Kapitel 35 - Hexenkreis
Xenias p.o.v.
Ich weiß nicht, wie ich diesen Schultag rumbrachte. Ich hatte ein schlechtes Gewissen, obwohl das nicht nötig war. Aber ich hatte die Enttäuschung auf Kilians Gesicht gesehen. Und obwohl er noch nicht fragte, sie sogar vor mir verstecken wollte….hatte ich ein schlechtes Gewissen. Denn ich wollte ja selbst meine Zeit am liebsten mit ihm verbringen statt zum Hexenkreis zu gehen.
Allerdings war der Hexenkreis uns Hexen heilig. Wenn ich nicht auftauchte, würde das auffallen, manch einer würde Fragen stellen. So etwas konnte ich mir nicht leisten.
Und ihn mit einladen konnte ich ja erst Recht nicht.
Also stand ich diesen Tag irgendwie durch und ging nach der Schule kurz nach Hause, um meinen Rucksack abzuladen, mich kurz frisch zu machen und was zu essen, bevor ich mich auf den Weg zu Markus und Lilian machte, bei denen heute der Hexenkreis stattfinden würde.
Ich fuhr mit dem Zug, der natürlich ein paar Minuten Verspätung hatte. So viel zu dem Klischee, Deutsche kämen immer pünktlich. Auf die Deutsche Bahn traf das nur äußerst selten zu, wie ich aus eigener Erfahrung sagen konnte.
Nach ein bisschen Fußweg stand ich schließlich vor dem weißen einstöckigen Haus von Lilian und Markus. Auf dem Gehweg standen einige Wagen, schließlich kamen nicht alle mit dem Zug so wie ich.
Nachdem ich geklingelt hatte, wurde mir auch sogleich die Tür geöffnet.
"Hallo, Xenia!", rief Lilian freudig aus und schloss mich in eine kurze, aber feste Umarmung.
Sie war ein bisschen größer als ich und hatte wunderschönes langes hellblondes Haar und braune Augen.
"Komm rein, ich habe schon eine Schokoladenkuchen gebacken. Es sind schon ein paar da, die anderen kommen auch bald."
Ich lächelte und sagte:
"Schokokuchen ist super."
Ich versuchte wirklich, Freude vorzugaukeln, aber um ehrlich zu sein hätte ich Zeit mit Kilian einem Schokokuchen vorgezogen. Lilian schien meine fehlende Begeisterung zum Glück nicht zu bemerken, sondern ging mir voraus zum Esszimmer.
Dort angekommen hielt ich erst einmal verdutzt inne. Am Tisch saß ein Mann in den Vierzigern, den ich noch nicht kannte. Er hatte kurzes dunkles Haar, eisblaue Augen und scharfe Gesichtszüge.
Seine Schultern waren kräftig, er musste bestimmt regelmäßig Sport machen.
Er hätte ganz sympathisch wirken können, wären da nicht diese Augen.
Als er sie auf mich richtete, überlief mich unwillkürlich ein kalter Schauer.
In diesen Augen lag eine so klirrende Kälte, dass mir ganz unwohl wurde. Die Tatsache, dass er mich mit seinem Blick zu durchbohren schien, half auch nicht gerade weiter.
"Oh,", sagte Lilian und drehte sich halb zu mir um, "darf ich dir unseren Gast vorstellen: Xenia, das ist Anton. Anton, das ist Xenia."
"Freut mich, Sie kennenzulernen", meinte ich etwas steif und nickte ihm zu.
Er musterte mich nur einen Moment kühl, dann nickte er zurück und wandte den Blick ab.
Wow. Wie nett. Es freute mich wirklich, ihn kennenzulernen. Man bemerke den Sarkasmus.
Ich setzte mich an die Mitte des Tisches, und tat so, als würde ich das nur wegen des Kuchens dort machen und nicht etwa, weil ich so viel Abstand wie möglich zwischen dem Mann am Kopfende und mir bringen wollte.
"Anton ist ein sehr erfolgreicher Mann", erzählte Lilian bewundernd.
"Ach ja?", murmelte ich, während ich mir ein Kuchenstück auf den Teller legte.
"Oh ja," fuhr Lilian fort, "er hat schon viele dieser Bestien eliminiert, hat viele Hexen und Hexer vor ihnen gerettet."
Sie machte eine kurze Pause und lächelte ihn an. "Er ist ein wahrer Held."
"Sie übertreiben, meine Liebste", meinte dieser Anton mit einem nachsichtigen Lächeln, das seine Augen jedoch kein Stück wärmer erscheinen ließ.
"Ach, Sie sind so bescheiden!", rief Lilian aus, "Dabei stimmt es doch. Erlauben sie mir, Xenia von ihren vielen Taten zu erzählen."
Sie setzte sich auf den Stuhl neben mir, bevor Anton eine Antwort geben konnte. Allerdings hatte ich sowieso nicht das Gefühl, dass er sich gegen diese Aufmerksamkeit wehren wollte. Es schien ihm vielmehr gleichgültig zu sein.
"Obwohl er schon so manche Narbe von Begegnungen mit den Monstern davongetragen hat, hat er nie den Kampf aufgegeben. Tapfer kämpft er auch heute noch weiter. Na ja, man muss auch hinzufügen, dass er einen persönlichen Grund dafür hat.*
Nun etwas unsicher blickte Lilian Anton an.
"Macht es dir etwas aus, wenn ich….?"
Anton unterbrach sie.
"Diese Geschichte sollte vielleicht lieber ich erzählen."
"Natürlich", beteuerte Lilian und sah ihn erwartungsvoll an. Sie hing bereits an seinen Lippen, bevor er überhaupt etwas gesagt hatte.
So hatte ich sie noch nie erlebt. Ich fragte mich, was ihr Mann Markus dazu sagte. Oder ob er nicht hier war, weil er kaum mit ansehen konnte, wie seine Frau einen anderen so sehr verehrte.
Aber bevor ich mir mehr Gedanken darüber machen konnte, fing Anton auch schon ruhig und bedächtig an zu erzählen.
"Ich war in der Oberstufe mit einem bezaubernden Mädchen zusammen, ebenfalls eine Hexe. Wir liebten uns und wussten, dass das mit uns für die Ewigkeit war. Wir hatten uns unsere Zukunft bereits ausgemalt: unsere Hochzeit, wie wir unsere Kinder nennen würden, wo wir wohnen würden, was wir alles tun würden...wir waren glücklich. Aber dann kam er. Ein Werwolf", er spuckte das Wort so abfällig aus, dass ich zusammenzuckte.
Lilian nickte mitleidig. Mir wurde klar, dass diese Geschichte nur ein schlimmes Ende nehmen konnte.
"Er hat sie schon vom ersten Blick an gewollt. Es war ihm egal, dass sie mit mir zusammen war und dass sie ihn nicht wollte, obwohl er sich sehr um sie bemühte. Egal, wie oft ich ihm sagte, er solle sie in Ruhe lassen, er hat nur immer dasselbe geantwortet: "wir sind Seelengefährten. Wir gehören zusammen."", verächtlich imitierte er den Werwolf.
"Ich hab es auf allen Wegen versucht, aber es war nicht mit ihm zu reden. Und schließlich kam jene Nacht."
Hier machte er eine kurze Pause, als müsste er sich selbst davor wappnen, das Folgende auszusprechen.
Gegen meinen Willen hielt ich den Atem an, so sehr nahm mich die Angst auf das kommende gefangen.
"Er hat sie vergewaltigt", sagte Anton schließlich verbittert.
"Was?", stieß ich erschrocken aus.
Lilian seufzte nur traurig.
Diesmal sah Anton mir in die Augen, diese blauen Eiszapfen schienen mich geradewegs zu durchbohren.
"Er hat sie sich geschnappt und vergewaltigt. Und damit sie auch wirklich ihm gehört, hat er sie markiert", erklärte er ernst und voller Kälte.
Ich blinzelte.
"Markiert?", fragte ich irritiert nach.
In meiner Vorstellung sah ich einen Hund an eine Frau pinkeln.
"Mit der Markierung können Werwölfe Frauen an sich binden. Dabei beißen sie der Frau in den Hals und somit sind sie bis zu ihrem Tod untrennbar miteinander verbunden. Die Frau ist wie eine Gefangene, ohne den Werwolf kann sie nicht leben. Deshalb konnte ich sie nicht retten."
Er senkte den Blick wieder auf den Tisch, wie in schwerer Schuld.
Lilian tätschelte mitleidig seine Hand.
"Du kannst nichts dafür, das ist alles die Schuld dieser Bestien."
"Ich hätte sie retten müssen", meinte er mit schuldbewusster Stimme.
"Du hast bereits so viel getan, Anton. Niemand kann die ganze Welt retten."
Ich konnte kaum ihren Worten folgen, so sehr nahmen mich Antons Worte ein. Schwer wie Steine sanken sie auf den Grund meiner Seele und setzten sich dort fest. Seelengefährten. Ich hatte nicht daran geglaubt. Und doch war da etwas zwischen Kilian und mir. Sollte das alles nun doch nur eine bloße Lüge gewesen sein? Und das mit dieser Markierung...Kilian hatte nichts davon erwähnt. Weil er es vergessen hatte? Oder bewusst weggelassen hatte? Würde er mich um Erlaubnis bitten oder mich dazu zwingen, ob ich wollte oder nicht?
Ich konnte Kilian eine solche Tat nicht zutrauen, aber was wusste ich schon von ihm? Genau, kaum etwas. Meines Wissens nach konnte er zu allem fähig sein, egal was mir mein Bauchgefühl sagte.
Andererseits….meine Art hatte bereits gelogen, was das Monströse an Werwölfen anging. Denn Kilian mochte viel sein, besonders monströs wirkte er nicht auf mich. Und ich bildete mir ein, dass meine Menschenkenntnis ein Monster erkennen konnte.
Vielleicht sollte ich ihn einfach fragen. Es mochte naiv erscheinen, aber war es nicht besser, als von vorneherein das Schlimmste von ihm anzunehmen? Manchmal war es besser, sich beide Seiten anzuhören, um sich ein Bild machen zu können. Wobei, nicht nur manchmal, sondern immer, oder etwa nicht? Das sagte schließlich auch ein lateinisches Sprichwort: Audiatur et altera pars, es soll auch die andere Seite gehört werden. Zwar wandte man diesen Spruch eher im Rechtswesen an, aber war das hier nicht eine ähnliche Situation? Schließlich war das, was Anton da erzählte wie eine Anklage. Und ich würde herausfinden, ob sie wahr war.
Dann erst würde ich eine Entscheidung treffen.
Und obwohl ich nun beschlossen hatte, dass ich so vorgehen wollte, konnte ich mich kaum auf den Hexenkreis konzentrieren, bekam kaum mit wie die anderen eintrafen, alle darüber sprachen, dass kaum ein Werwolf gesichtet wurde, man aber weiterhin suche und diese ausdehnen wollte.
Es interessierte mich nicht. Schweigend aß ich meinen Kuchen und machte mir Sorgen um Kilians Antwort. Machte mir Sorgen, dass Antons Geschichte ein Korn Wahrheit enthielt.
Denn wenn es wahr war….dann würde meine Entscheidung nein lauten. Ich konnte nicht mit jemandem zusammen sein, an den ich gebunden war, bei dem ich keine freie Wahl hatte.
Nicht dass ich ihn betrügen wollte, ich hatte das selbst erlebt und könnte es keinem anderen antun. Aber wenn ich nicht mehr entscheiden könnte bei Kilian zu bleiben, würde ich mir noch irgendwann wie eine Gefangene vorkommen.
Und eine Beziehung auf solch einer Ebene anzufangen...das konnte nicht gut gehen.
Nach einer Weile schließlich spürte ich einen Blick auf mir liegen. Ich sah auf und suchte nach meinem Beobachter. Da trafen meine Augen auf seine. Anton. Seine stahlharten Augen starrten mich an, als wollten sie bis in mein Inneres vordringen. Plötzlich fühlte ich mich unwohl, fast schon paranoid. Wusste er es? Ahnte er etwas? Es wäre fatal, wenn ausgerechnet er von Kilian wüsste...sie könnten mich verfolgen und leicht zu ihm finden. Das durfte ich nicht zulassen. Ich musste Sicherheitsmaßnahmen ergreifen. Die letzten Male war ich viel zu unvorsichtig gewesen. Das musste ich ändern. Besonders wenn dieser Mann in der Nähe war.
Denn egal, was es mit dieser Markierung auf sich hatte, Kilians Tod wollte ich nicht riskieren.
Um also keinen Verdacht auf mich zu bringen, hob ich fragend die Augenbrauen.
Anton lächelte nur schmallippig und widmete sich wieder seinem Kaffee.
In den nächsten Stunden bemühte ich mich darum, alle Gedanken an Kilian von mir zu schieben und so normal wie möglich zu wirken. Ich klinkte mich sogar ein paarmal ins Gespräch mit ein und schaffte es, abfällig über Werwölfe zu sprechen.
Und doch meinte ich noch ein paar Male diesen brennenden Blick auf mir zu spüren…
Aber ich ließ mir nichts anmerken und hoffte, dass meine Farce funktionierte.
Heute Abend, beschloss ich. Noch heute Abend werde ich zu Kilian gehen, mit allen Sicherheitsmaßnahmen, die ich kenne.
Keiner würde mir folgen können, zumindest nicht ohne dass ich es wusste, dafür würde ich sorgen.
Und dann würde ich Kilian zur Rede stellen.
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