Kapitel 32 - Beschützerinstinkt

Kilians p.o.v.

Ich musste mich beherrschen, Xenia den Rest des Weges allein gehen zu lassen. Am liebsten würde ich sie bis vor ihre Haustür begleiten und dort warten, bis sie dahinter im Haus verschwunden ist.
Es war mir klar, dass es noch nicht allzu spät war und die Wahrscheinlichkeit, dass sie auf dem Rest des Weges überfallen wird, sehr gering.
Und doch war da dieser unbändige Drang, sie um jeden Preis zu beschützen.
Ein alter Instinkt, der bis zu unseren Urahnen zurück ging. Wir Werwölfe waren Beschützer. Dieser Beschützerinstinkt war bei Freunden schon stark, doch bei Mates erreichte er seinen Höhepunkt.

Xenia musste mehrmals wiederholen, dass sie sich selbst zu verteidigen wusste, doch noch immer wollte ich sie kaum alleine gehen lassen.
So sehr ich gegen diesen Instinkt ankämpfte, es ging einfach nicht.
Wie ein kompletter Idiot stand ich auf dem Gehweg und weigerte mich, ihre Hand loszulassen.

Genervt meinte sie:

"Wenn du mich nicht endlich loslässt und allein nach Hause gehen lässt, sehe ich mich gezwungen, dir einen Juckreiz auf den Hals zu jagen. Und glaub mir, das ist nicht lustig."

Ernst sah sie mich an, doch mir war das egal. Mit einem hartnäckigen Juckreiz konnte ich umgehen.
"Ich kann dir unauffällig folgen", argumentierte ich.
Im Grunde war mir bewusst, dass ich mich lächerlich aufführte. Aber ich konnte einfach nicht anders.

Schließlich seufzte sie tief, dann blickte sie mich einen Moment nachdenklich an, bevor sie schließlich langsam sagte:
"Wenn du immer so bist, überlege ich mir das mit der Chance vielleicht noch."

Alles in mir spannte sich an, noch mehr als ich ohnehin schon war.
Keinesfalls wollte ich riskieren, dass sie mich ablehnte.
Aber....ihre Sicherheit....
Verdammt.

"Bitte, Kilian", flüsterte sie und sah mich mit diesen großen braunen Augen an.
Dann streckte sie ihre eine Hand nach meinem Gesicht aus...und streichelte sanft meine Wange.
Ich konnte nichts dagegen tun, unwillkürlich schloss ich die Augen und schmiegte ich mich in ihre warme Berührung.

"Gib mir ein bisschen Freiraum", bat sie leise.
Ich biss die Zähne zusammen, unwillig. Aber sie hatte Recht und ich wusste es. Ich musste mich nur noch irgendwie zusammenreißen.
Schließlich holte ich tief Atem und meinte zu ihr: "Schreib mir, wenn du zu Hause angekommen bist, okay? Ich gebe dir meine Nummer."

Sie verdrehte die Augen, errötete aber leicht und holte ihr Handy aus der Tasche.
Sie gab es mir und ich öffnete die Liste ihrer Kontakte und fügte mich hinzu.
Nur ein paar Klicke, aber es war ein angenehmes Gefühl, meine Nummer in ihrem Handy eingespeichert zu sehen.
Ich gab ihr ihr Handy zurück und konnte mich einfach nicht zurückhalten, ihr noch einen sanften Kuss auf die Wange zu hauchen, bevor ich einen Schritt zurücktrat.
Ihre Wangen hatten eine tiefere Farbe angenommen. Ich lächelte. Und sagte:
"Wir sehen uns morgen, ja?"

Sie nickte leicht und ich trat noch weiter zurück, um nicht der Versuchung nachzugeben.
Der Versuchung, sie an mich zu ziehen und nie wieder loszulassen.
Aber den Blick konnte ich einfach nicht von ihr wenden.
Die Sonne ging hinter mir unter und ihre letzten Strahlen ließen Xenias rotes Haar aufleuchten, als wäre sie die Sonne selbst.
Ihre Wangen schienen mit ihrem Haar um das tiefere Rot zu kämpfen und ihre braunen Augen waren so warm wie helle Schokolade.
Sie war wunderschön, wie sie so dastand.

Schwer schluckend ging ich weiter zurück, bekämpfte einen weiteren Instinkt in mir. Einen Instinkt, der das Fortleben der Werwölfe garantieren sollte. Allerdings befürchtete ich, dass sie diesen übermächtigen, wölfischen Paarungsinstinkt nicht verstehen würde.
Es war ja auch viel zu früh. Ich musste es langsam angehen. Langsam. Vielleicht würde ich es auch irgendwann akzeptieren können, wenn ich es mir nur oft genug sagte.

"Schlaf gut, meine Hübsche", flüsterte ich und nach einem letzten sehnsüchtigen Blick auf ihr, zwang ich mich, umzudrehen und sie allein zu lassen.
Jeder Schritt wog eine ganze Tonne, es war, als wäre die Schwerkraft der Erde verschoben worden, sodass mich nun alles zu ihr hinzog.
Ich widerstand zähneknirschend diesem Drang und lief nach Hause.

Na ja, zumindest dorthin, wo Derya uns kurioserweise eine Wohnung beschafft hatte. Und das innerhalb von Stunden.
Ich hinterfragte es am besten gar nicht, auch wenn es mich brennend interessierte, wie sie so etwas schaffen konnte.
Aber wenigstens hatten wir nun eine Wohnung und mein Rudel war in Sicherheit.
Auch wenn der Abstand zu ihnen schmerzte.
Aber ich hatte Derya. Und meine Mate.
Ich würde es schaffen.

Prompt fielen meine Gedanken dieser Person zu: Xenia.
Den ganzen Weg über hing ich ihr nach, ließ unser erstes Date Revue passieren.
Wie ich sie in den Wald geführt hatte, so nah zu ihr, zu einem ersten Date und mein Glück kaum fassen konnte.
Wie sie zuerst das leise Rauschen des Wassers nicht gehört hatte, ihr Stirnrunzeln, weil sie etwas anderes erwartet hatte.
Und dann wie sie den Bach gesehen hatte, wie ich ihr die Böschung hinuntergeholfen hatte und dieser eine unbeschreibliche Moment...
Und dann war ich im Bach gelandet.
Bei der Erinnerung musste ich grinsen, vor allem als ich darüber nachdachte, wie wir uns gejagt hatten und dann beisammensaßen...

Ich war schon lange nicht mehr so glücklich gewesen.
Und vielleicht sollte mir das Angst machen. Vielleicht sollte ich mich davor fürchten, dass sie solch eine Macht über mich und meine Gefühle hatte.
Denn wie leicht konnte mich das zerstören, wenn sie sich von mir abwandte?
Aber daran wollte ich nicht denken. Wollte einfach nur die Gegenwart genießen und alles dafür tun, dass sie immer bei mir blieb.
Und doch wandten sich meine Gedanken nun einem anderen unangenehmen Thema zu: meiner fehlenden Selbstbeherrschung.

Ich hätte sie geküsst, wäre ich nicht in den Bach gefallen.
Und obwohl sie bestimmt nichts gegen einen Kuss einzuwenden gehabt hätte, wäre es doch zu früh gewesen.
Vor allem, weil ich befürchtete, dass ich nicht hätte aufhören können.
Und das machte mir Angst.

Werwölfe sind dafür bekannt, dass sie in den ersten Wochen und Monaten, nachdem sie ihre Mate gefunden haben, nicht von ihr oder ihm ablassen können.
Erst mit der Zeit wird es dann erträglicher.

Aber Xenia war eine Hexe. Ich glaubte nicht, dass sie das verstehen, geschweige denn akzeptieren könnte.
Also musste ich mich wohl oder übel zusammenreißen.
Ich hoffte nur, mir gelang das.
Plötzlich vibrierte mein Handy in meiner Hosentasche und peinlich schnell hatte ich es auch schon in der Hand. Es war Xenia. Lächelnd öffnete ich die Nachricht.

Ich bin heil zu Hause angekommen und esse gleich zu Abend. Beruhigt?

Grinsend antwortete ich, während ich weiterlief:
Kommt drauf an. Was gibt es zum Essen? Denn der Akt der Nahrungsaufnahme kann sehr gefährlich sein.

Ihre Antwort ließ nicht lange auf sich warten:
Du wirst es kaum glauben, aber bisher bin ich nur einmal fast erstickt beim Essen. Und das, obwohl ich 3 Mal am Tag was zu mir nehme. Ich würde Essen also als ungefährlich abstempeln.

Um sie ein wenig zu ärgern, schrieb ich;
Ich nicht. Meiner Meinung nach brauchst du einen Beschützer, der im Falle eines Falles bei dir ist. Ich kann immer noch umdrehen. Es braucht nur ein Wort von dir, meine Hübsche 😉

In meiner Vorstellung sah ich sie, wie sie bei dem Kosenamen rot wurde und ein Lächeln auf den schönen Lippen trug.

Aha. Und was ist mit dir? Wer beschützt dich?

Wer beschützt dich ? Mein Lächeln schwand bei der Frage. Meine Mutter hatte mich beschützt, in den letzten Momenten ihres Lebens. Mein Rudel hatte mich beschützt. Und ich hatte sie im Stich gelassen. Der Schmerz war noch so frisch, dass ich mir unwillkürlich über die Brust rieb, als könnte ich dort eine reale Wunde spüren. Aber natürlich war die Wunde nur psychisch. Was sie dennoch nicht weniger real machte.
Tief atmete ich aus und starrte hoch in den Himmel, der bereits dunkler geworden ist.
"Vielleicht beschützt ihr mich immer noch. Dabei hab ich das gar nicht verdient", flüsterte ich leise.

Schließlich sah ich wieder auf mein Handy und schrieb:
Ich brauche keinen Beschützer. Ich kann gut selbst auf mich aufpassen;)

Neckende Worte. Und eine Lüge. Denn die Wahrheit war, dass ich keinen Beschützer verdient hatte, keinen Schutz. Aber das konnte ich ihr nicht schreiben. Denn sonst würde sie mich fragen und für die Geschichte war es viel zu früh. Mate hin oder her.

Und ich kann das etwa nicht?, kam die empörte Antwort.
Ich lächelte und antwortete:

Doch. Aber jemand so Tolles wie du verdient zwei Beschützer und ich nehme ganz gern die Ehre an, dieser 2. Beschützer sein zu dürfen.

Ihre Antwort ließ auf sich warten. Was mich herausfinden ließ, dass ich ganz schön ungeduldig sein konnte. Jede zweite Sekunde guckte ich auf mein Handy, während ich lief.
Schließlich kam nur das:
Ich esse jetzt.. wir sehen uns morgen. Bis dann, mein Beschützer 😉

Beim Anblick des Zwinkersmileys musste ich schlucken. Es war nur so ein kleines Zeichen, und wahrscheinlich hatte sie es ohne viel nachzudenken geschickt. Aber für mich bedeutete es so unheimlich viel.

Bis morgen, meine Hübsche😉, antwortete ich und steckte mit einem Lächeln das Handy ein.

Schließlich stand ich vor der Mietwohnung, die Derya uns beschafft hatte, schloss mit meinem Schlüssel auf, ging in den zweiten Stock hoch und dort in unsere Wohnung. Nicht sehr groß, aber mehr als ausreichend für Derya und mich.
Ich schloss die Tür hinter mir, während ich lauschte.
Derya war in der Küche zu Werke.
Ich hörte Teller klappern.

Mit einem Lächeln ging ich dorthin.
Sie stellte gerade Teller mit einem saftigen Steak und Kartoffeln auf den Tisch.
Gerade machte ich den Mund auf, um ihr von Xenia und mir zu erzählen, als..

"Sie hat dir also eine Chance gegeben. Kluges Mädchen", sie warf mir einen strengen Blick zu.
"Verpatz diese Chance nur nicht, mein Junge. Es könnte deine letzte sein."

Ich starrte sie einen Moment lang nur an.
Dann seufzte ich tief.
"Die Mondgöttin hat zu dir gesprochen?", fragte ich ein wenig genervt.
Es machte keinen Spaß, wenn eine Person alles wusste, was man ihr erzählen wollte.

Derya lächelte nur geheimnisvoll.
"Du weißt doch, dass ich eine vates bin, mein Junge. Unterschätze uns nicht."

Ich blickte mich auffällig in der Wohnung um, und meinte gedehnt:
"Glaub mir, das tu ich nicht."

Derya gluckste nur leise.
Dann deutete sie auf den Stuhl am Tisch.
"Setz dich und iss. Du wirst viel Kraft brauchen, um dieses Mädchen für dich zu gewinnen. Noch ist zwar nichts verloren, aber auch nichts gewonnen."

Ich seufzte nur wieder und folgte ihrem Fingerzeig.
Denn mit einem hatte sie nicht unrecht: Noch war nichts gewonnen.

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