Kapitel 10 - Der Sog

Xenias p.o.v.

Jetzt werde ich es ihnen sagen, dachte ich mir und öffnete den Mund.

"Kannst du mir bitte das Salz reichen, Xenia?", fragte mich da mein Vater.
Und mein Mund schloss sich wieder. Stumm. Wortlos.
Ich reichte ihm das Salz und er streute es sich über seinen Brokkoli.
Und ich aß weiter, als wäre nichts.
Als würde in meinem Inneren nicht diese Wahrheit brodeln.
Dieses Geheimnis.
Aber war es das?
Oder machte ich es zu einem Geheimnis, indem ich nichts verriet?

Und warum verriet ich nichts, verdammt nochmal?
Das war doch lächerlich.
So oft hatte ich bei diesem Abendessen und bereits davor den Mund geöffnet.
Als Aramis, mein Bruder, heimgekommen war.
Als Dad heimgekommen war.
Während Dad von seinem Tag erzählte.
Es hatte so viele Gelegenheiten gegeben.

Ich hatte sie ergreifen wollen.
Hatte so oft den Mund geöffnet.
Aber nie war etwas daraus gekommen.
Ich konnte nicht sagen, warum.
Eigentlich sollte es ja ganz einfach sein.
Es waren nur ein paar Worte, die ich aussprechen musste.
Und Kilian war nur irgendein Fremder.
Mit diesen Worten schützte ich meine Familie vor ihm und seinen Freunden.
Meine Familie hatte Priorität.
Sollte Priorität haben.

Und dennoch saß ich schweigend hier am Esstisch mit meinen Eltern und meinem Bruder.
Und je öfter ich es versuchte, je öfter es mir nicht gelang, diese wenigen Worten auszusprechen, desto.... wütender wurde ich.
Was war mit mir los, dass es mir nicht gelang ?!
Wäre Kilian ein Hexer, hätte ich gedacht, dass er einen Fluch über mich ausgesprochen hatte.
Andererseits hätte ich das gemerkt.

Und doch...das war doch nicht mehr normal!
Ich war ein vernünftiges Mädchen.
Es würde mir wohl noch gelingen, ein paar Worte zu sagen.
Aber es ging einfach nicht.

Als würde mich etwas in meinem Inneren daran hindern.
Und ich fragte mich, ob Werwölfe vielleicht auch affin zur Magie waren.
Vielleicht konnten wir ihre Magie nur nicht spüren.
Vielleicht war sie von anderer Art.
Vielleicht hatte mich Kilian doch verhext, ohne dass ich es bemerkt hatte.

Und mit diesem Gedanken schwoll die Wut in mir an, glühte hitzig, schlug mit der Zeit immer mehr feurige Funken, steigerte sich zu einem Feuer.
Und so fasste ich einen impulsiven Entschluss.
Ich würde Kilian aufsuchen.
Und er würde gefälligst diesen Bann, diesen Fluch oder was auch immer es war, von mir nehmen.

Schließlich brachten all meine Versuche nichts.
Also musste ich zur Quelle meines Unvermögens.
Es war mir egal, dass er ein Werwolf war, ein Monster.
Dass er mich ohne sonderlicher Anstrengung aufschlitzen konnte.
Töten. Abschlachten. Fressen.
Ich dachte nicht daran.

Zu sehr war ich von diesem brodelnden Feuer in mir eingenommen.
Ich betrachtete mich selbst als ruhige Person, als gutmütig und geduldig.
Dieses Feuer...es passte nicht zu mir.
Ich hatte keine Ahnung, woher es kam.
Aber auch das war mir gleichgültig.
Ich machte mir keinen Gedanken darum.

Nein, stattdessen dachte ich darüber nach, wie ich Kilian finden konnte.
Was ich tun würde, wenn ich ihm gegenüber stand.
Ich legte mir die Worte zurecht, mit denen ich ihn anfahren würde.

Meine Familie bemerkte nichts.
Und das war auch gut so.
Ich war nicht in der Stimmung, mir irgendeine dumme Ausrede zu überlegen, warum ich solch ein grimmiges Gesicht zog, wie es im Moment bestimmmt der Fall war.

Das ganze Abendessen über überlegte ich mir einen Plan.
Natürlich musste ich Kilian zuerst finden. Und wie sollte ich das tun? Wäre ich ein Mensch, wäre ich schon an dieser so kleinen Aufgabe kläglich gescheitert.

Gut, dass ich eine Hexe war.
Solche minimalen Hindernisse waren nichts für unsere Kräfte. Zumindest für die der Erwachsenen.
Hexenkinder brauchten einen Gegenstand der Person, die sie aufspüren wollten.
Ein Gegenstand, der der Person am Herzen lag.

Aber wenn man älter wurde und seine Kräfte schon gut trainiert hatte, brauchte man solche Hilfsmittel nicht mehr.
Lediglich die Person selbst musste man sich vorstellen. In allen Facetten, dann war der Zauber stärker.
Dachte ich nur an sein schönes Gesicht würde es sehr schwer werden, ihn aufzuspüren.
Dachte ich allerdings noch an seinen Geruch, seine Wärme, an den Klang seiner Stimme, dann war der Zauber stark.
So stark, dass ich ihn im Nu würde aufspüren können.

Und dann würde er verdammt noch Mal diesen Bann von mir nehmen!
Ich war eine Hexe! Und ich war gut in dem, was ich tat.
Ich würde ihn schon noch dazu bringen, diesen Bann, der die Wahrheit in mir verschloss, zu beseitigen.

Wenn er doch nur selbst Hexer wäre! Natürlich kam es auf den Bann an, aber je nachdem konnte man diesen selbst von sich nehmen.
Nur wenn es die eigenen Kräfte überstieg, musste man sich an den Hexer wenden.

Und bei dieser Magie...was auch immer das war, ich kannte sie nicht, spürte sie ja nicht einmal.
So ungern ich es auch zugab, aber ich brauchte Kilians Hilfe.
Und er würde sie mir gewähren.
Es war mir egal, dass er ein Werwolf war, ein Monster und ich nur ein kleines Mädchen, seiner Kraft nicht ebenbürtig.
Ich hatte eine andere Kraft. Und ich würde sie einsetzen.

Allerdings nicht so, dass ich ihm schadete. Magie war so eine Sache. Sie konnte viel Gutes bewirken...aber wie alles andere hatte auch sie eine Kehrseite. Denn natürlich konnte man sie auch für Schlechtes einsetzen.
Und niemals würde ich diese Schwelle zwischen Gut und Böse überqueren.
Für nichts und niemanden.

Ich würde Kilian einfach nur mit Magie fesseln, so lange, bis er mich von dem Bann freigab und bis ich weit genug weg war, so dass er mir nichts mehr tun konnte.
Es war eine gefährliche Mission, ohne Frage.
Aber ich musste es tun. Für meine Familie. Für meine Freunde. Für die Unschuldigen, die sich selbst nicht schützen konnten.

Der Gedanke an all diejenigen, die ich so retten konnte, stärkte mich.
Auch, wenn ich immer noch mein Herz schmerzhaft in meiner Brust pochen spürte.
Obwohl mir immer noch mein Gewissen dazwischen funkte und mir sagte, dass ich einen gewaltigen Fehler beging.

Es war mir egal.
Ich konnte nicht den Kopf in den Sand stecken.
Ich musste stark sein und mutig.

Also aß ich zu Ende, redete noch ein wenig mit meiner Familie, damit ihnen weiterhin nichts auffiel.
Dann ging ich nach oben, machte mich augenscheinlich bettfertig.
In meinem Zimmer jedoch zog ich schwarze, dunkle Klamotten an, mit denen ich in der Dunkelheit verschwinden konnte.
Zwar brachte es nicht viel, denn noch immer konnte ein Wolf mich riechen.
Aber wenn ich in Kilians Wohnung war, würde ich schnell handeln, schneller als er mich wahrnehmen konnte. Und sollte er sich im Freien befinden, musste er erst einmal in der richtigen Windrichtung stehen, um mich zu bemerken.
Und ich würde darauf achten, mich ihm nicht so einfach zu verraten.

So wartete ich bis alle zu Bett gingen, wartete, bis ich nichts mehr hörte, bis ich sicher war, dass sie alle tief und fest schliefen.
Und dann setzte ich meinen Plan um.
Im Schneidersitz setzte ich mich auf den Boden in meinem Zimmer und schloss die Augen.

Dann rief ich alle Bilder von Kilian in meinem Inneren hervor.
Unser erstes Aufeinandertreffen. Seine dunklen Haare, die bestimmt weich waren, wenn man mit den Fingern hindurchfuhr.
Seine so blauen Augen, in dessen Tiefen man zu versinken drohte, wenn man zu lange hinein sah.
Sein muskulöser und doch auch sehniger Körperbau.
Die Wärme seiner Hand an meiner, und auch das Fell, das mich für diesen kurzen Moment streifte.
Es hatte sich grob angefühlt. Die Farbe hatte ich natürlich nicht gesehen.
Dann sein Geruch, dieser Geruch nach Sommer, Sonne und Salz.
Sein Lächeln und das Funkeln in seinen Augen, wie er blass wurde...

Ich stellte mir all das vor, bis ich fast schon glaubte, ihn spüren zu können, als wäre er wirklich hier, wenn ich die Augen öffnete.

Und dann sprach ich die Worte:

"Ubi es, Kilian? Monstra, ubi es. Tuum locum scire volo. Ubi es, Kilian. Monstra, ubi es."
(Wo bist du, Kilian. Zeig, wo du bist. Ich will deinen Ort wissen. Wo bist du, Kilian. Zeig, wo du bist.)

Leise murmelte ich die Worte vor mich hin, Worte in der Sprache unserer Ahnen. Latein.
Zwar hätte ich genauso gut Deutsch sprechen können oder jede andere Sprache, aber die altehrwürdige Sprache unserer Ahnen hatte ihre eigene Macht.
Deshalb lernten wir Hexenkinder von klein auf die lateinischen Worte.
Und zufälligerweise war ich eine gute Schülerin.

Weiterhin murmelte ich die Worte leise vor mich hin, hielt das Bild Kilians vor meinem inneren Auge fest, spürte seine Wärme, sein Geruch umschmeichelte meine Nase und dann...
Dann war er weg.
Und statt seiner sah ich plötzlich einen dunklen Wald um mich herum.
Hörte eine Eule rufen. Tiere raschelten zu meinen Seiten.
Der Mond stand leuchtend am Himmel und manchmal konnte man seine Farbkleckse durch Lücken im dichten Blätterdach erkennen.

Eine sanfte und doch kühle Brise brachte die Blätter zum Rascheln.
Ich wusste, ich sah gerade durch Kilians Augen.
Er war im Wald.
Leise Sorge erfüllte mich.
Ging er bereits auf die Jagd?
Suchte er mich und meine Familie?

Nun, wenn dem so war, dann musste ich ihn aufhalten, bevor er uns fand.
Und ich murmelte neue Worte:

"Monstra mihi tuam viam. Monstra mihi tuam viam." (Zeig mir deinen Weg. Zeig mir deinen Weg.)

Und dann war es, als erhob ich mich in die Lüfte. Ich sah nicht mehr durch seine Augen, sondern durch die eines Vogels, der weite Kreise über dem Wald flog.

Es war zu dunkel, als dass ich viel erkennen konnte.
Was im Tageslicht gut zu sehen war, sah nun alles so gleich aus. So kam ich nicht weiter.
Aber glücklicherweise gab es noch einen anderen Weg.
Und besonders wenn er sich bewegte, war der praktischer.
Also murmelte ich erneut vor mich hin:

"Chartam volo. Chartam, ut te reperiam. Monstra mihi chartam."
(Ich will eine Karte. Eine Karte, um dich zu finden. Zeig mir eine Karte.)

Und dann erschien eine Karte in meinem Kopf, und ich wusste, wie ich zu ihm kam.
Ich öffnete die Augen und das Bild in meinem Kopf verschwand.
Stattdessen leuchtete mir nun auf meinen Handflächen eine Karte entgegen, mit einem Punkt, der Kilian darstellte. Eine Karte, die nur ich sehen konnte.

Leise stand ich auf.
Und machte mich auf den Weg.

Nun wurde der Jäger zum Gejagten.
Und die Beute machte sich auf den Weg.
Zum Schutze der Familie.

Ich sagte mir das die ganze Zeit, während ich leise nach unten schlich, die Tür öffnete, und wieder schloss.
Murmelte es wie ein Mantra vor mich hin.
"Für meine Familie. Für meine Familie."

Doch das Schuldgefühl verschwand nicht. Dabei war das doch völlig irrational. Ich verriet Kilian nicht.
Na ja, vielleicht schon, aber er war nur ein Fremder, ein Monster.
Wenn ich ihn nicht verriet, würde er uns alle töten.
Und wer wäre ich, wenn ich das zuließ?

Doch dumme Zweifel hatten sich in mein Herz eingenistet.
Zweifel, die mir zuflüsterten, dass Kilian mich nie verletzen, geschweige denn töten würde.
Schnaubend schüttelte ich den Kopf.
Das war irrsinnig.
Ich hatte Kilian erst heute kennengelernt.
Und ja, er hatte einen netten Eindruck gemacht.

Aber er hätte sich fast in einen Wolf verwandelt und Max gefressen. Nur die Anwesenheit so vieler Passanten hatte ihn abhalten können.
Er war eine Gefahr.
Für uns alle.

Ich musste den anderen von ihm erzählen.
Also musste er den Bann von mir nehmen.
Auf dem ganzen Weg zu ihm versuchte ich mich davon zu überzeugen.

Und doch wurde mein Herz traurig und schwer angesichts der Tat, die ich entschlossen war, zu vollbringen.

Ich ignorierte es.
Das Herz konnte sich täuschen.
Aber der Verstand....der war wichtiger.
Oder etwa nicht?

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