Ich mache alles kaputt


Der Regen prasselte auf meine durchnässte Jacke, meine Brillengläser waren verschmiert und in regelmäßigen Abständen verzog ich schmerzverzerrt das Gesicht, denn jeder Schritt fühlte sich wie ein einziger, großer Stich an.
Das hatte ich also davon, so unvorsichtig gewesen zu sein. Lukas und ich hätten voraussehen müssen, dass es früher oder später soweit kommen würde. Warum hatte ich auch geglaubt, dass mich die Gang in Ruhe lassen würde?
Auch wenn sie keinen weiteren Nutzen mehr für mich hatten, würden sie alles daransetzen, um mir das Leben zur Hölle zu machen. Schließlich hatte ich mich widersetzt. Ich hatte gegen die Regeln verstoßen und nicht auf Ronny gehört.

Eine Zeit lang lag hatte ich noch zusammengekauert am Boden gelegen, mir den Bauch festgehalten und darauf gehofft, dass das Alles ein schlechter Traum ist. Aber je länger ich auf dem Bordstein lag, desto mehr hatte ich realisiert, dass es nicht so ist.
Mit großer Mühe hatte ich es geschafft, mich wieder aufzusetzen. Mein ganzer Körper fühlte sich so an, als wäre ein LKW über diesen gefahren. Alles schmerzte, pochte und zog sich bei der falschen Bewegung unangenehm zusammen.
Ich konnte von Glück reden, dass es mich nicht schlimmer getroffen hatte. Nur ein falsches Wort und Ronny hätte sich ohne jegliche Zweifel mein Handgelenk geschnappt, um sein Messer zum Einsatz zu bringen.

Es hatte mich wirklich viel Überwindung gekostet aus der Gasse zu treten. Nicht, weil ich Sorge darum hatte, dass mich jemand auf meine Verletzungen ansprechen könnte, sondern eher, weil ich die böse Befürchtung hatte, dass mich die Gang verfolgte.
Ich verstand sowieso nicht, warum Ronny mir diesen Freiraum gönnte. Wieso er mich nicht festhielt, damit ich nicht nochmal auf die Idee kam, so lange abzuhauen. Ich sollte mich darüber freuen, aber trotzdem überraschte es mich, weil es eigentlich nicht seine Art ist.
Ich hatte eine Aufgabe. Ich sollte mit Lukas Schluss machen. Aber wieso wollte die Gang nicht dabei sein? Wieso schleiften sie mich nicht zu Lukas und amüsierten sich köstlich darüber, wie ich ihm das Herz brach?

Ronny ist wahrscheinlich der festen Überzeugung, dass seine Drohung Gewicht hatte. Dass ich mich sofort auf den Weg zu Lukas machen und Schluss machen würde. Schließlich hatten sie mir gezeigt, was passieren konnte, wenn ich mich widersetzte.
Trotzdem verstand ich das Alles nicht. Ich wollte mich über diesen Freiraum nicht beschweren, aber es verunsicherte mich. Ich könnte einfach lügen und sagen, dass ich mit Lukas Schluss gemacht hätte, obwohl ich noch mit ihm zusammen bin.
Aber es würde nichts bringen, denn auch das würde Ronny herausfinden. Ich hatte keine Ahnung, woher er diese ganzen Informationen bekam, aber dieser Hurensohn schien verdammt gute Spione zu haben.

Ich wischte mir die Tränen aus dem Gesicht und hatte keine Ahnung, was ich jetzt machen sollte. Ich konnte und wollte nicht mit Lukas Schluss machen, aber genauso wenig wollte ich mich der Gang stellen.
Es würde auch nichts bringen das Ganze zu verheimlichen, denn mir hing viel zu viel an dieser Beziehung. Lukas hatte mich zu einem besseren Menschen gemacht. Nur durch ihn hatte ich mein Leben endlich in den Griff bekommen.
Ich bin glücklicher denn je und alles lief perfekt - zumindest bis vor einer Stunde. Kaum war die Gang zurück in meinem Leben, fiel ich zurück in mein schwarzes Loch und wurde auf den Boden der Tatsachen geholt.

Ich hatte es geahnt. Natürlich musste irgendwas passieren, damit mir mein Glück nicht gegönnt wurde. Es war schon immer so. Kaum ging es bergauf, kam irgendwas dazwischen, was alles zum Einsturz brachte.
Die ganze Geschichte mit Lukas ging viel zu lange gut. Es war viel zu still und wahrscheinlich wusste die Gang über alles Bescheid, was in den letzten Monaten vorgefallen ist und hatte nur auf den richtigen Moment gewartet, um mich zu ficken.
Ich fuhr mir aufgebracht durch die Haare und boxte gegen eine Laterne. ,,Fuck!'' Fluchend hielt ich mir die schmerzenden Finger fest und wünschte mir eine Zeitreise machen zu können, um mein 13-Jähriges-Ich daran zu hindern, sich Ronny und seiner Sippschaft anzuschließen.

Diese ganzen Drogen, die Partys und die illegale Scheiße machten einen nicht cool. Im Gegenteil, sie sorgten viel eher dafür, dass deine Mutter enttäuscht von dir ist, deine Noten endgültig in den Keller sinken und du zu einem rotzfrechen, undankbaren Teenager wirst.
Diese Menschen von der Gang, waren nicht deine Freunde. Wenn es einem schlecht geht und die Depressionen einen ans Bett fesseln, hörte man nicht einen einzigen Ton von Ronny und dem Rest.
Aber kaum ist man zurück, wurden Witze über deine psychischen Krankheiten gemacht und einem wurde gesagt, dass man sich mal nicht so anstellen sollte. Schließlich gab es Menschen da draußen, die nichts haben und trotzdem glücklich sind.

Ich schüttelte über mich mit dem Kopf und verstand einfach nicht, was ich damals an Ronny gefunden hatte. Wieso ich ihn mal ernsthaft gemocht und unbedingt ein Teil seiner ach so tollen Gang sein wollte.
Dieser Kerl ist ein Arschloch. Das Einzige, was er konnte, war es, Menschen herumzukommandieren. Er handelte nur nach seinem Interesse und wenn man nicht in seine Schublade passte, wurde man sofort aussortiert.
Lukas passte nicht in sein Bild, weil er ein Streber ist. In Ronnys Augen machte er viel zu viel für die Schule, bekam den Mund nicht auf und sah dazu aus wie die größte Schwuchtel, die es auf diesem Planten gab.

Dabei steckte hinter diesem Jungen so viel. Lukas ist der liebste, herzlichste und toleranteste Mensch, den ich je kennenlernen durfte. Obwohl die Gang ihn über Monate hinweg so schikaniert hatte, hatte er mir eine Chance gegeben.
Als mein Handy den Geist aufgegeben hat, hatte er mir seine Powerbank geliehen. Er hatte sich ernsthaft um mich gesorgt, obwohl es ihm vollkommen egal sein sollte, weil ich ein Teil von der Gruppe bin, die ihm sämtliche Beleidigungen gegen den Kopf warf.
Auch wenn ich nie direkt bei dem Mobbing mitgemacht hatte, war ich mit meiner passiven Art ein Teil davon. Ich hatte mich nicht mal im Entferntesten dafür eingesetzt, dass die Gang ihn in Ruhe ließ.

Und trotzdem hatte Lukas Interesse an mir. Ich würde es wahrscheinlich niemals verstehen, aber trotzdem berührte es mich, dass er all die Scheiße auf sich genommen hatte, nur um mir nah sein zu können.
Er hatte seine Chance gewittert, obwohl er mich eigentlich hassen müsste. Lukas hätte das nicht tun dürfen. Ich hatte ihn nicht verdient. Egal wie oft er mir sagte, dass es nicht so ist, aber es stimmte.
Ich hatte ihn in die Scheiße geritten. Die Gang konnte ihn so oder so nicht leiden und jetzt, wo sie wussten, dass wir zusammen waren, würden sie ihn nicht in Frieden lassen - außer ich machte Schluss.

,,Was... Nein!'' Ich blieb Mitten auf dem Weg stehen, stellte mich unter einen Hausaufgang und holte mein Handy aus der Hosentasche, welches schon die ganze Zeit irgendwelche nervigen Töne von sich gab.
Ich hatte keinen Bock auf dieses scheiß Teil. Ich wollte nichts davon hören, denn wahrscheinlich terrorisierte mich Ronny mit sämtlichen Nachrichten, dass ich gefälligst um 0 Uhr beim Schrottplatz sein sollte.
Ich drückte den Knopf an der Seite und mein Herz blieb stehen. 'Hey Baby, wann wollen wir uns treffen? Weißt du schon, wann du Feierabend hast? 😊 ♥' Scheiße, was mach' ich denn jetzt? Was ist das Richtige?

Ich zerkaute mir die Unterlippe und mir wurde mit einem Mal ganz schlecht. Mein Magen drehte sich, aber dieser Schmerz konnte nicht mal im Ansatz mit dem Stich mithalten, der mir gerade ins Herz verpasst wurde.
Ich wollte ihn nicht schon wieder anlügen, aber ich konnte es Lukas auch nicht sagen. Er sollte sich keine Sorgen um mich machen. Ich würde das schon alleine geregelt kriegen, er sollte sich da nicht einmischen.
Ratlos warf ich einen Blick auf die Klingelschilder, aber packte das Handy wieder weg und ließ ihn auf gelesen. Ich würde eh keine passende Erklärung finden, wieso ich mich nicht mit ihm treffen wollte. Vor allem nicht, wenn sein Vater ihn fragte, wieso ich heute nicht auf Arbeit war.

Auch wenn Alina mir eine Verspätung verzeihen würde, wollte ich in diesem Zustand nicht bei ihr auftauchen. Ich wollte nicht, das jemand Fragen stellte und vor allem sollten Lukas' Eltern nichts davon mitbekommen.
So tolerant sie auch sind, sie würden mich sofort von Lukas wegholen und ihm verbieten, sich mit mir zu treffen. Ich könnte es ihnen nicht verübeln, aber soweit wollte ich es nicht kommen lassen. Niemand sollte davon erfahren, dass die Gang zurück in meinem Leben ist.
Ich kriege das hin - irgendwie. Ich hatte es schließlich auch zu verantworten, dass die Beziehung überhaupt ans Licht gekommen ist. Hätte ich einmal besser aufgepasst, dann würden wir nicht in dieser Scheiße stecken. 

Ich atmete einmal tief durch, zog mir die Kapuze tiefer ins Gesicht und stellte mich zurück in den Regen. Ich vergrub die Hände in den Jackentaschen und während meine Gedanken einen regelrechten Krieg führten, was das Richtige ist, lief ich zielstrebig in den Park.
Diese Stimmen sollten endlich die Klappe halten! Ich hatte keine Lust, mir den Kopf darüber zu zerbrechen, denn egal, für was ich mich entscheiden würde, es würde kein gutes Ende nehmen. Alle Probleme wären gelöst, wenn ich mich einfach in Luft auflösen würde.
Warum musste ich auch ständig für Ärger sorgen? Konnte ich denn nichts richtig machen? Lukas hatte so ein erfülltes Leben und kam trat ich in dieses, herrschte die reinste Katastrophe und alles lief aus dem Ruder.

Ich sollte mit ihm Schluss machen, damit er wieder glücklich ist. Ich konnte ruhig in der Gang verkommen, mein Leben hatte sowieso keinen anderen Sinn. Mein Vater hatte das schon vor Jahren prophezeit, aber auf ihn wollte ja keiner hören.
Ich hatte mich nicht verändert. Die Abendschule und das Theater sind zum Scheitern verurteilt. Ich hatte dort nichts verloren. Ich hatte einfach nur Glück, dass ich Lukas an meiner Seite hatte, der versuchte, aus mir einen besseren Menschen zu machen.
Aber es brachte nichts, denn alles was ich machte, hatte einen faden Beigeschmack. Irgendwann ging es immer bergab. Ein Fehler und alles ging kaputt. Es war doch nur eine Frage der Zeit, bis ich gefeuert und von der Schule fliegen würde. Seid still!

,,Ey, Joey!'', rief ich vom Weitem und machte die Brillengläser sauber, damit ich ihn sehen konnte.
,,Timi!'', erwiderte er grinsend, aber mit einem leicht überraschten Unterton in der Stimme. ,,Alter, dich hab' ich ja seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen. Alles klar bei dir?'', fragte er, als ich vor ihm stand.
,,Ja, muss...'', antwortete ich Schulterzuckend.
,,Ähm... Hast du was für mich?'', kam ich sofort zum Eigentlichen, weil ich Angst hatte, dass mich meine Schuldgefühle einholen könnten. Ich sollte das nicht machen...
,,Na klar, was willst du haben?'', drehte er den Spieß lächelnd um und musterte mich einmal.
,,Irgendwas, was meinen Kopf komplett wegknallt. MDMA? Ich will einfach nur vergessen...'', etwas ungeduldig trat ich von einer Stelle zur Nächsten und kam mir wie ein Junkie vor, der genug Geld für seine tägliche Ration Drogen erschnorrt hatte.

,,Du hast Glück, ich hab' heute 'ne frische Ladung Pillen gekriegt...'', grinste Joey und holte aus seiner Bauchtasche ein Tütchen. ,,Ich sag' dir, das ist wirklich guter Stoff, damit machst du die ganze Nacht durch.''
,,Wie viel willst du für die ganze Tüte?'', fragte ich und sah mich in der Gegend um. Es fühlte sich so befremdlich an, obwohl ich das hier schon hunderttausend Mal gemacht hatte. Joey und ich kannten uns seit Jahren und normalerweise hatte ich auch keine Angst.
Aber auch das hatte sich Dank Lukas verändert. Seitdem wir uns kannten, hatte ich zu keiner einzigen Droge gegriffen. Selten hatte ich mal gekifft und die Biere, die wir ab und zu getrunken hatten, konnte man nicht mitzählen.

Ich seufzte einmal, aber es ging nicht anders. Ich wollte diese nervtötenden Gedanken betäuben. Ich hatte keine Lust auf einen klaren Kopf, denn dieser führte mich genauso wenig zu einer vernünftigen Entscheidung.
Joey sagte mir den Preis, während ich das Geld heraussuchte und ihm in die Hand drückte. Er gab mir die Tüte, die ich sofort in meinen Rucksack verschwinden ließ und noch ein weiteres Mal sah ich mich in der Gegend um.
Aber nicht, weil ich Angst hatte, dass die Polizei uns erwischen könnte, sondern eher weil ich das unbehagliche Gefühl hatte, als würde mich jemand beobachten. So als wüsste Lukas, dass irgendwas nicht stimmte und jeden Moment vor mir stand, um mich zu konfrontieren.

Ich wusste, dass es falsch ist die Drogen zu kaufen. Ich sollte nicht zu solchen Mitteln greifen, sondern mit ihm reden. Ich hatte ihm versprochen, nicht mehr zu lügen und immer zu ihm zu kommen, wenn etwas ist.
Aber ich konnte das nicht. Die Sache mit der Gang ist nicht wie all die anderen Probleme, die ich sonst hatte. Lukas hatte sich da nicht einzumischen. Ich würde schon eine Lösung finden, auch wenn meine Zeit begrenzt ist.
Ich fuhr mir durch die Haare, verabschiedete mich von Joey und lief mit schnellen Schritten aus dem Park. Es ist falsch und trotzdem sah ich keinen anderen Ausweg. Die Drogen würden mir hoffentlich zeigen, was das Richtige ist.

Ich ging eilig durch die Straßen, bis ich einen ruhigen Ort gefunden hatte. Er war dicht umhüllt von einigen Büschen und weit und breit sah ich keine einzige Menschenseele. Ich sprang auf die Tischtennisplatte und öffnete meinen Rucksack.
Ich checkte die Uhrzeit. Zwei verpasste Anrufe von Alina, drei neue Nachrichten von Lukas und ein verpasster Videoanruf von ihm. Die Tränen stießen mir in die Augen, aber drückte entschlossen auf 'Alles löschen'.
Ich hatte dafür keine Zeit. Ich hatte keine Lust mich zu erklären, denn niemand konnte mir helfen. Ich legte das Handy zur Seite und nahm stattdessen das Tütchen in die Hand. Mit zitternden Händen öffnete ich dieses und holte eine Pille heraus.

Ich musterte diese von allen Seiten und ein Lächeln legte sich auf meine Lippen. Gleich würde es mir besser gehen. Ich würde mich frei fühlen, die ganze Nacht durchtanzen und meine Stimmen würden endlich ihre Klappe halten.
Ich ließ meinen Blick durch die Gegend gleiten und ignorierte auch die letzte, vernünftige Stimme, die mich davor warnte, etwas Unüberlegtes zu tun. Schließlich würde sich schon eine Lösung finden, wenn ich mich jemandem anvertraute.
Ich schüttelte den Gedanken von mir ab, denn nichts und niemand konnte mir helfen. Nichts und niemand außer diese rote, runde Pille, auf der sich ein Herz befand. Ich grinste breit, legte sie auf meine Zunge und in der Hoffnung, alles zu vergessen.

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