Kapitel 19 - Besonderes Gespräch

Xenias p.o.v.

Willst du dir selbst die Liebe verwehren?

Diese Worte schienen sich in mich einzubrennen.
Sie sickerten durch meine Haut, gingen mir durch Mark und Bein, bis sie in meinem Herz angelangt waren, wo sie aufloderten, eine Antwort forderten.
Ihr Feuer brannte, brannte so stark, dass es alle Zweifel und Selbstlügen beseitigte und die tief in meinem Inneren verborgen liegende Wahrheit zu Tage förderte.

Nein. Nein, ich will mir nicht die Liebe verwehren.

Aber so einfach war das nicht. Und das sagte ich dieser Frau neben mir auch.

"Es....es ist nicht so einfach", allerdings kamen die Worte stotternd, unsicher. Ich biss mir wieder auf die Lippe, dann holte ich tief Luft und sah zu ihr hoch. Ruhig blickte sie mich an.
Da war kein Vorwurf in ihren Augen zu lesen, da war nichts...nur leichte Neugierde.
Und ich wollte, dass sie verstand. Wollte es ihr erklären.

"Jahrelang hat man uns gesagt, Werwölfe seien böse, seien Monster. Und dann taucht da einer auf....und er wirkt so gar nicht wie ein Monster. Doch ich kann ihm nicht vertrauen, denn was, wenn das alles nur Schauspielerei ist? Was, wenn es gar keine Seelengefährten gibt? Es könnte genauso gut ein Bann sein. Werwolfsmagie, von der wir Hexen nichts wissen. Das könnte alles totaler Quatsch sein. Nach allem, was ich gehört hab....wie soll ich ihm da vertrauen? Woher soll ich wissen, was die Wahrheit ist?"

Verzweifelt sah ich sie an.

Mit ruhiger Stimme fragte sie mich:
"Was hast du bei eurem ersten Treffen gefühlt?"

"Was?", verdutzt blinzelte ich, mit solch einer Frage hatte ich nicht gerechnet.
Dann runzelte ich die Stirn.
"Das tut doch jetzt nichts zur Sache..."

Doch sie unterbrach mich.
"Doch, das tut es. Also, sag, was hast du bei eurem ersten Treffen gefühlt?"

Zum ersten Mal nachdem ich herausgefunden hatte, dass er ein Werwolf war, holte ich wieder unser erstes Treffen aus meinen Erinnerungen hervor. Es war leicht, als hätte es sich in mein Gedächtnis eingebrannt und zwar für immer.

"Ich bin mit ihm zusammengestoßen", fing ich langsam an und spürte, wie mir beim Gedanken daran die Röte in die Wangen stieg. Aber die Frau nickte mir aufmunternd zu, fortzufahren.
Also tat ich genau das.
"Natürlich ist mir sofort aufgefallen, dass er ziemlich heiß ist. Und na ja..."

"Was hast du gefühlt?", fragte sie ruhig.

Tja, was hatte ich gefühlt? Jetzt, wo ich darüber nachdachte, fiel mir auf, dass ich mich schon bei unserem ersten Treffen unglaublich zu ihm hingezogen gefühlt hatte.
Diese Gefühle hatten mich verwirrt. Denn ich hatte noch nie zuvor etwas anderes gefühlt.
Und so langsam glaubte ich zu wissen, worauf sie hinaus wollte...

"Alles in mir hat sich zu ihm hingezogen gefühlt", murmelte ich halblaut vor mich hin, aber sie hörte mich. Natürlich, Werwolfsgehör.

"Genau. Das, was man eben fühlt, wenn man auf seinen Seelengefährten trifft. Glaub mir, das ist kein Bann und das weißt du auch. Für einen so mächtigen Bann hätte man Sichtkontakt zur Zielperson gebraucht, während man den Zauber spricht. Aber ich nehme an, Kilian hat nichts vor sich hingemurmelt, oder? Er musste selbst schockiert gewesen sein, so plötzlich auf dich zu treffen."

Ich knabberte leicht an meiner Unterlippe. Sie hatte ja Recht. Ich wusste das. Und doch...
Wie könnte ich so einfach 'Ja' zu einer Seelenverbindung sagen?
Ich gab es ungern zu, aber ich hatte Angst vor den Konsequenzen. Meine Familie...

"Ich würde meine ganze Art verraten.", flüsterte ich bedrückt.
"Kilian ist der Feind. Schließlich ist er ein Werwolf."

"Ach, Schätzchen,", gluckste die Frau neben mir. "Kilian ist ein Werwolf, ja, aber vielmehr noch: er ist dein Werwolf."

Bei ihren Worten schoss mir wieder die Röte ins Gesicht und wütend funkelte ich sie an. Das war doch jetzt echt nicht hilfreich.
Die Erheiterung schwand aus ihrem Gesicht und sie seufzte schwer.

"Ich verstehe, dass du das Gefühl hast, deine ganze Art zu verraten. Aber wenn du Kilian keine Chance gibst, dann würdest du dich selbst verraten. Du würdest keine Rücksicht nehmen auf deine eigenen Gefühle und auch keine Rücksicht auf deinen Seelengefährten. Weißt du, was mit einem Werwolf passiert, wenn seine Seelengefährtin ihn zurückweist?"

Unsicher blickte ich sie an. Nein, das wusste ich nicht. Ich war mir auch nicht sicher, ob ich es überhaupt wissen wollte. Etwas sagte mir, dass die Antwort nicht angenehm war.
Und ich sollte Recht behalten. Denn sie sprach weiter, ohne meine Antwort abzuwarten.

"Ein Werwolf erträgt das nicht. Es könnte ihn umbringen. Denn das, was du jetzt fühlst, fühlt er nochmals verstärkt. Ob du es glauben willst oder nicht, ihr braucht einander."

Da stand pure Ernsthaftigkeit in ihrem Blick.

"Und außerdem: glaubst du etwa, du würdest es nicht bereuen, ihn zurückzuweisen? Es wird keine zweite Chance für dich geben, keine wahre Liebe. Denn er ist deine wahre Liebe. Das wird sich nicht ändern, egal wie sehr du es dir vielleicht wünschst. Du wirst dich für immer nach ihm verzehren. Deine Seele wird sich nach ihm sehnen, deine Seele und dein Herz. Und wer weiß schon, wie lange das jemand aushält?"

Ich senkte wieder den Blick und betrachtete meine weißen Sneakers, die schon einige Grasflecken aufwiesen.
Tja, wie lange könnte ich es aushalten, von Kilian getrennt zu sein? Könnte ich es ertragen, ihn leiden zu sehen?
Aber...könnte ich es ertragen, meine Familie zu enttäuschen? Meine ganze Art? Sie würden mich verstoßen, wenn sie davon erführen. Kilian und ich müssten unsere Beziehung geheim halten.
Es gäbe kein Bekanntmachen mit der Familie. Das wäre zu riskant.

Sanft fragte die Frau neben mir:
"Was wäre denn so schlimm daran, dem Ganzen eine Chance zu geben? Ihm eine Chance zu geben? Du kannst jederzeit nein sagen. Aber warum jetzt gleich, ohne es erst probiert zu haben?"

Tja,...weil ich tief im Inneren Angst hatte. Angst, dass meine Familie es rausbekam. Dass ich von meiner ganzen Art verstoßen werden würde. Angst, mich in Kilian geirrt zu haben. Angst, dass ich mich dann bereits zu sehr in ihn verliebt hatte. Angst, ihn zu verlieren. Angst wegen so vielem....

"Wie wäre es, wenn ihr mal einfach nur Kilian und Xenia seid? Nicht der Werwolf und das Hexenmädchen. Nicht der Feind und die Feindin. Sondern einfach nur ihr selbst. Natürlich ist das Hexensein ein Teil von dir, genauso sehr wie das Werwolfssein ein Teil von Kilian ist, aber es ist nicht das, was euch ausmacht. Ob Mensch, Hexe oder Werwolf, wir sind die, die wir sind, nicht wegen unserer Herkunft, unserer Hautfarbe oder etwas ähnlichem. Wer wir sind, setzt sich aus einer Vielzahl an Dingen zusammen: aus unseren Erlebnissen, Erfahrungen, Entscheidungen und Handlungen...es wäre eine ziemlich beschränkte Sichtweise, jemanden nur aufgrund einer Sache an ihm zu verurteilen, wie zum Beispiel, dass er ein Werwolf ist. Natürlich prägt das einen, aber es macht uns nicht zu dem, der wir sind."

Ihre Worte klangen logisch und weise und eigentlich wusste ich das auch. Aber ich hatte von den Gräueltaten seiner Art gehört...so oft sprach man bei uns über die Werwölfe, stets in abfälligem Tonfall...
Ich seufzte tief.
Diese Entscheidung lag mir schwer im Herzen.

"Ich sage nicht, dass du dich sofort entscheiden musst", meinte sie und drückte mir besänftigend die Schulter.
"Im Gegenteil, lass dir Zeit. Das alles ist viel zu verdauen, besonders, da es so neu ist für dich. Aber tu mir einen Gefallen: triff deine Entscheidung nicht aus Angst."

Verdutzt blickte ich zu ihr hoch. Woher wusste sie, dass ich Angst hatte?
Doch ihre Augen verrieten nichts.
Warm blickten sie mich an, warm und ernst, als sie wieder sprach:

"Höre außerdem auf dein Herz. Und stell dir Fragen: wie fühlst du dich bei Kilian? Könntest du dir ein Leben ohne ihn vorstellen? Und wenn du dich entscheiden müsstest, was würdest du wählen: ein Leben mit Kilian oder ein Leben mit deiner Familie und den anderen Hexen?"

Diese Entscheidung wollte ich nicht treffen. Ich wollte nicht wählen müssen.
Sie schien das zu wissen, denn sie sagte:

"Es muss nicht so weit kommen. Aber vielleicht wäre es gut, sich diese Frage zu stellen. Sich zu fragen, was dich glücklicher machen würde: ein Leben mit der Familie oder ein Leben mit Kilian. Du musst gut darüber nachdenken, Xenia. Tu mir den Gefallen und gehe erst dann zu Kilian. Er wird dich nicht bedrängen. Zumindest wenn er auf meinen Rat hört."

Für einen Moment blickte sie nachdenklich drein.

"Andererseits ist er auch nur ein Werwolf", meinte sie dann schulterzuckend.
"Es wird ihm schwer fallen, zu warten, die Unwissenheit wird ihn zerreißen, er wird kaum schlafen können..."

Ich starrte sie an.
Sie schenkte mir nur ein zuversichtliches Lächeln.
"Aber lass dich davon nicht bedrängen. Er ist dein Seeleengefährte. Er würde Jahre auf dich warten, egal wie sehr es ihn zerstören würde."

Ich schluckte. Das hörte sich.... beängstigend an. Dass ich eine solche Macht über ihn hatte...

Wieder schien diese Frau genau zu wissen, was in mir vorging. War ich wirklich so einfach zu lesen?

"Ja, ich weiß, die Liebe ist eine mächtige Kraft. Sie ist launisch, kann zerstörerisch sein, und dennoch ist und bleibt sie die schönste Kraft auf Erden. Würdest du sie wirklich abweisen wollen?"

Bevor ich antworten konnte, hörten wir schon den Schulgong über den Hof hallen.

"Nun, du musst jetzt in den Unterricht", sagte die alte Dame neben mir.
"Aber wenn irgendwas ist, kannst du jederzeit in die Kantine kommen, ich werde für dich da sein. Und lass dir erst einmal alles durch den Kopf gehen, ja? So, dann will ich dich auch nicht länger hier festhalten. War schön, deine Bekanntschaft gemacht zu haben, Xenia."

Ich lächelte schwach, noch zu sehr war ich von all den Dingen, die sie mir erzählt hatte, eingenommen.

"Gleichfalls, Frau..."

Erst da fiel mir auf, dass ich nicht einmal ihren Namen kannte. Peinlich berührt sah ich sie fragend an, doch sie schenkte mir nur ein unbekümmertes Lächeln.

"Du kannst mich Derya nennen, meine Liebe. Und duze mich, ja?"

Lächelnd nickte ich, dann sagte ich:
"Bis dann, Derya", ließ die Sandwiches stehen und ging aufs Schulgebäude zu.

All das Gesagte schwirrte mir im Kopf herum...nun, jetzt hatte ich auf jeden Fall viel zum Nachdenken.
Als ob es nicht vorher schon genug gewesen wäre....

Seufzend strich ich mir eine Strähne aus dem Gesicht, die mir der Wind dorthin geweht hatte, als ich jemanden an der Schulwand gelehnt dastehen sah.
Es war Kilian. Stolpernd hielt ich inne, als sich unsere Blicke kreuzten. Nur wenige Meter trennten uns. Das hieß...er war ein Werwolf. Hatte er mich und Derya etwa belauscht?

Ein schwaches, fast schon entschuldigendes Lächeln erblühte auf seinem Gesicht und Deryas Worte fielen mir wieder ein.

Andererseits ist er auch nur ein Werwolf.

Das sollte ich wohl im Gedächtnis behalten. Dass es für ihn auch nicht gerade leicht war.
Also riss ich mich zusammen, nickte ihm leicht lächelnd zu und ging an ihm vorbei ins Schulhaus, wobei mein Herz verdächtig laut klopfte, obwohl uns doch einige Meter trennten....

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