schlimmer aus, als es ist. Man hat sich zuerst der inneren Verletzungen angenommen. Er wird überleben. Das ist die Hauptsache."

Ryan klang, als wolle er mich beruhigen, ermuntern. Aber Kilian sah nicht aus, als würde es ihm bald gutgehen. Vielmehr sah er aus wie eine Leiche aus der Pathologie von den Krimis, die mein Vater immer so gern schaute. Ich musste schwer schlucken. Er sah aus, als wäre er tot. Nur das minimale Heben und Senken seines Brustkorbs zeigte an, dass dort noch irgendwo Leben in ihm steckte. Ein kleiner Hoffnungsschimmer.

Doch selbst wenn er wieder aufwachte, würde er derselbe sein? Oder hatten Anton und die anderen nicht nur fast sein Leben ausgelöscht...sondern noch viel mehr? Ich wusste es nicht. Aber allein der Gedanke an einen anderen Kilian, einen, in dem nichts mehr außer Hass und Rache existierte, verschreckten mich. Mit einem Mal wäre ich am liebsten bei mir zu Hause, in meinem Bett.
Aber dort konnte ich nicht wieder hin. Allein der Gedanke an meine Familie schmerzte. Was mussten sie von mir denken? Wahrscheinlich hassten sie mich. Ich konnte nicht zu ihnen zurück.
Aber auch hier gehörte ich nicht wirklich hin. Vor meinen Augen lag ein zerstörter Kilian. Und in diesem Moment fragte ich mich, ob mit diesen roten Blitzen noch so viel mehr als Körperliches zerstört worden war. Ob auch unsere Liebe vernichtet wurde. Oder zumindest die Hoffnung auf eine Beziehung zwischen uns. Denn lieben würde ich ihn immer. Und wenn er bleibende Schäden von diesem Angriff davontragen würde. Aber mit ihm zusammen sein? Ich wusste es nicht. Wusste gar nichts mehr.

Da ich seinen Anblick und den Schmerz, den es mir brachte, nicht länger ertragen konnte, bat ich Ryan mit gebrochener Stimme:

"Bring mich wieder zurück."

Ich wusste nicht, ob ich damit das Bett in diesem natürlichen Zelt meinte, oder die Vergangenheit, in der alles noch glücklicher und leichter schien. Aber Ryan brachte mich zurück in mein Naturbett. Denn das war die einzige Wahl, die ich hatte. Das hier war mein neues Leben.
Ob ich es wollte oder nicht.

-----------------------------------------------------------
Ende des 1. Teils!

Hey, würde mich freuen, wenn ihr noch die Danksagung lesen würdet. Da steht dann auch drin, wie's weiter geht ☺️

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top