Kapitel 21 - Rudelgespräch

Kilians p.o.v.

Wie sehr ich sie alle jedoch vermisst hatte, wurde mir erst richtig klar, als Charlotte, die jüngste mit ihren acht Jahren im Rudel, schreiend auf mich zugerannt kam.

"Kiliaaaaannn!!!"

Lachend fing ich sie auf und wirbelte sie durch die Luft.
Heute Morgen hatte sie noch geschlafen, als ich mich auf den Weg zur Schule gemacht hatte und sah mich gerade seit meinem Abschied zum ersten Mal.

"Du bist daaa!!!", mit ihren großen blauen Augen, die so hell waren wie das frische Wasser einer Quelle, strahlte sie mich an. Zusammen mit ihren blonden Löckchen war sie der Inbegriff eines süßen kleinen Engels. Und der Liebling aller im Rudel.

Allerdings wusste sie das auch auszunutzen. Und wie sehr, das erfuhr ich sogleich wieder am eigenen Leibe.
Sie zog einen perfekten Schmollmund und ihre Augen wurden so traurig, wie nur sie es fertig bringen konnte.
Mit zitternder Unterlippe bettelte sie:
"Bitte versprich mir, dass du nicht mehr gehen wirst."

Wie konnte man bei einem solchen Anblick nicht weich werden?
Eng drückte ich sie an mich und auch sie klammerte sich an mich, als wollte sie persönlich mich daran hindern, wieder abzuhauen.
Ihre folgenden Worte brachten mich allerdings zum Grinsen:
"Sonst beiß ich mich an dir fest und zieh dich nach Hause!"

Eine so große Wärme durchströmte mein Herz, wie ich es nur selten erlebte. Ich hoffte, Xenia entschied sich richtig. Ich konnte nämlich wirklich nicht sagen, ob ich auch noch einen zweiten Abschied schaffen würde. Der erste war schon schwer genug.

"Ich werde versuchen, das zu vermeiden", erwiderte ich lächelnd und trug sie dann ins Haus, wo Sonja und Derya schon hineingegangen waren.
Drinnen im Esszimmer erwartete mich tatsächlich das ganze Rudel, auch wenn es nicht sehr groß war, mit mir waren es acht Leute. Aber dank der Hexen konnte man schon froh sein, überhaupt ein Rudel zu finden.

Im Grunde war ein Rudel wie eine große Familie, allerdings wie eine mit besonderem Sozialgefüge. Egal, was komme, ein Rudel hält immer zueinander, vertraut und verlässt sich auf einander.
Am Kopfende saß unser Alpha Martin und die Luna, seine Frau Sonja, die rechts neben ihm Platz nahm.
Julius, ihr einziger Sohn, saß links von Martin an der Seite, zusammen mit Derya und Tom, Martins Bruder.
Annemarie, Tom's Mate, und Sonja saßen auf der anderen Tischseite, zu der ich nun hinlief.

"Also", fing Sonja an, die gerade jedem ein Stück Lasagne auf den Teller legte.
"Derya hat bereits gesagt, dass sie dich gestern in der Nähe des Hauses gefunden hat. Was hat dich dazu bewogen, zurückzukommen?"

Nun sah sie mich mit einem sanften Hauch von Sorge an, als hätte sie Angst, ich könnte nur für kurze Zeit bleiben und würde dann wieder gehen.
Nun, ich hoffte, ihre Sorge bewahrheitete sich nicht.

Sanft setzte ich Charlotte auf den Stuhl neben ihrer Mutter Annemarie ab und wollte dann zurücktreten, doch sie ließ mich einfach nicht los.
"Hierbleiben", schmollte sie.
Und wer könnte diesem kleinen Engel etwas abschlagen? Ich musste zugeben, dass sie mich schon vom ersten Augenblick an um den kleinen Finger gewickelt hatte.
Also setzte ich mich direkt neben sie, strich ihr übers Haar, während ich mich den anderen zuwandte und erzählte.

"Meine Mate hat mich gefunden."
Freiwillig. Auch wenn ihre Absicht nicht gerade ...nun ja... schmeichelhaft gewesen war. Noch immer musste ich schmunzeln, wenn ich daran dachte, wie sie mich vorwurfsvoll beschuldigt hatte, sie verzaubert zu haben. Ein Bann. Werwolfsmagie. Lächerlich.
Andererseits zeigte es mir, dass sie die Seelenverbindung spürte. Und das war eine echte Erleichterung.

"Ist das gut?", fragte Sonja unsicher.

"Warum sollte sie dich finden wollen?", fragte Julius, Sonjas einziger und 22-jähriger Sohn, der gerade ein großes Stück Lasagne hinuntergeschluckt hatte. Jetzt sah er mich stirnrunzelnd an.
"Spürt sie etwa die Seelenverbindung?"

Ich konnte nichts dagegen tun, dass ein seliges Lächeln auf meinem Gesicht erschien.
Doch Derya antwortete für mich:

"Natürlich spürt sie die Seelenverbindung. Sie weiß zwar nicht genau, was es damit auf sich hat, aber jedes Wesen spürt diese Verbindung, egal ob Werwolf oder nicht."

Julius sah sie erstaunt an.
"Dann gibt es also auch Seelenverbindungen zu Menschen?"

Derya schluckte ein Stück Lasagne herunter, bevor sie schließlich antwortete. Allerdings meinte ich, dass sie die Antwort einen Moment herauszögerte. Als müsste sie sich wappnen.

"Natürlich. Bei Seelenverbindungen geht es schließlich nicht darum, ob du ein Werwolf, ein Mensch oder eine Hexe bist. Es geht darum, ob eure Seelen zusammenpassen."

Wieder runzelte Julius die Stirn.
"Aber ich habe nie davon gehört, ..."

Derya unterbrach ihn schulterzuckend:
"Es wird nicht gerade an die große Glocke gehängt, wenn man eine Seelenverbindung zu jemanden hat, der kein Werwolf ist."

"Nun, das ist ja auch alles schön und gut, aber ich würde jetzt wirklich unheimlich gern wissen, was gestern alles passiert ist", schaltete sich da Sonja ein und sah mich erwartungsvoll an.

Ich lächelte und zuckte mit den Schultern. Alles haargenau wollte ich nicht erzählen. Es fühlte sich nämlich an, als wäre diese Zeit im Wald mit Xenia etwas Besonderes und wenn ich es jemandem erzählte, würde es von seiner Besonderheit verlieren.
Dumm, ich weiß. Aber so war es nun mal, deswegen sagte ich nur:

"Sie denkt darüber nach, mir eine Chance zu geben. In den nächsten Tagen will sie mir in der Schule bescheid geben."

"Warum muss sie denn noch darüber nachdenken?", fragte Nils verwirrt, Sonjas Neffe, der bald zwölf wurde.
"Ihr seid Seelengefährten", fügte er hinzu, als würde das alles erklären. Und für einen Werwolf tat es das auch. Aber Xenia war nunmal nicht von unserer Art. Auch wenn das alles einfacher gemacht hätte, würde ich mich ganz bestimmt nicht beschweren.

Seine Mutter Annemarie lächelte ihn sanft an.
"Sie kennt das Ganze nicht, Schatz. Für sie ist das alles neu, da braucht sie einfach Zeit."

Nils sah noch immer verständnislos aus, als könne er sich einfach nicht vorstellen, wie jemand darüber nachdenken musste, seinen Seelengefährten zu akzeptieren. Doch dann zuckte er mit den Schultern und widmete sich wieder seiner Lasagne.

Für einen Moment hörte man nur das Geklapper von Besteck und Kaugeräusche, bis Martin, der Alpha des Rudels, sich schließlich räusperte.
Sofort sah jeder zu ihm.
Doch sein Blick war auf mich gerichtet. Sorge war in seinen braunen Augen zu lesen.
"Es tut mir leid, Kilian, aber ich muss das jetzt fragen", fing er mit seiner tiefen Stimme an und unwillkürlich spannte sich alles in mir an, als wüsste etwas in mir, was nun kommen würde. Und dass es mir gar nicht gefallen würde.

"Wird deine Mate ein Problem für das Rudel darstellen?"

Er sah mir prüfend und streng in die Augen. Mit seiner massigen Gestalt, die an die eines Bären erinnerte, konnte er einen sehr einschüchtern. Aber Martin war ein lieber Kerl, er hatte ein großes Herz.
Er fragte nicht grundlos, wollte mich nicht provozieren. Er fragte nicht, weil er die Hexen hasste, und mir in Bezug auf meine Mate drohen wollte.
Nein, er fragte allein deswegen, weil er sich Sorgen um das Rudel machte.
Und das war der Grund, warum ich das Knurren, das unwillkürlich in mir aufgestiegen war, herunterschluckte und ruhig antwortete:

"Meine Mate nicht, nein."
Pure Entschlossenheit schwang in meiner Stimme mit. Dabei gab es keine Garantie. Klar, sie hatte mir ein Versprechen gegeben, aber das hielt nur, bis sie mir ihre Entscheidung mitgeteilt hatte.
Und doch...alles in mir sagte, dass sie mich und mein Rudel nie verraten würde. Vielleicht war es dumm von mir, aber ich wollte diesem Gefühl in mir glauben. Dieses eine Mal.
Also ließ ich keinen Zweifel mein Gesicht verdüstern, während ich das sagte. Und doch konnte ich mein Rudel nicht in Gefahr bringen.
Deshalb...
"Aber für die anderen ihrer Art kann ich nicht dasselbe sagen."

Martin nickte leicht. Dann meinte er:
"In diesem Falle muss ich dich bitten, dir eine andere Bleibe zu suchen. Zum Schutze des Rudels."

"Martin!", Sonja neben ihn sah ihn entsetzt an.
"Das kannst du nicht tun!"

Derweil biss ich die Zähne zusammen. Ich hatte mir schon gedacht, dass so etwas nötig sein könnte.
Aber es nun vom Alpha zu hören...
Ein Werwolf brauchte sein Rudel. Und wenn ich ganz allein lebte, in so weiter Entfernung zu meiner neuen Familie...es würde wehtun. Andererseits war das ein geringer Preis, wenn ich dafür ihre Leben retten konnte.

Martins entschlossene Miene bekam einen sanfteren Zug, als er sich seiner Mate Sonja zuwandte.
"Es tut mir leid, meine Liebe, aber er und seine Mate bilden eine Gefahr für das Rudel. Es ist für uns alle am Besten, wenn er nicht hier ist. Sollten sie Kenntnis über ihn erlangen, ist das Rudel wenigstens in Sicherheit. Und..."

"Du willst ihm nicht mal beistehen, wenn er von diesen Schlächtern gefasst wird?!"
Sonja klang mehr als nur entrüstet. Sie klang fassungslos.

Martin legte beschwichtigend eine Hand auf die ihre, und meinte sanft:
"Natürlich würden wir ihm jederzeit helfen. Aber das können wir besser, wenn sie nicht von uns wissen. Verstehst du?"

Sonja schien noch immer nicht ganz einverstanden, aber ich war auf Martins Seite, auch wenn ich mir der nicht ganz angenehmen Konsequenzen bewusst war.
Allerdings stand das Rudel an erster Stelle. Und wenn ich hier ein und aus ging, würden die Hexen das irgendwann wissen.
Sie würden keine Gnade walten lassen. Wir wären alle verloren.
Wohnte ich stattdessen wo anders, hätten sie keine Ahnung. Und im Falle eines Falles wäre ein Rudel, das mir zur Seite stand, eine Überraschung, mit der sie nicht gerechnet hatten.
Und obwohl die Entscheidung mehr als schmerzte, besonders, nachdem ich mein Rudel gerade erst wieder hatte....

"Ich werde mir eine andere Bleibe suchen."
Meine Stimme klang entschlossen und alle drehten sich überrascht zu mir um. Niemand wandte seinem Rudel freiwillig den Rücken.
Doch ich hatte es schon einmal getan. Damals war es eine feige Tat gewesen. Heute konnte es eine selbstlose Tat sein.
Und ich würde alles tun, um mein Rudel nicht in Gefahr zu bringen. Auch wenn es nicht wiedergutmachen konnte, dass ich damals einfach gegangen war.

"Kilian...", fing Sonja an, doch ich unterbrach sie.

"Nein. Martin hat recht. Es ist für euch alle das Beste, wenn ich mir eine andere Bleibe suche."
Ich musste schwer schlucken, als mich die Gefühle zu überwältigen drohten. Schuldgefühle wegen damals. Trauer, weil ich schon wieder Abschied nehmen musste. Hass auf die Hexen, die mich in eine solche Lage brachten. Liebe für mein Rudel.
Schließlich brachte ich mit belegter Stimme heraus:

"Ich will euch nicht in Gefahr bringen. Nicht nach allem, was ihr für mich getan habt."

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