Kapitel 52 - Beherrschung

Kilians p.o.v

Wie ich hier so mit Xenia auf der Lichtung lag und die Wolken am Himmel vorübergleiten beobachtete, hatte ich plötzlich ein Déjà-vu. Wie oft schon hatte ich solche Momente mit meiner Mutter geteilt? Wie oft schon hatten wir die Wolken betrachtet und ihnen die skurrilsten Tiernamen zugeordnet? Erinnerungen brachen über mich herein und zeitgleich überschwemmte mich das Gefühl von Nostalgie und dem nur allzu vertrauten Schmerz seit ihrem Tod. Denn es würde nun nie wieder so sein. Doch davon abgesehen kam noch ein neues Gefühl hinzu, das ich vor ein paar Tagen noch nicht gehabt hatte: Verrat. Der Schmerz darüber, von ihr verraten worden zu sein.

"Kilian?"
Eine leichte Berührung an meinem Arm riss mich aus dem ewigen Gefühlsmeer in meinem Inneren. Ich wandte den Kopf und sah Xenia an, die mich aus besorgten braunen Augen betrachtete, eine stumme Frage in ihnen. Was ist los?

Ich seufzte.
"Sorry, ich musste nur gerade an meine Mutter denken. Wir haben oft einfach dagelegen und die Wolken beobachtet und gesagt, welchen Tieren oder Dingen sie ähneln."

Verständnis leuchtete in Xenias warmen Augen auf und sie drückte mitfühlend meinen Arm.

"Was ist mit ihr passiert?", fragte Xenia zögerlich, als wäre sie sich nicht ganz sicher, ob ich schon bereit war, mit ihr darüber zu sprechen.

Ich holte tief Luft und stieß sie dann wieder seufzend aus. War ich bereit? Xenia und ich kannten uns noch nicht lange und doch kam mir unsere gemeinsame Zeit bereits wie Monate vor. Ich vertraute Xenia. Ich konnte sogar schon sagen, in sie verliebt zu sein. Und als ich in mich ging, erkannte ich, dass ich bereit war, ihr mehr von mir zu erzählen. Nun ja, zumindest einen Teil. Von der Schlacht und den Hexen, die mein Rudel angegriffen hatten...das würde ich ihr später erzählen. Nicht, weil ich befürchtete, dass sie mir nicht glauben würde. Nein, ich wollte nur nicht mit ansehen, wie sie die Wahrheit über die Grausamkeiten ihrer Art erfuhr. Natürlich würde ich es ihr irgendwann sagen müssen, aber jetzt wollte ich diesen Moment noch ein wenig hinauszögern. Also erklärte ich nur:

"Meine Mutter ist gestorben, wie du dir vermutlich schon zusammengereimt hast. Mein Vater und meine kleine Schwester auch. Das war vor ein paar Monaten. Seitdem bin ich umhergestreift, bis mich mein neues Rudel freundlich aufgenommen hat."

Die Worte kamen tonlos heraus, abgehackt. Ich konnte es nicht verhindern, die Wunden waren noch immer nicht ganz verheilt.

"Oh Gott", sagte Xenia, setzte sich auf und beugte sich zu mir hinunter, nahm mich in den Arm, so gut es ihr möglich war.
"Das tut mir so leid, Kilian", murmelte sie an meiner Haut, ihre Stimme rau vor stummen Entsetzen. Sie war so mitfühlend. Wie würde sie erst reagieren, wenn sie erfuhr, dass es die Hexen waren, die das getan hatten? Ich wollte es mir zwar nicht vorstellen, wollte mir nicht das Grauen ausmalen, das sie dann überfallen würde. Also erwiderte ich nur stumm ihre Umarmung, sog ihren Duft nach Frühling in mich auf und genoss ihre Nähe, ihre Wärme.
Ich habe keine Ahnung, wie aus einer harmlosen Umarmung so viel mehr werden konnte.

Wir verharrten eine Weile einfach so in dieser herzlichen Umarmung, als sich plötzlich meine Instinkte meldeten. Da nächsten Samstag Vollmond war, wurde ich nicht nur stärker, nein, auch meine Instinkte gewannen an Kraft.
Ich biss die Zähne zusammen und spannte mich an, versuchte mein Bestes, meine Instinkte zurückdrängen, aber es war so verdammt schwer. Xenia merkte natürlich, dass etwas nicht stimmte.
"Kilian?"

Sie löste sich etwas von mir, sodass sie mich fragend anblicken konnte. Sofort fiel mein Blick auf ihre himbeerroten Lippen. Dieser eine Blick schon war mein Untergang. Der Paarungsinstinkt in mir zerriss seine mit Titan verstärkten Fesseln und übernahm brüllend meinen Körper. Keine Sekunde später lagen meine Lippen plötzlich auf Xenias.

Ich spürte ihre Überraschung und hoffte, dass sie den Kuss nicht erwiderte, dass sie das hier abbrach, obwohl alles in mir danach drängte. Aber wenn sie es nicht tat, konnte ich für nichts mehr garantieren. Wenige Sekunden später traf sie schließlich ihre Entscheidung. Und erwiderte den Kuss. Der Wolf in mir heulte triumphierend auf, während der menschliche Teil zur Mondgöttin betete.

Währenddessen öffnete Xenia den Mund, was ich ihr sogleich nachtat. Unsere Zungen trafen sich und gleichzeitig explodierte ein Feuerwerk in mir. Mit den Händen an ihrer Taille presste ich sie ganz nah an mich. Doch sie lag nur mit dem Oberkörper auf mir. Ich knurrte leise. Und sie verstand entweder meine wortlose Aufforderung oder sie folgte ihrem eigenen Bedürfnis. Jedenfalls krabbelte sie ganz auf mich, was ich mit einem Geräusch ähnlich einem Schnurren quittierte.

Keuchend lösten wir uns voneinander, um Luft zu holen. Ihr Blick war verhangen und ihre Lippen leicht geschwollen. Sie sah wunderschön aus.
So schön, dass ich nicht anders konnte, als mit den Lippen wieder ihre zu treffen.
Mein Körper summte vor Verlangen und prickelnder Liebe. Ich drehte uns beide herum, sodass sie unter mir auf dem Gras lag und stützte meine Arme neben ihr auf, sodass ich sie nicht mit meinem Gewicht erdrückte. Einige Momente lang knutschten wir einfach wie normale Teenager und alles in mir jubilierte darüber. Mein Blut sang vor Glück, meine Lippen prickelten und ich dachte schon, den Paarungsinstinkt bezwungen zu haben. Ich war wohl blind vor Liebe, wie man so schön sagt. Oder vielleicht auch eher blind vor Verlangen.

Wie von selbst küsste ich mir den Weg über Xenias Kieferlinie hinab zu ihrem Hals, so, als folgten meine Lippen einer unsichtbaren Spur. Keuchend lag Xenia da und bot mir ihren wunderschönen Hals dar. Vertrauensvoll. Ohne zu zögern.
Alles in mir brannte darauf, sie als meins zu markieren. Ich konnte kaum noch klar denken, das Verlangen beherrschte mich ganz und gar.
Vor mir sah ich ihren schwanengleichen Hals, ihr Duft nahm mich völlig gefangen und alles zog mich zu ihr hin.

Ich spannte mich an, meine Muskeln zogen sich zusammen, doch sie würden nicht viel ausrichten können. Wenn ich nicht von hier wegkam, würde ich sie beißen. Und ich wusste, dass sie das nicht erfreuen würde.
Dieser Gedanke ging fast unter in dem Gebrüll meines Wolfes, der mich aufforderte, es endlich zu tun. Letztendlich konnte ich nicht sagen, wie ich es geschafft hatte. Doch plötzlich hatte ich mich von Xenia gerollt und stand auf. Schnell stolperte ich ein paar Schritte von ihr weg.
Jeder Zentimeter war schwerer als der vorherige.
Besonders als ihre Stimme das Brüllen in meinem Kopf unterbrach:

"Kilian? Was ist los? Alles okay? Hab ich…"
Sie stockte, zögernd, unsicher. Noch immer mit dem Rücken zu ihr hörte ich sie schwer schlucken und sagen:

"Hab ich was falsch gemacht?"

Abrupt hielt ich inne. Wie kam sie denn nur darauf? Ich nahm mich zusammen und drehte mich zu ihr um. Ihr Anblick traf mich wie eine mit Honig beschmierte Klinge mitten ins Herz. Wie die Verheißung selbst lag sie mit geröteten Wangen und himbeerroten Lippen da, einen so verletzlichen Blick in den warmen braunen Augen. Ich musste schwer schlucken. Obwohl alles in mir mich zu ihr zog, durfte ich diesem Drängen nicht nachgeben. Und das war schwerer als gedacht. Verdammt, ich würde es freiwillig mit allen Hexen auf einmal aufnehmen, als mich noch länger von ihr fernhalten zu müssen.

"Kilian?"
Unsicher blickte sie mich an. Natürlich. Sie hatte mich ja was gefragt. Doch ich Vollidiot hatte bisher nichts anderes fertiggebracht, als sie anzustarren wie ein fünf Sterne Menü, das ich aber nicht essen durfte.

Ich schluckte wieder schwer, dann sah ich ihr fest in die Augen. Ich wollte, dass sie die Wahrheit in ihnen erkannte.

"Du könntest nie etwas falsch machen, Xenia. Du bist perfekt. Zu perfekt."
Ich biss die Zähne zusammen, musste den Blick abwenden und tief einatmen. Als würde das irgendetwas helfen. Mein Verlangen und meine Sehnsucht brannten noch immer genauso stark wie zuvor.

"Ich kann mich kaum beherrschen", presste ich durch zusammengebissenen Zähnen hindurch. Einen Moment war Stille. Dann hörte ich ein Seufzen.
"Ach Kilian…"
Aus dem Augenwinkel sah ich, wie sie Anstalten machte aufzustehen und zu mir zu gehen.

"Nicht!" Ich hob warnend die Hand, aber sie hörte nicht auf mich, sondern erhob sich vollends und kam mit vertrauensvollem Blick auf mich zu.

"Ich glaube an dich, Kilian. Ich glaube daran, dass…"

Panisch wich ich an einen Baum in meinem Rücken zurück. Meine Selbstbeherrschung hing nur noch an einem seidenen Fetzen von Faden, kaum nennenswert. Wenn sie mir noch näher kam, würde ich nicht mehr an mich halten können. Sie tat nicht gut daran, an mich zu glauben. Und doch tat sie es. Was mich sonst in Begeisterungsstürme hätte ausbrechen lassen, ließ mich jetzt nur noch panisch werden.

Da stieß ich auch schon an Holz in meinem Rücken. Der Baum. Und sie kam noch immer weiter auf mich zu. Ich sah keine andere Möglichkeit mehr. Im einen Moment stand ich noch als panischer Junge vor ihr, im nächsten als Wolf.
Verdutzt blieb sie stehen.

"Kilian…"

Doch das war es nicht, was meine Aufmerksamkeit errang. Nein, ich dachte, etwas gehört zu haben. Meine Ohren zuckten nach vorne und mein Blick glitt an Xenia vorbei zu einem Gebüsch. Doch ich konnte nichts entdecken. Wahrscheinlich war es nur irgendein Tier gewesen und dennoch….Ich sollte nachsehen. Wenn es nun ein Hexer gewesen war? Doch da kam schon ein braunes Kaninchen aus dem Gebüsch gehoppelt und meine Muskeln lockerten sich wieder. Also doch nur ein Tier. Vermutlich war ich wegen der ganzen Sache schon richtig paranoid geworden.

Da sah ich Xenia plötzlich auf mich zukommen. Sie machte einen vorsichtigen Schritt in meine Richtung. Meine Ohren zuckten und mit heftig schlagendem Herzen wartete ich ab.
Sie hatte mich noch nie in Wolfsgestalt gesehen. Wie würde sie jetzt reagieren?

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