Halt' dich fest, wenn ein Sturm durch deinen Wald weht
,,Timi... Was... Was machst du da?'', fragte Lukas mit großen Augen und wurde kreidebleich. Ich ließ die Klinge fallen, zog den Ärmel meines Pullis ruckartig herunter und warf einen Blick Richtung Fenster.
,,Ähm...'', bekam ich nur heraus. Mein Körper zitterte, meine Wangen erhitzten sich und es bildeten sich Tränen in meinen Augen. Ich krallte mich an der Klobrille fest und biss mir verlegen auf die Unterlippe.
Ich warf einen Blick auf meine Oberschenkel und wollte am liebsten im Erdboden versinken. Während ich in Scham versank, stand Lukas vollkommen reglos im Bad und sah mit besorgten Augen auf die blutverschmierte Klinge.
Lukas wusste, dass ich mich ritzte. Er kannte die Geschichten hinter meinen Narben und auch hatte ich ihm schon gestanden, dass ich mich in seiner Abwesenheit verletzt hatte. Aktiv hatte er es jedoch noch nicht miterlebt und es sollte auch nie so weit kommen.
Ich wollte nicht das Lukas mich so sah - so verletzlich und schwach. Ich wollte ihm nicht zeigen, wie sehr mich das Ganze mitnahm und dass ich nicht einmal mehr in der Lage war, meine Gedanken zu kontrollieren.
Wir hatten schon genug um die Ohren, da musste ich ihm nicht noch einen Grund mehr geben, um sich Sorgen zu machen. Warum hatte ich mich überhaupt geritzt? Warum musste mich dieser ganze Scheiß so mitnehmen? Und vor allem warum hatte es sich so richtig angefühlt?
So lange hatte ich mich nicht mehr geritzt und jetzt begann ich wieder damit. Wenn Lukas nicht ins Bad gekommen wäre, hätte ich sicherlich Gefallen daran gefunden und es wäre zur Regelmäßigkeit geworden. Dabei wollte ich das nicht.
Es ist schon erschreckend genug, dass ich es überhaupt in Erwägung gezogen hatte. Lukas sagte mir so oft, dass ich zu ihm kommen konnte, wenn ich jemanden zum Reden brauchte. Ich musste nicht zu diesem Stück Metall greifen, um mich verstanden zu fühlen.
Ich hatte ihn direkt vor meiner Nase sitzen und trotzdem bin ich nicht aus dem Bad gegangen, als ich mich die Gedanken überkamen. Ich hätte ihn bloß ansprechen müssen und sofort hätte er den Film gestoppt, um seine Aufmerksamkeit auf mich zu richten.
Ja, ich wollte ihn mit dem Thema nicht nerven und auch hatten wir uns versprochen, ausnahmsweise heute mal nicht darüber zu reden. Aber ist das hier wirklich die richtige Lösung?
Nur weil ich den Mund nicht aufgemacht hatte, hatte ich unseren schönen Filmabend zerstört. Ich könnte jetzt immer noch in Lukas' Armen liegen, wenn ich einen Ton gesagt hätte. Wir hätten kurz darüber geredet und dann weitergemacht.
Stattdessen hatte ich das getan, was ich am Besten konnte - Drama und Chaos stiften. Wie musste Lukas sich fühlen? Da ahnt man nichts Böses und plötzlich sitze ich auf der Klobrille und schneide mir die Pulsadern auf. Es kann doch nicht sein, dass ich immer wieder zurück in diese Extreme rutschte.
,,Es tut mir leid...'', unterbrach ich unsere andauernde Stille und fuhr mir die Tränen aus dem Gesicht.
,,Was tut dir leid?'', fragte Lukas nach und hob den Blick, der die ganze Zeit an der Klinge gehaftet hatte.
,,Dass ich mich geritzt habe. Ich hätte das nicht tun dürfen. Warum fällt mir sowas auch immer viel zu spät ein?'', erwiderte ich schluchzend und fühlte mich total schlecht.
,,Ich bin so ein schlechter Freund. Ich bereite dir nur Sorgen. Man kann mich nicht mal aufs Klo gehenlassen, ohne Angst zu haben.'', seufzte ich, hob die Klinge vom Boden auf und trat ans Waschbecken, um diese abzuwaschen.
,,Hör' auf sowas zu sagen.'', wandte Lukas sofort ein und kam auf mich zu, um seine Arme von hinten um mich zu legen. ,,Du bist toll.''
,,Nein, bin ich nicht! Ich mache alles kaputt!'', widersprach ich ihm und knallte die Klinge ins Waschbecken.
,,Ich hätte zu dir kommen müssen, wenn ich ein Problem habe.'', weinte ich und vergrub die Hände im Gesicht.
Da ist er wieder, der Beweis dafür, wieso ich so ein erbärmlicher Lappen bin. Meine Gedanken waren vollkommen gerechtfertigt, wenn ich mich hier so stehen sah. Hätte ich einen Ton gesagt, dann gäbe es diese Situation nicht.
Aber anstatt einmal den Arsch in der Hosen zu haben und Hilfe anzunehmen, suchte ich nach einer Klinge, um mir damit Abhilfe zu verschaffen. So viele Menschen hatten nichts und niemand, der ihnen helfen konnte.
Und ich? Ich stieß allen vor den Kopf und drängte sie von mir weg. Ich bekam so viele Hände gereicht, aber kam niemals auf die Idee, nach einer zu greifen. Ich versuchte ja noch nicht einmal, mich zu ändern.
Lukas packte mich an den Schultern und drehte mich in seine Richtung. Ich warf einen Blick auf unsere Füße, weil ich mich unglaublich schämte. Natürlich befanden wir uns in keiner leichten Situation, aber es gab noch lange keinen Grund, um nach der Klinge zu greifen.
Kein Wunder, dass Lukas so viele Zweifel hatte. Ich gab ihm ja allen Grund dazu, um sich Sorgen zu machen. Erst wenn der Knall am Lautesten war, vertraute ich mich ihm an, oder er musste mir alles aus der Nase ziehen, weil ich es von alleine nicht auf die Reihe bekam.
Dabei ist es überhaupt nicht schlimm, seine Hilfe anzunehmen. Lukas ist gerne für mich da und hörte mir zu. Wenn es ihn wirklich so stören würde, hätte er mich schon längst fallengelassen. Oder etwa nicht?
Lukas schob meinen Ärmel vorsichtig nach oben und fuhr über die betroffenen Stellen. Mein Herz setzte einmal aus und eine Gänsehaut legte sich auf meinen kompletten Körper. ,,Warum hast du das gemacht?'', fand Lukas unter Tränen seine Stimme wieder.
,,Ich...'', fing ich stockend an und musste wieder weinen. Mein Freund handelte sofort, zog mich in seine Arme und streichelte mir beruhigend über den Rücken. Ich drückte mich näher an ihn und wollte am liebsten schreien, weil ich so ein Idiot bin.
,,Ich hätte das nicht machen dürfen. Ich hätte mir dir reden sollen. Warum mache ich das auch immer? Wie oft musst du mir denn noch sagen, dass ich immer zu dir kommen kann?'', schluchzte ich und schüttelte über mich mit dem Kopf.
,,Mach' dir keine Vorwürfe...'', flüsterte mir Lukas ins Ohr und hauchte mir einen Kuss auf die Schläfe.
,,Doch! Ständig mache ich solche Sachen, obwohl ich einfach mit dir reden könnte!'', meckerte ich.
,,Ich bin ein Arsch, mehr nicht...''
,,Timi, du bist kein Arsch...'' Lukas löste mich etwas von sich und legte die Hände um mein Gesicht, um mir die Tränen aus dem Gesicht zu streichen. ,,Sei ehrlich, warum hast du dich geritzt?''
,,Ich weiß auch nicht...'', zuckte ich unsicher mit den Schultern und atmete einmal tief durch. ,,Eigentlich wollte ich nur ins Bad, um mich zu beruhigen. Ich hatte halt total die Schuldgefühle wegen dieser ganzen Gang-Geschichte.''
,,Die Stimmen in meinen Kopf haben mich wieder eingeholt. Auf einmal ging es nicht nur darum, dass ich das Alles hätte verhindern können, sondern auch, dass ohne mich das Leben aller besser wäre.'', schluchzte ich.
,,Auf einmal hatte ich eine Kurzschlussreaktion und habe das Ritzen als einzigen Ausweg gesehen. Kaum hatte ich den ersten Schnitt gesetzt, habe ich mich wieder total lebendig gefühlt. Also habe ich weiter und weiter gemacht...''
Ich vergrub mein Gesicht in Lukas' Brust und durchnässte sein T-Shirt. Ich wollte es nicht so weit kommen lassen und doch schaffte ich es immer wieder, dass eines Tages genau das passiert. Wieso bin ich so ein schrecklicher Mensch?
Lukas und ich hätten so einen schönen Abend haben können, wenn ich es nicht verbockt hätte. Na und, dann hätten wir nochmal kurz über die Gang gequatscht, dann ist das so. Das Ritzen ist tausendmal schlimmer, als ihm meine Probleme anzuvertrauen.
,,Okay...'', erwiderte Lukas flüsternd und musterte die Klinge. Er schlang die Arme um mich und legte sein Kinn auf meinem Kopf ab. Er drückte mir einen Kuss auf die Haare, streichelte mir über den Rücken und mal wieder konnte ich nicht glauben, dass er so gelassen ist.
Andere hätten mich an seiner Stelle schon längst herausgeschmissen und mir Vorwürfe gemacht. Aber genau das ist es - ständig verglich ich ihn mit anderen. Lukas konnte mir noch so oft das Gegenteil beweisen, es brachte nichts, wenn ich ihn immer in eine Ecke drängte.
Er hatte gar keine Chance, wenn meine Gedanken mir immer wieder einreden wollten, dass er mich genau so fallen lassen würde. Dabei wusste ich, dass es nicht so ist. Bis jetzt hatte Lukas immer zu mir gehalten und mich verteidigt.
,,Sorry, ich hätte mir dir reden müssen.'', entschuldigte ich mich, fuhr mir die Tränen aus dem Gesicht und sah mich im Badezimmer um, in dem ich mich jetzt total unwohl fühlte.
,,Schon...'', erwiderte Lukas knapp.
,,Bist du sauer auf mich?'', fragte ich unsicher und entsorgte die Klinge im Mülleimer, weil ich davon nichts mehr wissen wollte.
,,Nein.'', sagte Lukas etwas irritiert. ,,Warum sollte ich sauer auf dich sein?''
,,Na, weil ich mich geritzt habe. Dabei hätte ich ihn nur einmal den Mund aufmachen müssen. Immer die gleiche Scheiße, die du mit mir durchmachen musst.'', seufzte ich frustriert auf.
,,Trotzdem bin ich nicht sauer auf dich.'', erwiderte Lukas beruhigend und legte die Arme wieder um mich. Am liebsten wollte ich ihn von mir wegstoßen, weil ich in den ganzen Monaten nichts dazu gelernt hatte.
,,Natürlich bricht es mir das Herz, dich so zu sehen. Und klar bin ich auch enttäuscht, weil du nicht mit mir geredet hast. Vor allem nicht, wenn ich in greifbarer Nähe bin und du einen Ton hättest sagen können.''
,,Aber ich weiß auch, dass ich dich nicht so schnell davon losbekommen werde. Ich kann nach all den Erfahrungen, die du gemacht hast, nicht verlangen, dass du mir sofort Glauben schenkst und deine negativen Gedanken ablegst.''
,,Ja es ist nervig, dass ich dir das immer wieder in deinen hübschen Schädel hämmern musst. Und auch habe ich dir schon oft genug gezeigt, dass ich nicht direkt abhaue, wenn es einmal schwierig wird. Ich kenne deine Schübe und weiß auch, dass es nicht immer einfach ist.'', seufzte Lukas.
,,Aber so wie du lernen musst, dich anzuvertrauen, muss auch ich lernen, dass du deine Zeit brauchst. Ich mein, über Jahre hinweg wurdest du von Menschen verarscht und fallengelassen. Jetzt komme ich und bin einer der ersten Personen, bei denen es nicht so ist. Selbstverständlich legt sich da kein Schalter in deinem Kopf um, der Alles positiv sieht.''
,,Wir müssen da zusammen dran arbeiten. Aber wir wachsen aneinander. Auch wenn du es nicht glaubst, hast du mir schon einige Dinge gezeigt, die ich von anderen Menschen nicht kannte. Du bist wirklich toll.'' Lukas griff nach meinen Händen und zog mich näher zu sich, um mir einen Kuss auf die Lippen zu hauchen.
,,Trotzdem bin ich total geschockt. Wirklich Timi, du brauchst das nicht, um dich besser zu fühlen. Ich bin für dich da und höre dir zu. Ist mir scheiß egal, wie oft wir das Thema schon durchgesprochen haben, ich habe ein offenes Ohr für dich. Du bist das Alles nicht.'' Lukas lief eine Träne über die Wange und mein Herz zerbrach in tausend Teile.
,,Du bist einer der wundervollsten Menschen, die ich kennenlernen durfte. Du gibt mir so vieles. Auch jetzt, wo wir in der größten Krise unserer Beziehung stecken, möchte ich bei dir sein. Nicht einmal kam mir der Gedanke auf, dich zu verlassen. Du bist mir unglaublich wichtig. Ich hoffe, dass du das irgendwann auch so sehen kannst.''
Lukas zog mich zurück in seine Arme. Ich atmete seinen wunderschönen Duft ein und fühlte mich gleichzeitig so schlecht, weil ich nicht der Grund dafür sein wollte, warum es ihm so schlecht ging. Ich musste wirklich an mir arbeiten und endlich verstehen, dass den Mund aufzumachen und Schwäche zu zeigen kein Fehler ist.
Das Ritzen war ein Fehler, auch wenn es mir ein gutes Gefühl gab. Aber irgendwann sah ich die Narben an und wusste, dass ich das nicht brauchte, um mich wieder lebendig zu fühlen. Auf Dauer machte mich das einfach nicht glücklich.
Ich brauchte jemanden, wie Lukas, um mich wieder besser zu fühlen. Jemanden, der mich verstand, mir Halt gab und egal, was los ist, eine Schulter zum Anlehnen gab, wenn ich einmal nicht mehr weiter wusste.
Lukas ist wirklich für mich da. Er ist ein Engel, der eine Unmenge von Empathie besaß und sich für mich vor die Kugel schmeißen würde. Und diesen Beweis gab er mir mit dem jedem Tag, den wir seit dem Vorfall mit der Gang, noch immer miteinander verbringen durften.
,,Hör' wirklich auf mit diesen Schuldgefühlen. Du hast keine Schuld und wirst es auch niemals haben. Es war richtig, dass du zu mir gekommen bist und nicht Schluss gemacht hast. Ich bin freiwillig bei dir.'' Er nahm mein Gesicht zwischen seine Hände und küsste mich.
,,Auch wenn wir uns mal nicht vornehmen, darüber zu reden, kannst du zu mir kommen. Ich bin der Allerletzte, der dich wegen deinen Gedanken verurteilt oder genervt davon ist. Viel eher bin ich enttäuscht, wenn du es nicht machst und sehe, womit du dir stattdessen helfen willst.''
,,Ich bin gerne für dich da und mir ist wichtig, dass du das weißt. Auch wenn ich es dir noch Millionen Mal in den Kopf hämmern muss.'' Lukas nahm mich wieder in den Arm und drückte mich an sich.
,,Danke...'' Wie immer hatte ich nicht mehr Worte für ihn übrig. Die Tränen kullerten mir die Wange herunter, denn dieser Junge ist viel zu lieb für diese Welt. Ich hatte ihn wirklich nicht verdient.
Doch wenn ich ihn nicht verlieren wollte, musste ich an mir arbeiten. Ich hatte mich gebessert, aber noch nicht genug. Ich musste meine Vergangenheit hinter mich lassen und das würde ich mit ihm hoffentlich schaffen.
Ich musste mich nicht mehr alleine damit auseinandersetzen. Es ist nicht fair, ihn mit Menschen zu vergleichen, die mich einfach nicht verstanden haben. Lukas hatte Empathie und so viel Verständnis.
,,Wollen wir den Film weitergucken? Möchtest du reden? Wollen wir spazieren? Oder wollen wir einfach rumstehen?'', fragte mich Lukas grinsend, als wir uns eine Zeit in den Armen gelegen hatten.
,,Können wir kuscheln?'', fragte ich mit großen Augen und presste mich an ihn, weil ich das gerade brauchte.
,,Hier im Bad?'', harkte Lukas lachend nach und streichelte meinen Hinterkopf.
,,Neee, ich glaube die Couch ist etwas gemütlicher.'', nuschelte ich gegen sein Shirt. ,,Obwohl deine Brust auch ganz weich ist.'', fügte ich lachend hinzu.
,,Okay, dann gehen wir zurück zur Couch...''
Lukas griff nach meiner Hand, verschränkte unsere Finger miteinander und zog mich aus dem Badezimmer. Wir ließen uns auf dem Sofa nieder und sofort kuschelte ich mich an meinen Freund, der mir das Gefühl gab, etwas Besonderes zu sein.
Ich legte den Arm um seinen Bauch, schlang das Bein um ihn und ließ mir den Kopf kraulen. Lukas starte den Film, drückte mir einen Kuss auf die Stirn und sah mich immer wieder lächelnd von der Seite an.
,,Schön, dass du da bist...'' Ich schloss die Augen, genoss seine Berührungen und konnte mein Glück kaum in Worte fassen. Hoffentlich würde ich endlich verstehen, dass ich diesen Menschen wirklich an meiner Seite verdient hatte. Wir schaffen das zusammen.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top